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Buch lesen: «Winnetou 4», Seite 8

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»Kenne ich ihn?« fragte ich.

»Weiß nicht«, antwortete er. »Es ist der Kanubisee.«

»Von dem habe ich gehört. Sein Ebenbild oder vielmehr sein Urbild liegt im Staate Massachusetts. Ich bin von Lawrence aus dort gewesen. Dieser letztgenannte Kanubisee spielt in der Vergangenheit einiger Indianerstämme, besonders der Seneca, eine sehr wichtige Rolle. Seine im Sonnenschein funkelnden Wasser, seine weit und schön ausgebuchteten, mit sattem Grün geschmückten Inseln und Ufer waren so recht geeignet, der friedlichen Entwickelung des Stammeslebens als Unterlage zu dienen. Ich konnte mich von dem Anblick dieses Sees kaum trennen. Ich weiß, daß man einem hier oben liegenden Bergsee denselben Namen gegeben hat, und bin neugierig, zu sehen, ob er ihn verdient.«

»Wahrscheinlich verdient er ihn«, sagte Pappermann.

Er holte dabei tief, tief Atem.

»Wart Ihr mehrmals da?« fragte ich.

»Wie oft! – Wie oft!«

Wieder tat er einen tiefen Atemzug. War dieser See vielleicht eine Stätte trüber Erinnerungen für ihn? Ich schwieg, um ihm nicht weh zu tun. Er sah lange, lange vor sich hin, dann begann er selbst damit:

»An diesem See habe ich jenen niederträchtigen Schuß in das Gesicht bekommen, der mich für das ganze Leben entstellte und verbitterte. »

»Von wem?« fragte ich.

»Von einem gewissen Tom Muddy. Habt Ihr vielleicht jemals von diesem Schurken gehört?«

»Nein.«

»Er hieß wohl eigentlich nicht so, sondern anders. Seinen eigentlichen Namen habe ich nicht erfahren.«

»Seid Ihr ihm wieder begegnet?«

»Niemals, niemals, leider, leider! – Obgleich ich ein ganzes Menschenleben lang nach ihm gesucht habe, wie der Bettler nach dem ersparten Dollar, den er verloren hat und nicht wiederfinden kann. Ich spreche nicht gern davon; aber wenn es mich überkommt, wie stets, sobald ich den See erblicken so erzähle ich es Euch vielleicht heute abend. Für jetzt will ich Euch nur sagen, daß das mit den Seneca richtig ist.«

»Was?«

»Daß sie da unten in Massachusetts am Kanubisee wohnten. Wißt Ihr ihren eigentlichen Namen? Wie sie eigentlich heißen?«

»Ja. Senontowana.«

»Das stimmt. Der Name Seneca ist ihnen von den Weißen gegeben und aufgezwungen worden. Einer ihrer größten Häuptlinge hieß Sa-go-ye-wat-ha. Er liegt in Buffalo begraben. Man hat ihm da ein großes Denkmal gesetzt – – —«

»Obgleich er vor seinem Tod gebeten hat, ihn nur unter seinen roten Brüdern zu begraben, nicht etwa bei Bleichgesichtern!« fiel meine Frau da ein.

»So kennt Ihr ihn? Habt von ihm gehört?« fragte er sie.

»Wir waren an seinem Grab«, antwortete sie.

»Gott segne Euch dafür! Ich meine nämlich, wenn Ihr ein Grab besucht, so tut Ihr das nicht aus Neugierde, sondern weil Euch das Herz dazu treibt. Und ich habe eine ganz besondere Vorliebe grad für die Nation der Seneca.«

»Aus welchem Grund?«

»Weil – – weil – – weil – – – hm! Ich werde es Euch heute abend erzählen, nicht aber jetzt.

Herunter muß es nun doch einmal, weil diese alte Saite begonnen hat, zu klingen und zu zittern und gewiß nicht eher wieder aufhört, als bis wir den See im Rücken haben. Für jetzt aber erlaubt, daß ich schweige!«

Der Nachmittag führte uns inmerwährend bergan, bis wir eine Höhe erreichten, von welcher aus wir über eine weite, unter uns liegende, sich nach Westen dehnende Hochebene blickten. Die Sonne war im Sinken. In ihrem Strahl leuchtete aus der Mitte der Ebene ein großer funkelnder Diamant herauf zu uns, der rundum von einem weiten Kranz grüner Smaragde eingefaßt schien, deren Konturen flimmerten und glühten.

»Das ist der Kanubisee«, sagte Pappermann. »So nahe er uns zu liegen scheint, so weit ist er entfernt. Drei Stunden sind es von hier aus, bis man ihn erreicht. Darum lagern wir hier. Und zwar, wenn es Euch recht ist, an demselben Ort, an dem ich schlief, als ich zum ersten Mal in diese Gegend kam.«

Er führte uns nach einer auf drei Seiten ganz und auf der vierten auch noch halb eingeschlossenen Stelle, welche sehr guten Schutz gegen den hier oben sehr kühlen Nachtwind bot. Ein Wasser war in der Nähe. Futter für die Pferde gab es auch. So konnten wir uns also keinen besseren Lagerplatz wünschen. Das Zelt wurde schnell errichtet und ein Feuer angebrannt. Das Zelt war immer nur für meine Frau. Wir Männer zogen es vor, im Freien zu schlafen. Es war jetzt die wundersame Zeit des Indianersommers, in der man es selbst auf solcher Höhe des Nachts außerhalb des Zeltes aushalten kann.

Während des Essens wurde es Abend. Der Mond ging auf. Er stand im ersten Viertel. Die Luft war ohne Nebel, vollständig rein und klar. Wir konnten weit sehen, fast so weit wie am Tage, nur daß die Konturen jetzt unbestimmter waren und ineinander flossen. Der leuchtende Diamant war jetzt zur weißsilbernen Perle geworden. Pappermann begann, ohne von uns aufgefordert worden zu sein, zu erzählen.

»Genauso wie heut«, sagte er, »lag der See damals vor meinen Augen. Es zog mich zu ihm hinab. Ich wachte sehr zeitig auf und setzte mich auf das Pferd, um fortzureiten, ohne eigentlich ausgeschlafen zu haben. Es war in der Morgenfrühe kühl. Darum ritt ich ziemlich rasch und erreichte grad mit Sonnenaufgang den See. Ich sah im Gras Spuren von Menschen, von Indianern. Ich nahm mich also in acht, versteckte mein Pferd und ging den Spuren vorsichtig nach. Sie führten durch die Büsche an das Wasser. Dort angekommen, sah ich Hütten stehen, oder vielmehr Häuser. Nicht halbwilde Wigwams oder Zelte, sondern wirkliche Häuser, aus Balken, Bohlen, Planken und Schindeln hergestellt, genauso wie die Gebäude, aus denen früher, ehe die Weißen kamen, die Städte und Dörfer der Indianer bestanden. Mehrere Boote lagen am Ufer. Fischernetze waren zum Trocknen aufgehängt. Außerordentliche Sauberkeit überall. Nirgends ein Schmutz, eine Waffe, ein blutiger Rest eines Wildes, ein Zeichen von Jagd und Tod. Tiefes Schweigen ringsumher. Nichts regte sich. Die Türen waren geschlossen. Man schlief noch, und zwar ganz ohne Sorge, denn einen Wächter sah ich nicht. Es schien heute ein Ruhetag zu sein.

Ich schlich mich näher, bog um eine Ecke des Gebüsches und sah – sah – – sah das schönste Mädchen, ja bei Gott, das schönste, das allerschönste Mädchen, welches meine alten Augen, so lang ich lebe, jemals erblickten! ich bitte, es mir zu glauben! Sie saß auf einem hohen Steinblock des Ufers und schaute nach Osten, wo die Sonne soeben erschien. Sie war in weiche, weißgegerbte Tierhaut, mit roten Fransen verziert, gekleidet, und ihr langes, dunkles Haar hing, mit Blumen und Kolibris geschmeckt, weit über den Rücken herunter. Als die Kolibris im ersten Strahl der Sonne zu funkeln begannen, erhob sie sich von ihrem Sitz, breitete die Arme aus und sagte im Ton der Andacht und Bewunderung:

»O Manitou, o Manitou!«

Weiter sagte sie nichts. Dann faltete sie die Hunde. Aber ich sage Euch, daß ich niemals in meinem Leben ein besser gemeintes und aufrichtigeres Gebet gehört habe, als diese einzigen zwei Wörter. So stand sie lange, lange, in die Sonne schauend. Ich blieb nicht stehen. Sie zog mich an wie ein Magnet, dem man nicht widerstreben kann. Ich schritt auf sie zu, aber langsam, zögernd, leise, in beinahe heiliger Scheu. Da sah sie mich. Sie erschrak nicht etwa. Sie bewegte keinen Fuß, keinen Finger, kein einziges Glied. Sie sah mich nur an. Aber mit so großen, offenen, erwartungsvollen Augen! In diesen Augen lag dieselbe Sonne, die dort im Osten aufgegangen war. Vor soviel Seltenheit und Schönheit wurde ich zum Dummkopf, zum Tölpel. Ich vergaß, zu grüßen. Heute kann ich mir wohl denken, wie klug und wie geistreich ich damals ausgesehen habe! Ich wußte und bemerkte nur das Eine, nämlich daß sie erwartete, von mir angesprochen zu werden. Das tat ich denn auch. Aber anstatt höflich zu sein und zu grüßen, beging ich die größte Unhöflichkeit, indem ich sie fragte: »Wie heißt du?« Sie antwortete: »Ich heiße Aschta!« Das kam mir zunächst wie ein Kosename vor; später aber erfuhr ich, daß Aschta ein wirkliches Indianerwort ist und soviel wie »Güte« bedeutet. Also, sie hieß »die Güte«, und das war sie auch. Ich habe sie niemals anders als still, fromm, wohltätig, rein und gütig gesehen. Kein Flecken war je an ihrem Gewand, und kein unlauteres Wort ist je über ihre Zunge gekommen. Ich kann Euch sehr wohl sagen, daß ich damals sehr oft am Kanubisee gewesen bin und mich monatelang in seiner Nähe herumgetrieben habe. Ich bin stundenlang und tagelang an ihrer Seite gewesen, habe aber nicht ein einziges Mal Etwas von ihr gesehen und gehört, wovon ich sagen konnte, das war nicht schön, das war nicht gut von ihr. Darum war ich auch nicht etwa der einzige, dem sie so ausnehmend gefiel. Wer da kam, der wollte nicht wieder fort, allein nur ihretwegen. So auch Tom Muddy und – – – der Siou Ogallallah.«

Er machte hier eine Pause. Das benutzte meine Frau, ihn auf eine Unterlassungssünde aufmerksam zu machen:

»Aber, Mr. Pappermann, Ihr habt doch noch gar nicht gesagt, wem die Häuser am See gehörten und wer ihr Vater war!«

»Habe ich noch nicht? Hm! Ja, ganz richtig. Sie kommt bei mir immer voran, und dabei vergesse ich alles Andere. So war es schon damals auch. Ihr Vater war ein Medizinmann der Seneca. Nicht etwa einer jener Quacksalber und Possenreißer, die sich heutzutage Medizinmänner nennen lassen, sondern ein wirklicher und berühmter! Der hatte, von den Weißen wegen seines großen Einflusses auf die Roten verfolgt und bedrängt, mit noch einigen ihm gleich edelgesinnten Indianern seine Heimat verlassen, um sich vor ihnen nach dem »Wilden Westen« zu retten. Er kam in diese Gegend. Er sah diesen See. Er war entzückt über seine Aehnlichkeit mit dem heimatlichen, schönen Wasserbecken. Er blieb da mit seinen Begleitern. Sie bauten sich Häuser, ganz in der alten Weise ihres Stammes, und nannten den See so, wie der in der Heimat geheißen hatte, nämlich Kanubisee. Diese neue Ansiedlung wurde sehr bald unter den weißen und roten Jägern des Westens bekannt und viel besucht. Sie bildete eine Friedensstätte für sie, an der sich Rot und Weiß, Freund und Feind treffen durften, ohne den Ausbrüchen des Hasses unterworfen zu sein. Denn es war zur Gewohnheit, ja, zum Gebot geworden, daß jede Feindschaft zu schweigen und nur Liebe und Friede zu walten habe.«

Er hielt für einige Augenblicke inne, holte tief Atem und sagte:

»Es war eine liebe, schöne Zeit! Die einzige Zeit meines Lebens, in der ich einmal wirklich Mensch gewesen bin, und zwar ein guter Mensch. Ich bitte Euch, mir das zu glauben!«

Dann fuhr er in seiner Erzählung fort:

»Zu den Weißen, welche am Kanubisee verkehrten, gehörte Tom Muddy, und zu den Roten ein junger Medizinmann der Sioux Ogallallah, der zu dem Vater von Aschta gekommen war, um sein Schüler zu sein und die Geheimwissenschaften der roten Rasse bei ihm zu studieren. Wo er eigentlich wohnte, das wußte niemand. Er verschwieg es, um in der tiefen Einsamkeit, die er für seine Studien brauchte, nicht gestört oder nicht etwa gar von einem Feind belästigt zu werden. Aber ich vermutete, daß er sich unten an einem Nebenwasser des Purgatorio seine Hütte errichtet habe, die er nur verließ, um zu seinem Lehrer hinaufzusteigen und neue Anweisungen zu holen. Er war ein schöner, junger Mann, in allen Waffen geübt, und dennoch so friedlich gesinnt, als ob es auf der ganzen Erde überhaupt noch nie eine Waffe gegeben habe. Daß Aschta ihn allen anderen, die da kamen, vorzog, war gar kein Wunder. Ich aber wußte hiervon nichts, sondern ich erfuhr es erst durch Tom Muddy.

Der war weder ein schöner, noch ein häßlicher Kerl, aber zudringlich und roh. Niemand wollte etwas von ihm wissen. Er hatte ein Auge auf Aschta, oder sogar alle zwei; sie aber wich ihm auf Schritt und Tritt aus und vermied so viel wie möglich alle Gelegenheit, mit ihm sprechen zu müssen. Das ärgerte ihn gewaltig. Denn er hatte es sich wirklich in den Kopf gesetzt, daß sie seine Frau werden solle. Ich glaube gar, er liebte sie nicht nur, sondern er haßte sie auch, eben weil sie ihm ihre Abneigung so offen und ehrlich zeigte. Das stritt und kämpfte in seinem Innern. Am liebsten verkehrte er mit mir. Warum, das weiß ich eigentlich noch heute nicht. Wahrscheinlich, weil ich der wertloseste von allen war und es nicht über das Herz brachte, mich von ihm derart zurückzuziehen, wie die andern es taten. Ich hütete mich natürlich sehr, ihn merken zu lassen, daß auch in meinem Herzen eine herrliche, große und von allen Sünden reine Liebe aufgegangen war und daß ich mein Leben tausendmal hingegeben hätte, um der schönen Indianerin dies beweisen zu können. Zuweilen kam mir freilich der Gedanke, sie stehe mir zu hoch, aber in gewissen Stunden, in denen ich mich selbst betrachtete, faßte ich doch eine Art von Mut. Da sagte ich mir, daß ich doch kein so ganz übler Bursche sei und mich mit manchem, manchem anderen sehr wohl vergleichen und messen könne. Das waren die Augenblicke, in denen ich mir vornahm, offen und ehrlich mit ihr zu reden. Aber sobald ich dann in ihre Nähe kam, sank mir das Herz wieder vor die Füße, und es fiel mir kein Wort von alledem ein, was ich ihr hatte sagen wollen.

Da kam ich eines schönen Tages von einer längeren Jagdstreife zurück und erfuhr von Tom Muddy, daß der Siou Ogallallah bei dem Vater von Aschta um sie geworben und die Erlaubnis erhalten habe, sie des Nachts zu rauben – – —«

»Zu rauben?« wurde er von meiner Frau unterbrochen. »War das notwendig?«

»Nicht nur notwendig, sondern auch schicklich. Ich habe mir sagen lassen, daß alle diese Gebräuche einen tiefer liegenden Grund und ihre eigene Bedeutung haben. Vater und Mutter haben ihr Kind, ihre Tochter erzogen, unter tausend schlaflosen Nächten, unter noch mehr Sorgen und Opfern. Da kommt ein fremder Mensch und nimmt sie von ihnen weg. Er raubt den Eltern den größten Teil des Herzens ihres Kindes, und dieses folgt ihm gern, ohne zu fragen, ob er es auch verdient. Diese inneren Vorgänge sollen durch die indianischen Verlobungsgebräuche äußerlich dargestellt werden. Die Tochter ist bereit, sich rauben zu lassen; aber die Eltern geben sich alle Mühe, dies zu verhüten. Sie wird eingesperrt, sehr wohl versteckt und scharf bewacht. Der Geliebte gibt sich ebenso große Mühe, die Eltern zu überlisten, und hilft das nicht, so greift er gar auch zur Gewalt. Es gibt da einen hochinteressanten Kampf zwischen dem gegenseitigem Scharfsinn, und der ganze Stamm befindet sich in Spannung, die einzelnen Phasen dieses Kampfes zu erfahren oder wohl gar daran teilzunehmen. Man hilft der einen oder der anderen Partei. Es kommt dabei zu Taten der Schlauheit und des persönlichen Mutes, durch welche der Werbende zeigt, was der Stamm dann später im öffentlichen Leben, in Krieg oder Frieden von ihm erwarten darf.«

»Als ich diese Neuigkeit von Tom Muddy erfuhr, war es mir, als ob ich von ihm einen schweren Faustschlag gegen die Stirn bekommen hätte. Das Gehirn begann mir zu brummen. Ich fühlte mich zunächst ganz dumm im Kopf. Tom Muddy aber war wütend. Er schwor das Blaue vom Himmel herunter, daß der Siou das Mädchen nicht entführen werde; es sei dafür gesorgt, daß ihm das nicht gelingen könne. Als ich ihn fragte, wodurch er das zu verhindern gedenke, verlangte er von mir einen Schwur, seinen Plan nicht zu verraten; dann solle ich ihn erfahren. Ich leistete den Schwur, doch natürlich nur, um die Ausführung dieses Planes zu verhüten. Da zeigte er mir seine Pistole. Sie war bis oben herauf mit Pulver geladen. Dieses Pulver sollte dem Siou in die Augen geschossen werden, um sein Gesicht zu entstellen und ihn zu blenden, für immer blind zu machen. »Dann fällt es ihr gewiß nicht ein, seine Squaw zu werden!« fügte er hinzu, bevor er sich entfernte. Aber noch ehe er ging, erinnerte er mich an meinen Schwur. Sollte ich ihn etwa verraten, so werde er nicht nur den Siou blenden, sondern auch mich.«

»Der ist ja gar kein Mensch gewesen, sondern ein Teufel!« rief das Herzle aus.

»Wenn kein Teufel, so aber doch ein Schurke, dem nichts und nichts zu schlecht war, wenn es nur zum Ziel führte«, antwortete Pappermann. »Ich hielt es natürlich für meine Pflicht, die Missetat zu verhüten. Freilich, verraten durfte ich nichts. Doch hätten einige andeutende Worte gewiß genügt, den Siou die Gefahr, in der er sich befand, wenigstens ahnen zu lassen. Aber er war ja weder zu sehen noch zu sprechen. Von dem Augenblick an, an dem er die Erlaubnis erhalten hatte, Aschta zu rauben, hatte er sich in die tiefste Heimlichkeit zu hüllen und sich so vorsichtig anzuschleichen, als ob es sein Leben gelte. Da verstand es sich ganz von selbst, daß er nicht am Tage kommen konnte und daß ich mir die Nächte hindurch alle Mühe gab, ihn irgendwo zu erwischen. Das war gar nicht ungefährlich für mich, denn ich wußte, daß Tom Muddy genau dieselben Anstrengungen machte, an ihn heranzukommen. Ich hatte also die Doppelaufgabe, den einen zu vermeiden, den andern aber zu entdecken, und ich sage Euch, daß es gar nicht so leicht war, die nötige Vorsicht zu entwickeln. Es gehörte Übung dazu. So ging es über eine Woche lang, ohne daß meine Anstrengungen das geringste Ergebnis hatten. Dann kam eine mond- und sternenlose, feuchte Nacht, in der es zwar nicht regnete, aber es nässelte in einem fort. Trotzdem blieb ich nicht auf meinem warmen Lager, sondern kroch draußen herum, denn es war, als ob mir Jemand sage, daß grad in dieser höchst ungemütlichen Nacht etwas geschehen werde, was ich nicht versäumen dürfe. Ich kroch leise, leise an der Hinterseite des Hauses bis zur Ecke hin. Dort wollte ich liegen bleiben, um nach beiden Seiten hin lauschen zu können. Ich schob mich also, als ich die Ecke erreicht hatte, ein wenig vor und – – – Herrgott! Da lag schon Einer! Drüben auf der anderen Seite! Wir stießen fast zusammen. Er sah mich ebenso wie ich ihn, trotz der Dunkelheit und trotz der dicken, feuchten Luft. Aber wie ich ihn nicht erkannte, so konnte er auch mich nicht erkennen. Wer war es? Der Siou oder Tom Muddy? Schon öffnete ich den Mund, um ein leises, leises Wort zu sagen; da erhob der da drüben den Arm. Er hatte Etwas in der Hand. Ich konnte nur schnell das Gesicht zur Seite wenden, da krachte auch schon der Schuß. Ich bekam die ganze Ladung. Es ging kein Körnchen verloren. Doch glücklicherweise nicht in die Augen, sondern in die durch meine schnelle Bewegung dem Schurken zugewendete linke Seite des Gesichts. Ich hatte ihm zurufen wollen: »Schieß nicht, schieß nicht!« war aber nicht dazu gekommen und gab auch jetzt keinen Laut von mir, weil ich die Besinnung verloren hatte. Es war zwar nur ein armseliger, lumpiger Pistolenschuß und zwar ohne Blei oder Kugel, aber doch so ganz und gar nahe abgeschossen, daß ich aus meiner kauernden Lage niederfiel wie ein Sack, den man umgestoßen hat, und leblos liegenblieb, bis man mich fand und in das Innere des Hauses trug, um mich in das Leben zurückzubringen.«

»Man hatte nämlich den Schuß gehört und war herausgeeilt, um seiner Ursache nachzuforschen. Der Medizinmann kam; seine Frau kam; Aschta, seine Tochter, kam, und andere kamen auch. Während sie alle um mich beschäftigt waren, kam noch ein anderer, nämlich der Siou Ogallallah. Er kam geschlichen wie ein unhörbarer Windeshauch und war klug genug, die Situation sofort für sich auszunutzen. Als man mich in das Haus gebracht und dort niedergelegt hatte, erscholl draußen der laute Siegesruf der Ogallallah. Man horchte auf. Man vermißte die Tochter. Man wußte, woran man war: die Entführung war gelungen. Der Siou brauchte sich nur mit Aschta zu entfernen, so war sie sein. Aber das tat er nicht; er hatte es nicht nötig. Er hatte sie geholt, und sie war ihm gefolgt, aus der Aufsicht der Eltern hinaus. Das genügte! Er brachte sie wieder herein und wurde von den Eltern als Sohn empfangen. So war durch den Schuß Tom Muddys also grad das begünstigt und herbeigeführt worden, was er hatte verhüten sollen. Ich aber lag lange Zeit im Delirium und habe vor Schmerzen gepfiffen wie ein Hund, den irgend ein Vivi lebendig zu Tode schindet. Dann habe ich mich, sobald ich wieder auf den Beinen war, aus dem Staub gemacht, ohne Etwas zu verraten. Kein Mensch, als nur ich und Tom Muddy, kannte den Täter und den eigentlichen Grund des Schusses. Und dieser Schuft ist seit jener Nacht verschwunden, spurlos verschwunden, so heiß auch mein Verlangen gewesen ist, ihm wieder zu begegnen. Als ich dann nach einigen Jahren zum ersten Mal wieder nach dem Kanubisee kam, fand ich die Häuser leer; sie waren verlassen. Die Seneca waren von einer Bande weißer Buschklepper überfallen und getötet worden bis auf den letzten Mann. Von ihnen allen lebte nur noch Aschta, weil sie den See verlassen hatte, um dem Siou Ogallallah zu seinem Stamme zu folgen.«

»Habt Ihr sie wiedergesehen?« fragte meine Frau.

»Nein, nie! Ich habe die Ogallallah stets als Feinde der Weißen betrachtet und mich gehütet, viel mit ihnen in Berührung zu kommen. Erkundigt habe ich mich freilich einige Male. Da erfuhr ich, daß die schöne Senecasquaw des Medizinmannes sehr glücklich sei. Er habe droben am Niobrara für sich und seine Schüler eine eigene Reservation gegründet und lebe dort nur für alte Totems und Wampums, die er sammle und für die Bücher, die er sich von den Bleichgesichtern schicken lasse. Er sei sogar unter den Weißen ein sehr geehrter und sehr berühmter Mann.«

Bei diesen letzten Worten Pappermanns fragte ich ihn schnell:

»Ihr kennt natürlich den Namen dieses Indianers?«

»Ja«, nickte er.

»Heißt er Wakon?«

»Ja, nur Wakon.«

»Es steht kein anderes Wort, kein anderer Name dabei?«

»Nur Wakon!« wiederholte er.

»So kenne ich ihn, obgleich ich ihn noch nie gesehen habe. Er hat sein ganzes Leben und seine ganze Kraft dem Studium der Geschichte der roten Rasse gewidmet und Werke über sie geschrieben, die leider noch nicht erschienen sind, weil er sie erst dann veröffentlichen will, wenn auch der letzte Band vollständig vollendet ist. Man ist auf dieses sein Lebenswerk mit Recht ungewöhnlich gespannt.«

»Wie alt ist er jetzt?« fragte das Herzle.

»Das ist Nebensache«, antwortete ich. »Wahrhaft große Männer pflegen nicht eher zu sterben, als bis sie wenigstens innerlich das erreicht haben, was sie erreichen wollten oder sollten. Die sogenannten Helden des Krieges und der Schlachtfelder sind hiervon natürlich ausgenommen. Seid Ihr müd?«

Diese letztere Frage richtete ich an Pappermann, der sich in seine Decke zu wickeln begann, als wolle er sich niederlegen.

»Müd eigentlich nicht«, antwortete er; »aber fast wie wieder von dem Schusse Tom Muddys getroffen. Das ist die Erinnerung! Ich habe sie sehr lieb gehabt, diese Indianerin, sehr! Ich habe niemals, niemals wieder ein Frauenzimmer daraufhin angesehen, ob ich sie zum Weibe haben möchte. Ich bin ein einsamer Mensch geblieben und werde wohl, wenn meine Stunde kommt, auch ebenso einsam sterben – – —. Ich will versuchen, zu schlafen. Gute Nacht!«

Wir erwiderten seinen Wunsch »gute Nacht«, doch ging er nicht in Erfüllung, weder bei ihm noch bei uns. Er wälzte sich wohl zwei Stunden lang von einer Seite auf die andere; dann wickelte er sich wieder aus seiner Decke, stand auf und ging fort, um sich durch eine Wanderung zu beruhigen. Er war um Mitternacht noch nicht wieder da; da schlief ich ein. Aber schon vielleicht nach zwei Stunden wachte ich wieder auf. Da saß er an seiner Stelle; er war zurückgekehrt, hatte sich aber nicht niedergelegt. So setzte ich mich also auch auf. Und kaum hatte ich das getan, so richtete sich der »junge Adler« in die Höhe. Da erklang vom Zelt her die Stimme meiner Frau:

»Auch ich schlafe nicht! – Darf ich einen Vorschlag machen?«

»Welchen?« fragte ich.

Sie öffnete die Leinwandspalte, an der sie gestanden hatte, noch weiter, trat ganz hervor und antwortete:

»Wollen aufbrechen! Fort! Hinunter nach dem See! Wir schlafen doch nicht wieder ein! Das sind die Folgen so alter Geschichten!«

Da sprang Pappermann auf und stimmte bei:

»Well! Aufbrechen! Fort! Dann kommen wir genau zum Sonnenaufgang an, wie damals ich! Seid Ihr es zufrieden?«

Ich stimmte bei, und der »junge Adler« natürlich auch. Das Zeit wurde abgebrochen. Dann ritten wir den breiten, bequemen Terrainabfall nach der Hochebene des Sees hinunter. Der Morgen begann leise zu grauen. Wir hatten grad genug Dämmerlicht für die Augen unserer Pferde, daß sie sahen, wohin sie traten. Dann wurde es heller und heller.

War es wirklich nur die Folge der Erzählung Pappermanns, daß wir nicht hatten schlafen können? Oder gab es irgendeine Bestimmung, die uns veranlaßt hatte, um so viel früher aufzubrechen, als erst in unserer Absicht gelegen hatte? Sonderbar!

Wir ritten still nebeneinander her. Wir erreichten die Ebene, auf der wir schneller vorwärts kamen. Der Morgen nahte. Es wurde Tag. Und grad als die Sonne aufging, erreichten wir den äußeren Rand des grünen Laub- und Blätterwaldes, der den See von allen Seiten umsäumte. Eine schmale, wiesenartige Lichtung führte in diesen Wald hinein. Sie wurde immer schmaler und bildete schließlich einen Weg von nur fünf oder sechs Meter Breite.

»Das ist derselbe Weg, den ich damals kam«, sagte Pappermann. »Nur ist der Wald jetzt höher und dichter geworden. Hier fand ich die Spuren. Und nur eine kurze Strecke weiter sehen wir das Wasser des Sees.«

Er ritt diese Strecke voran. Dann wendete er sich nach uns um, deutete aber vorwärts und sagte:

»Da sind die letzten Büsche. Und nun kommt der See und der hohe Stein, auf dem Aschta damals saß – – – mein Himmel!«

Er war um die erwähnten letzten Büsche gebogen, ritt aber nicht weiter, sondern blieb halten, stieß diesen Ausruf der Überraschung, des Erstaunens aus und starrte nach einem Punkt, der uns noch hinter dem Gesträuch verborgen war. Wir ritten schnell hin. Da sahen wir nun freilich, daß er sehr wohl Veranlassung hatte, zu erstaunen. Ja, unser Erstaunen war ebenso groß wie das seinige.

Wir hatten den See erreicht. Wir befanden uns an seinem östlichen Rand. Ja, er war es wert, mit dem gleichnamigen Kanubisee in Massachusetts verglichen zu werden. Doch hatten wir jetzt nicht Zeit, uns mit seiner Schönheit zu beschäftigen. Rechts von uns lagen die Überreste der einstigen Senecahäuser, von dem ersten Gruß der Sonne überflutet. Vor uns die vom leisen

Morgenhauche bewegte, durchsichtig grünblaue Wasserfläche, deren reich eingebuchtete Ufer sich wie Kulissen aus- und ineinander schoben, von üppigem Grün bewachsen, dessen Blätter wie eingetaucht in flüssiges Metall erschienen. Und links von uns, wo die Büsche bis ganz nahe an das Ufer traten, der hohe, weiße, glattgewaschene Stein, und auf ihm stehend – – – eine junge Indianerin, genau, ganz genauso, wie Pappermann sie uns gestern am Abend beschrieben hatte: Sie war in weiche, weißgegerbte Tierhaut, mit roten Fransen verziert, gekleidet, und ihr langes, dunkles Haar hing, mit Blumen und Kolibris geschmückt, weit über den Rücken herunter. Die Kolibris funkelten im Sonnenstrahl in allen Farben leuchtender Edelsteine; aber das Mädchen schaute nicht, wie damals, der Sonne entgegen, sondern ihr Angesicht war nach der Stelle gerichtet, an der wir ihr jetzt erschienen. Und dieses Mädchen war schön, sehr schön, sowohl von Angesicht, als auch von Gestalt. Sie bewegte kein Glied. Sie sagte kein Wort. Sie sah uns still und erwartungsvoll aus ihren großen, dunklen Augen entgegen.

Und, sonderbar! Pappermann glitt langsam von seinem Maultier herab, schritt ebenso langsam, ganz wie mechanisch auf sie zu, als ob ihn eine tiefe, heilige Scheu umfange, und fragte:

»Wie heißest du?«

»Ich heiße Aschta«, antwortete sie, genau wie ihm damals geantwortet worden war.

»Und wie alt bist du?«

»Achtzehn Sommer.«

Da strich er sich mit der Hand über das Gesicht und sagte, als ob er träume:

»Also nein! Das konnte ja gar nicht sein! Sie ist eine Andere, wenn auch ihr ähnlich, so ganz außerordentlich ähnlich!«

»Sprichst du von meiner Mutter?« fragte nun sie.

»Man sagt, daß ich ihr überaus ähnlich sehe.«

»Du hast eine Mutter?«

»Ja.«

»Wie heißt sie?«

»Aschta, wie ich.«

»Und dein Vater?«

»Heißt Wakon. Wir wohnen weit im Norden von hier, am Niobrarafluß.«

Da schlug er die Hunde zusammen und rief:

»Sie ist eine Tochter von ihr – eine Tochter!«

Da bog sie ihren Oberkörper weiter vor, als ob sie vom Steine herunterspringen wolle, und sagte:

»Du kennst meinen Vater und meine Mutter? Und die Hälfte deines Gesichtes ist vom Pulver verbrannt! Heißest du vielleicht Pappermann?«

»Ja, so heiße ich.«

»Du warst zu derselben Zeit hier am Kanubisee, als Vater und Mutter einander kennenlernten?«

»Ja, zu derselben Zeit.«

Da stieg sie vom Stein herab und bat:

»Reiche mir deine Hände!«

Er tat es. Sie ergriff sie, küßte sie ihm einmal, zweimal, zog dann seinen Kopf zu sich heran, küßte ihn einmal, zweimal auch auf die dunkle Wange und sprach:

»Du bist der Retter meines Vaters! Hast dich für ihn geopfert. Warum kamst du nie zu uns? Vater und Mutter haben niemals aufgehört, sich nach dir zu erkundigen, doch ohne zu erfahren, wo du bist!«

Der alte Westmann zitterte vor Aufregung und Rührung. Er weinte.

»Woher weiß dein Vater, daß jener Schuß nicht mir, sondern ihm gegolten hat?« fragte er. »Ich habe es nie verraten!«

»O doch! Aber ohne daß du es wolltest. Du hast es im Fieber erzählt. Vater hat jenen Menschen zweimal wiedergesehen, doch ohne ihn fassen zu können. Sein richtiger Name war nicht Tom Muddy, sondern Sander. Als gestern abend Euer Feuer wie ein ganz, ganz kleiner, flackernder Stern vom Berge leuchtete, sagte Mutter zu mir: ,So leuchtete damals das Lagerfeuer unseres weißen Retters von genau da oben herab, am Abend, bevor ich ihn zum ersten Mal sah.‘«

»Deine Mutter ist hier?« erkundigte er sich schnell.

»Sie war hier, ist es aber nicht mehr«, antwortete sie. »Es waren viele Frauen und Töchter hier, die aber mit dem Morgengrauen fortgeritten sind. Ich blieb allein zurück – – – als Wache, als Kundschafterin.«

»Als Kundschafterin?« fragte er lächelnd. »Wenn wir nun Feinde wären?«

»So hättet ihr mich nicht zu sehen bekommen.«

»So hast du wissen wollen, wer wir sind?«

»Weil wir Euer Feuer gesehen hatten, ja.«

»Und woraus erkanntest du, daß wir nicht gefährlich seien?«

»Weil eine Squaw sich bei euch befand.«

»Ah! Ganz richtig, ganz richtig! Nun mußt du wohl schnell von hier fort?«

»Ja, um die Anderen einzuholen. Doch werde ich diesen Ort nicht mehr verlassen, ohne von dir erfahren zu haben, wann und wo wir dich sehen und treffen können.«