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Buch lesen: «Winnetou 4», Seite 24

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Zum besseren Verständnis dessen, was nun kommt, erinnere ich an die berühmte Mammuthöhle in Kentucky in den Vereinigten Staaten, die mit ihren Seitenhöhlen eine Länge von über dreihundert Kilometern besitzt. Ihr Hauptgang erstreckt sich unter der Erde sechzehn Kilometer weit. Es gibt da unzählige Schächte, Stollen, Gänge, Schluchten, Hallen, Stuben, Säle, Grotten, Dome, Teiche, Seen, Bäche, Flüsse und Wasserfälle. So ungefähr dachte ich mir die Höhle am Mount Winnetou, und die Folge zeigte, daß ich mich da nicht geirrt hatte. Sie war zwar nicht von gar so riesigen Dimensionen, aber der Wunder gab es auch hier genug. Besonders war es die überaus reichliche und unvergleichliche Stalaktitenbildung, welche wir bestaunten.

Der Weg nach der Höhle ging nicht durch die Stadt und dann den »weißen Fluß« entlang, sondern man ritt auf der anderen Seite von der Höhe hinab und hatte dann einem Bach zu folgen, der den Vorsatz gefaßt zu haben schien, alle diejenigen, die sich seiner Leitung anvertrauten, dahin zurückzuführen, woher sie gekommen waren. Es ging immer rundum, doch in Schraubenlinien immer tiefer hinab. Dabei bekamen wir besonders den kleinen Mount Winnetou, auf dem Tatellah-Satah wohnte, von allen möglichen Gesichtspunkten aus zu sehen. Einmal konnten wir das große Kriegsadlernest, welches unser Freund, der »junge Adler«, erklettert hatte, besonders deutlich erkennen. Das war der Grund, daß das Herzle den »Diener« fragte, ob er über diesen Vorgang unterrichtet sei. Heut war nur Pappermann, nicht aber auch der »Junge Adler« bei uns; so konnten wir also über dieses sein Erlebnis sprechen, ohne indiskret zu sein.

»Ja, ich weiß alles«, antwortete Intschu-inta. »Ich stand ja neben Tatellah-Satah, der vor seiner Tür saß, als der ,junge Adler‘ vom Horst des Kriegsadlers herabgeflogen kam und grad zu unsern Füßen landete. Ich habe dieses Weibchen, welches viel, viel größer als das Adlermännchen war, dann mit erschlagen helfen. Einen stärkeren, größeren und gewaltigeren Vogel als dieses Weibchen gab es nie im ganzen Leben. Wie alt sie war, das wußte man schon längst nicht mehr. Jedermann kannte sie. Sie litt kein Männchen bei sich; sie biß und jagte es fort. Man schrieb ihr ungeheure Kräfte zu. Man behauptete, sie könne einen ausgewachsenen Präriewolf zum Horst tragen. Damals zählte der ,junge Adler‘ zwölf Jahre. Er wohnte hier bei uns. Er war ein Verwandter Winnetous und der Liebling aller derer, die ihn kannten. Trotz dieser seiner großen Jugend ging er nach Norden, um sich den Ton zu seiner Friedenspfeife aus den heiligen Steinbrüchen von Dokota zu holen. Als er mit dem Ton zurückkam und die Pfeife geschnitten war, erklärte er, daß er sich nun auch seine Medizin erbeuten wolle. Er ging vierzig Tage in die Wüste, um zu fasten, und da träumte ihm, daß er der ,junge Adler‘ heißen werde und darum die beiden jungen Kriegsadler aus dem Horst holen solle; ihre Krallen und Schnäbel seien seine Medizin. Er war vom Fasten schwach. Er wog kaum noch die Hälfte von vorher. Dennoch wagte er es, das Gebot des Traumes sofort auszuführen, ohne sich recht zu erholen. Er nahm einen Lasso, steckte ein Messer und viele Riemen zu sich und begann den Aufstieg in die Höhe des Horstes. Droben angekommen, fand er das Nest unzugänglich. Um es zu erreichen, mußte man ein Stück darüber hinausklettern und sich dann am Lasso herablassen. Er tat das. Er befestigte den Lasso am überhängenden Felsen und griff sich dann daran hinunter. Aber der Lasso war zu kurz. Als er das Ende erreichte, schwebte er noch hoch über dem Nest und die Kräfte verließen ihn. Er öffnete die Hände und sprang in das Nest herab. Der Lasso schwebte hoch über ihm hin und her und war nicht mehr zu erreichen.«

»Wie fürchterlich!« rief das Herzle aus. »Gab es keinen Weg aus dem Nest?«

»Nein«, lächelte der Erzähler. »Adler pflegen nicht an

Wegen zu horsten. Die Adlermutter war abwesend; die beiden jungen aber lagen da. Sie rissen die Schnäbel auf und kreischten den Eindringling angstvoll an. Er tötete sie, schnitt ihnen die Köpfe und die Krallen ab, steckte diese ein und warf die Körper in die Tiefe. Dann begann er zu überlegen, wie er sich wohl entfernen könne. Aber es war keine Möglichkeit zu ersehen. Hoch über ihm der Lasso, den er nicht erreichen konnte, unter ihm die grausige Tiefe, und er selbst im schwindelnden Felsenhorst, aus dem keine Ratte, keine Maus einen Rettungsweg gefunden hätte, viel weniger ein Mensch! Und indem er das erkannte, sah er die Alte kommen, mit einem kleinen Wild in den Fängen, welches sie für ihre Jungen erbeutet hatte. Sobald sie ihn sah, ließ sie es fallen und schoß mit heiseren Schreien auf ihn zu. Er zog sein Messer, um sich zu verteidigen. Aber in demselben Augenblick war es, als ob eine laute, warnende Stimme ihm zurief: Töte sie nicht, und verletze sie nicht, sonst bist du verloren! Sie ist deine einzige Rettung!«

»Ah, fliegen!« sagte das Herzle, tief Atem holend.

»Ja, fliegen«, nickte Intschu-inta. »Das war das Einzige; weiter gab es nichts.«

»Der arme Knabe! Wie ermöglichte er das?«

»Nicht der arme Knabe! Sondern der kühne, der kluge, der mutige Knabe! Hier kann es kein Bedauern geben, sondern nur ein Bewundern! Der Horst liegt auf einem kleinen Felsenvorsprung, von dem aus ein schmaler Riß in das Innere des Gesteines führt, um aber bald zu enden. Da lagen die Hölzer und Knüppel der früheren Jahrgänge des Horstes, denn der Kriegsadler baut sein Nest jährlich immer neu und also immer höher. Es gelang dem Knaben, sich in diesen Riß zu retten, noch ehe das kreischende Raubvogelweib den Horst erreichte und den wütenden Angriff begann. Er kroch nach und nach fast ganz unter die Hölzer und verteidigte sich mit ihnen. Dabei dachte er eifrig darüber nach, wie er sich retten könne. Er war so klug, einzusehen, daß dies nur dadurch möglich sei, daß der Adler ihn hinunter in die Tiefe trage. Er fragte sich, ob er trotz seiner jetzigen Leichtigkeit nicht doch zu schwer für diesen Vogel sei. Indem er das dachte, ließ die Alte von ihrem Angriff ab, um nach ihren Jungen zu suchen. Dadurch gewann er Zeit zu ruhigerem Ueberlegen.«

»Er war zu schwer!« fiel das Herzle ängstlich ein.

»Allerdings war das anzunehmen«, stimmte Intschu-inta bei. »Einen sicheren, ruhigen Flug konnte es also nicht geben, ganz abgesehen davon, daß der Adler sich aus allen Kräften sträuben würde, ihn zu tragen. Aber wenn kein eigentlicher Flug, so war es doch wohl auch kein eigentlicher Sturz in die Tiefe. Es war vorauszusehen, daß die Flügelschläge die Jähheit und Stärke dieses Sturzes mildern würden. Es galt also, den Adler so zu fesseln, daß er den Knaben weder mit dem Schnabel noch mit den Krallen verletzen, aber doch fliegen konnte. Schlingen und Fesseln, mit denen man dies erreicht, sind einem jeden Indianer, sogar auch den Kindern, geläufig. Kaum war der Gedanke gefaßt, so wurde seine Ausführung vorbereitet. Riemen waren mehr als genug da. Mit Hilfe eines passenden, aus dem Horst gezogenen Holzes und dreier Riemen wurde schleunigst ein Knebel gefertigt, der den Adler zwang, Kopf und Hals gradeaus zu strecken. So war ihm der Gebrauch des gefährlichen Schnabels verwehrt. Für die Fänge oder Krallen gab es eine fünffache Schlinge, die später noch zu verstärken war. Für den Leib eine Schleife, welche den Zweck hatte, die Flügel zu schließen und eng an den Körper zu zwingen, natürlich nur bis zu dem Augenblick, an dem der Flug zu beginnen hatte. Mehrere Hölzer wurden fest in die Felsenspalte geklemmt, so daß sich eine Art von Gitter zum Schutz des darinsteckenden Knaben bildete. Wollte der Adler ihn fassen, so war er gezwungen, den Kopf durch dieses Gitter zu stecken, der dann sehr leicht mit der Schlinge gepackt und festgehalten werden konnte.«

Meine Frau war außerordentlich gespannt, ich nicht viel weniger. Pappermann las dem Erzähler die Worte fast von den Lippen weg. Intschu-inta fuhr fort:

»Kurze Zeit, nachdem diese Vorkehrungen getroffen waren, kehrte die Adlersfrau zurück. Sie schien die Leichen ihrer Kinder gefunden zu haben, denn sie fuhr in einer bedeutend größeren Wut als vorher auf ihren Feind los. Sie besann sich nicht im geringsten, den Kopf durch das Gitter zu stecken. Sofort legte sich ihr die Schlinge um den Hals, und mochte sie sich noch so sehr wehren, einige Minuten später war ihr der Knebel angelegt, der sie zwang, Kopf und Hals geradeaus zu strecken Sie wehrte sich aus Leibeskräften, mit den Flügeln und den Krallen. Die letzteren wurden sehr leicht in Schleifen gefangen und dann fest ineinandergebunden. Um die ersteren zur Ruhe zu bringen, mußte der Knabe den gewaltigen Raubvogel, der sich aber nun schon nicht mehr wehren konnte, halb zu sich in den Felsenspalt ziehen, um ihm die Schwingen an den Leib zu drücken und dann mit Riemen festzubinden. Als dies geschehen war, konnte der Adler sich nicht mehr bewegen. Er war vollständig überwältigt; der Sieger aber hatte nicht die geringste Verletzung davongetragen, der Vogel ebenso. Das Schwierigste war vorüber; das Kühnste konnte beginnen, nämlich der fliegende Sturz oder der stürzende Flug in die grausige Tiefe.«

»Gott sei Dank, daß ich es nicht war!« meinte Pappermann. »Mir wäre dieses Wagnis gewiß nicht gelungen. Wen das Schicksal dazu verurteilt hat, Pappermann zu heißen, der muß auf fester Erde bleiben, sonst geht er sicher kaputt! Doch weiter, schnell weiter! Ich bin gespannt!«

Der Diener fuhr fort:

»Nun das Raubtier gebändigt war, konnte der Knabe die Felsenspalte wieder verlassen. Er trat vor und schaute in den Abgrund. Es kam keine Spur von Zagen über ihn. Es fiel ihm nicht ein, auch nur einen Augenblick zu zögern. Jetzt war der Adler noch bei voller Kraft. Je schwächer er wurde, desto gefährlicher war der Sprung von dem Horst in das gähnende Nichts hinaus. Der Vogel stank nach Wild und Blut. Seine großen, runden Augen glühten vor Haß und Wut. Und doch konnte nur er allein der Retter sein, weiter niemand, weiter nichts! Das sind Rätsel, die nur Einer lösen kann, ein einziger, und dieser einzige ist gut, ist ewig gut! Der Knabe befestigte sich die besten seiner Riemen unter den Armen hindurch über Brust und Rücken, band sie an die Krallen des Adlers, doch so, daß ihm die schlagenden Flügel des Vogels das Gesicht nicht verletzen konnten, und zog den letzteren bis hart an den Rand des Abgrundes. ,O Manitou, o Manitou!‘ rief er aus. Dann durchschnitt er die beiden Riemen, welche die Flügel fest an den Leib gehalten hatten. Der Adler regte sie; er bemühte sich, sie auszubreiten, aber er konnte sich nicht aufrichten, weil ihm die Krallen zusammengebunden waren. ,O Manitou, o Manitou!‘ betete der Knabe noch einmal. Dann schloß er die Augen, glitt langsam über den Rand des Felsens hinaus und zog den Vogel nach.«

»Weiter, weiter! » rief Pappermann. »Ich kann es nicht erwarten!

»Ja, schnell, schnell!« bat auch das Herzle. Intschu-inta gehorchte:

»Ich habe gesagt, daß der Knabe die Augen schloß. Stürzte er? Nein. Er wäre in einigen Sekunden unten in der Tiefe aufgeschlagen. Aber die Sekunden vergingen, und er lebte noch. über ihm rauschten Flügel. Er schwankte hin und her. Der Adler schrie in einem fort. Sein Kreischen klang über Berg und Tal, das jedermann zur Höhe schauen mußte. Da öffnete der Knabe die Augen. Er sah, daß er fiel, beständig fiel, aber nicht stürzend, sondern langsam, in einer abwärts gehenden Schraubenlinie. Der Adler wehrte sich. Er wollte nicht nieder. Er arbeitete mit allen Kräften seiner Schwingen. Aber der Knabe war zu schwer; der zog ihn hinab, bis in die Nähe des Schlosses. Da erreichten sie den festen Boden. Aber der Knabe war noch nicht gerettet. Er hatte sein Messer nicht mehr. Er konnte die Riemen nicht durchschneiden, sich nicht vom Vogel befreien, der sich bemühte, wieder aufzusteigen. Es entspann sich ein Kampf, in dem der Adler stärker als der Knabe war. Er schlug ihn mit den Schwingen; er riß ihn hin und her. Leute eilten herbei. Die Angst vor ihnen verdoppelte die Kräfte des Adlers. Er überwand die an ihm hängende Last. Er ging noch einmal in die Luft, wenn auch nicht hoch. Er flog eine kurze Strecke weit, dann sank er wieder zur Erde, die er grad vor uns erreichte, vor Tatellah-Satah und vor mir. Da lag ein Stein. Ich hob ihn auf, und wir erschlugen den Riesenvogel. Der Knabe war gerettet. Die Flügelschläge hatten ihn arg mitgenommen; aber er lächelte. Er jubelte sogar. Denn er hatte erreicht, was er erreichen wollte, nämlich seine – – Medizin. Seitdem wird er der ,junge Adler‘ genannt, und das Fliegen ist es, wovon er am liebsten spricht. Er ist sogar nach den Städten und Dörfern der Bleichgesichter gegangen, um es dort zu lernen.«

»Und kann er es?« fragte das Herzle.

»Das weiß ich noch nicht. Aber er ist schon seit gestern dabei, sich eigene FlügeI zu bauen. Also scheint er es doch zu können. Das dürfen aber nur wir wissen, andere nicht.«

Wir waren während dieser Erzählung eine gute Strecke vorwärts gekommen und folgten nun einer ganzen Reihe von Tälern und Schluchten, welche miteinander im Zusammenhange standen, aber nach so verschiedenen Richtungen führten, daß es oft schwer war, zu sagen, ob wir nach Nord oder Süd, nach Ost oder West ritten. Schon waren wir über drei Stunden unterwegs. Da stießen wir auf einen kleinen Fluß, dessen Wasser man es ansah, daß es nicht aus einer erdigen oder gar lehmigen, sondern aus einer felsigen Gegend kam.

»Das ist das ,Wasser der Höhle‘, an dem wir nun aufwärts reiten werden«, sagte Intschu-inta. »Es kommt aus der Höhle und führt uns also direkt nach unserem Ziele.«

Wir schwenkten in diese Richtung ein. Als wir an dieses Wasser kamen, hatten wir den tiefsten Punkt unseres heutigen Weges erreicht. Nun ging es wieder aufwärts, dem Mount Winnetou zu, wenn auch von einer anderen Seite. Wir hatten einen großen Umweg gemacht. In der Luftlinie standen wir dem Berg ganz bedeutend näher. Das Tal des Flüßchens war eng und dabei dicht mit Nadelholz bewachsen. Oft fanden wir vor lauter Baumwuchs kaum genug Platz zum Vorwärtskommen. Das dauerte weit über eine Stunde lang.

Dabei wurden die Seiten des Flußtales immer höher und höher. Dann kam eine Stelle, wo sie plötzlich weit auseinandertraten und wohl eine halbe Reitstunde lang in schnurgerader Richtung verliefen. Dadurch entstand eine große, lange, pfannenähnliche Bodenvertiefung, deren Sohle der Fluß wie eine mit dem Lineal gezogene Schnur durchschnitt. Eine ganz erstaunliche Vegetation von Riesenbäumen stieg zu beiden Seiten hoch empor. Zwischen den gigantischen Stämmen gab es dichtes Unterholz in Menge. Dicht war auch das Gesträuch, welches den Boden dieser Felsenpfanne bedeckte. Einzelne Laub- und Nadelkronen ragten daraus empor. Hier gab es Laub und Gras in reicher Menge, zum Futter für die Pferde. Allerdings, wenn die Pferde nach Tausenden zählten und nicht nur einige Tage, sondern längere Zeit zu bleiben hatten, so reichte auch diese Menge nicht aus.

»Das ist das Tal der Höhle«, sagte Intschu-inta.

»Und wo ist die Höhle?« fragte das Herzle.

»Ganz hinten, am Ende des Tales, wo es direkt an den Mount Winnetou stößt. Kommt!«

Wir ritten weiter.

Also hier war es, wo die verbündeten Sioux, Utah, Kiowa und Komantschen sich verstecken wollten. Der Platz war gar nicht übel von ihnen gewählt. Nur lag er von uns sehr weit entfernt, und wer uns von hier aus überfallen wollte, der hatte vorher einen fünf Stunden langen, mühsamen Weg zurückzulegen. Oder gab es vielleicht einen kürzeren, bequemeren Weg? Und war er unseren Gegnern bekannt? Diese Gedanken gingen mir durch den Kopf. Sie erschienen mir der Beobachtung wert. Und sonderbar, kaum hatte ich ihnen Raum gegeben, so parierte ich mein Pferd und winkte den anderen, auch innezuhalten. Ich sah nämlich eine Spur. Ich stieg ab, sie zu untersuchen. Sie stammte von zwei Pferden, die nicht denselben Weg wie wir gekommen waren, sondern links von der Höhe herab, und zwar vor höchstens einer Stunde. Es gab also zwei Reiter, die da vor uns waren. Wer sie waren, konnte ich aus den Spuren nicht ersehen, jedenfalls aber Indianer. Ich nahm meinen Revolver aus der Tasche. Wir ritten weiter, aber langsam und vorsichtig, so geräuschlos wie möglich, immer einer hinter dem andern, ich voran. Wir folgten den Spuren, die in dem weichen, von den Höhen herabgeschwemmten Boden sehr deutlich zu sehen waren. Sie führten am Fluß hin, zwischen den Büschen hindurch, nach dem hinteren Teil der Talpfanne.

»Sie sind nach der Höhle«, sagte Intschu-inta. »Sie kennen sie!«

»Und zwar so gut«, fügte ich hinzu, »daß sie quer über die wilden Vorberge gekommen sind und sie dennoch gefunden haben. Ihre Kenntnis ist also genauer noch als die deine.«

Wir näherten uns dem Ende des Tales. Es hörte da auf, wo der Fluß direkt aus dem Innern des Berges trat. Eine Oeffnung führte hinein. Sie war dreimal breiter als der Fluß und nur so hoch, daß ein Reiter hinein konnte, ohne sich bücken zu müssen. Das war der Eingang zu der großen Höhle, die wir kennenlernen wollten. Vor diesem Eingange gab es einen kleinen, freien Platz, der von dem herabstürzenden Steingeröll bestrichen wurde und darum vegetationslos war. Am Rand dieses Platzes angekommen, hielten wir an, denn nun sahen wir die beiden Reiter, die wir suchten. Sie waren abgestiegen und lagen auf dem Bauch an der Erde, mit den Köpfen über etwas Weißes gebeugt, was ein Papier oder sonst dem ähnliches zu sein schien. Ihre Pferde knusperten von den letztjährigen Zweigen der Büsche. Die beiden Sättel lagen in der Nähe, dabei einige Taschen und Pakete, auch die Gewehre.

Wir stiegen ab und führten unsere Pferde eine kleine Strecke zurück, um sie dort anzubinden, sonst konnten wir durch sie verraten werden. Dann kehrten wir wieder nach dem Buschrand zurück, um die beiden Männer zu beobachten.

»Kennst du sie?« fragte ich das Herzle.

»Nein«, antwortete sie.

»Du hast sie aber gesehen!«

»Nein, gewiß nicht!«

»Aber doch! Sogar mehrere Stunden lang!«

»Wo?«

»Im ,Hause des Todes‘, bei der Beratung der Häuptlinge. Es sind die beiden Medizinmänner der Kiowa und der Komantschen, welche den Altar öffneten.«

»Wirklich?«

»Ganz gewiß!«

»Dein Auge ist sicherer als das meine. Ich habe sie nur bei dem ungewissen, flackernden Licht der Feuer gesehen.«

»Ich auch. Aber der Westmann gibt sich vor allen Dingen Mühe, sich die Gesichtszüge derer, die ihm wichtig sind, so gut wie möglich einzuprägen. Darin bist du nicht geübt. Das Papier, mit dem sie sich beschäftigen, kann kein gewöhnliches sein. Mir scheint, es ist eine Karte oder so etwas. Sie fahren mit den Fingern darauf herum, heftig, als ob sie sich stritten. Sie sprechen dabei so laut, daß man es sogar hier bei uns fast hören kann. Ich schleiche mich hin, sie zu belauschen.«

»Ich mit?«

»Nein, liebes Herzle«, lachte ich. »In welcher Sprache willst du lauschen? Und dein Anschleichen dürfte wohl etwas laut ausfallen.«

»Schade! Ich möchte gern auch mittun! Wie nun, wenn sie dich ermorden wollen? Erschießen, erschlagen oder erstechen?«

»So kommst du schnell, mir zu helfen!«

»Das darf ich?«

»Ja, das darfst du! Du darfst sogar dabei schreien und brüllen und heulen, so sehr und so viel du nur willst!«

»So geh! Ich komme sogar auf alle Fälle!«

Ich gab Pappermann und Intschu-inta die nötige Anweisung und trat dann zwischen die Büsche, um mich zu den Indianern hinzuschleichen. Das fiel mir nicht schwer, denn sie waren so sehr mit sich selbst beschäftigt, daß sie weder Augen noch Ohren für etwas anderes zu haben schienen. Ich kam so nahe an sie heran, daß ich von dem Strauch aus, der mich verbarg, mit meiner Hand den Fuß des auf dem Bauch ausgestreckten Kiowa hätte ergreifen können. Das Thema, welches sie behandelten, war von größter Wichtigkeit, nicht nur für sie, sondern ebensosehr auch für mich.

Das, was ich für Papier gehalten hatte, war nicht Papier, sondern Leder, seidendünn pergamentartig zubereitetes Leder, auf beiden Seiten beschrieben oder wohl auch bemalt. Die eine Seite enthielt eine genaue Zeichnung des Mount Winnetou und den Situationsplan des »Schlosses«, welches der »Bewahrer der großen Medizin« bewohnte. Auf der anderen Seite befand sich eine ebenso genaue Karte des Inneren der großen Höhle, vor welcher wir uns befanden. Das wußte ich schon nach Verlauf der ersten Minute, in der ich lauschte. Die Unterhaltung war sehr bewegt. Die Karte wurde bald hinum- und bald wieder herumgedreht. Man nannte, suchte und fand die verschiedensten Namen, Stellen und Punkte. Das alles hörte ich und merkte es mir. Ich erfuhr, daß die Karte dem Medizinmann der Komantschen gehörte. Sie war ein ur-, uraltes Erbstück seiner Familie. Niemand außer ihm durfte von ihr wissen, und nur der große, hochwichtige Zweck, der heut und hier zu verfolgen war, hatte ihn veranlaßt, dieses Geheimnis zu lüften. Der Medizinmann der Kiowa war außerordentlich begierig darauf, den Inhalt dieser ledernen Urkunde genau kennenzulernen und sich einzuprägen.

»Also es ist gewiß und wahrhaftig und wirklich so, wie es hier steht?« fragte er.

»Ja, wirklich!« nickte der Komantsche.

»Wir liegen jetzt hier, an dieser Stelle?«

Dabei deutete er auf den betreffenden Punkt der Karte.

»Ja«, antwortete der andere.

»Und von hier aus kann man unterirdisch bis auf den Mount Winnetou kommen? Nicht nur gehend, sondern sogar zu Pferde?«

»Gewiß, zu Pferde.«

»Und auf diesem Weg willst du uns und unsere viertausend Krieger nach oben führen, um Tatellah-Satah und seinen ganzen Anhang zu überfallen? Uff, Uff! Das ist ein großer Plan, ein sehr großer Plan! Hat mein roter Bruder diesen Weg schon einmal gemacht? Ist er schon einmal oben gewesen?«

»Nein, aber einer meiner Ahnen hat es heimlich versucht, und es gelang. Der Weg endet an mehreren Stellen; es gelang ihm aber nur, das eine Ende zu erreichen, nach dem auch ich gelangen will.«

»Das ist hinter dem Schleierfall?«

»Ja, Das ist der einzige Punkt, den man zu Pferde erreichen kann. Zu den anderen Punkten kann man nur zu Fuß kommen.«

»Aber wenn es nicht gelingt? Wenn über viertausend Menschen in der Höhle stecken, ohne vor- oder rückwärts zu können? Bedenke mein Bruder, was so viele Menschen und so viele Pferde brauchen!«

Ich habe es bedacht. Ich bin darum vorausgeritten, um die Höhle vorher zu untersuchen. Und ich nahm dazu nur dich, meinen roten Bruder, mit, keinen andern Menschen, weil du ebenso ein Bewahrer der Medizin bist wie ich und Tatellah-Satah. Dir darf ich vertrauen.«

»So laß uns keine Zeit verlieren, sondern beginnen!«

Er stand auf.

Sie hatten sich also nicht gezankt, sondern es hatte infolge ihrer Lebhaftigkeit nur so geschienen. Der Komantsche erhob sich auch vom Boden. Er legte die Karte mit großer, sorgfältiger Langsamkeit zusammen, um sie dann einzustecken. Da richtete auch ich mich auf, trat hinter dem Gezweig hervor und sagte:

»Meine roten Brüder werden wahrscheinlich doch ein wenig Zeit verlieren, ehe sie beginnen!«

»Uff!« rief der Kiowa erschrocken. »Ein Weißer!«

»Uff, uff! Ein Bleichgesicht!« rief zu gleicher Zeit auch der Komantsche.

Ich riß ihm das Pergament aus der Hand, steckte es nicht in seine, sondern in meine Tasche, stellte mich so, daß sie nicht zu ihren Gewehren konnten, und fuhr fort:

»Ich nehme diese Karte einstweilen zu mir, weil ich euch helfen werde, den darauf bezeichneten Weg durch die Höhle zu finden!«

Nun hatten sie sich von ihrer Ueberraschung erholt. Sie richteten sich hoch und kampfbereit auf.

»Wer bist du, daß du es wagst, mich zu bestehlen?« fragte der Komantsche.

Dabei näherte er sich mir, um zu seinem Gewehr zu gelangen. Ich zog den Revolver, spannte ihn und antwortete:

»Ich stehle nicht! Wenn diese Karte dein rechtmäßiges Eigentum ist, wirst du sie wiederbekommen. Weg von den Gewehren, sonst schieße ich! Ich bin nicht allein!«

Ich winkte. Da kamen Pappermann, Intschu-inta und die Winnetous, das Herzle langsam hinterher.

»Uff, uff!« rief der Kiowa, als er Pappermann erblickte. »Ein halbes, blaues Gesicht!«

»Und eine weiße Squaw!« fügte der Komantsche hinzu, jetzt wirklich erschrocken.

»Ihr habt von diesem blauen Gesicht und von dieser Squaw gehört. Wer also bin ich?« fragte ich.

»Old Shatterhand!« antwortete der Komantsche.

»Old Shatterhand!« rief auch der Kiowa. »Unser Feind, unser grimmigster Feind!«

»Das ist eine Lüge! Ich bin keines Menschen Feind. ja, ich könnte wohl eher der Feind eines Weißen als eines Roten sein! Fragt eure Häuptlinge, wie ich sie geschont habe! Fragt eure alten Krieger, ob sie ein Wort des Hasses von mir hörten oder euch eine einzige Tat der Rache von mir berichten können! Ich liebe alle Menschen, und ich liebe auch euch. Ich will euer Glück und trete darum jeder eurer Absicht entgegen, die euch zum Unglück führt. Eine solche Absicht ist es, die ihr heut verfolgt. Ich dulde nicht, daß sie zur Ausführung kommt. Setzt euch wieder nieder, und gebt eure Messer ab. Ihr seid gefangen!«

»Wir sind nicht gefangen, sondern – – —«

Mit diesen Worten sprang der Komantsche auf mich ein, doch wich ich einen Schritt nach rechts, faßte ihn an der Seite und warf ihn zur Erde. Intschu-inta, der Riese, kniete ihm auf die Brust und überwältigte ihn ohne alle Mühe. Ebenso verfuhr der wackere, alte Pappermann mit dem Kiowa. In kürzester Zeit waren die beiden Gefangenen derart gefesselt, daß sie sich nicht rühren konnten. Wir setzten uns zu ihnen nieder. Die Winnetous holten unsere Pferde. Ich aber nahm vor allen Dingen die Karte wieder aus der Tasche und schlug sie auf, um sie genau zu betrachten. Sobald ich den ersten Blick auf sie geworfen hatte, wußte ich, woran ich war. Ich wendete mich an den Komantschen:

»Avat-towah, der Medizinmann der Komantschen, mag mir sagen, ob er eine große Sammlung von Büchern, also eine Bibliothek, besitzt.«

»Ich habe keine«, antwortete er. »Es gibt bei allen Männern der Komantschen keine.«

»Weiß Avat-towah vielleicht, wo es eine gibt?«

»Hier am Mount Winnetou, bei Tatellah-Satah.«

»Sonst nirgends?«

»Ich weiß keine andere.«

»So wirst du diese Karte nicht wiederbekommen. Ich habe sie ihrem rechtmäßigen Eigentümer auszuliefern. Sie gehört Tatellah-Satah. Sie wurde ihm gestohlen.«

»Das ist eine Lüge!« brauste der Medizinmann auf.

»Das ist keine Lüge, sondern die Wahrheit.«

»Beweise es!«

»Sofort! Nur besitzt du wahrscheinlich nicht die Kentnisse, welche dazu gehören, zu verstehen, was ich sage. Diese Karte ist nämlich numeriert, und zwar im alten Pokontschidialekt der Mayasprache. Hier unten, in dieser Ecke, stehen die Hunderter: Jo-tuc: d. h. fünfmal vierzig; das bedeutet also zweihundert. Und hier in der anderen Ecke stehen die Zehner und Einer: wuk-laj; das heißt sieben und zehn, also siebzehn. Diese Karte ist also Nummer zweihundertsiebzehn der betreffenden Bibliothek oder einer ihrer Abteilungen. Ich werde sie Tatellah-Satah zeigen, und es wird sich heraustellen, daß sie ihm gehört.«

»Nichts hast du ihm zu zeigen, und nichts hat ihm zu gehören! Diese Karte ist gestohlen, aber erst jetzt von dir! Du bist der Dieb!«

»Schweig, sonst geb ich dir eins auf das Maul, alter Spitzbube!« unterbrach ihn Pappermann. »Wo sind die Brüder Enters?«

Das war kein übler Trick, daß er diesen Namen brachte. Die beiden Roten erfuhren dadurch in bequemster Weise, daß wir nicht so unwissend waren, wie sie wahrscheinlich annahmen. Sie konnten ihre Ueberraschung nicht ganz verbergen, doch beherrschten sie sich schnell, und der Komantsche fragte in gleichgültigem Ton:

»Enters? Wer ist das?«

»Das sind die zwei Brüder, die versprochen haben, uns an euch auszuliefern. Nun wißt ihr genug, um überzeugt sein zu können, daß wir gar keinen Grund und gar keine Lust haben, euch in Samt und Seide einzuwickeln. Sagt noch ein einziges Wort, was uns nicht gefällt, so setzt es Hiebe, ganz gewaltige Hiebe ab!«

Es wäre zwar besser gewesen, wenn Pappermann mich hätte reden lassen; aber heut war es nach seinen früheren Jahren zum ersten Mal seit langer, langer Zeit, daß er wieder einmal Gefangene vor sich hatte, und so gönnte ich dem alten, braven Burschen ganz gern die billige Genugtuung, ein wenig zu bramarbasieren. Die beiden Medizinmänner waren von jetzt an still. Der Name Enters hatte sie bedenklich gemacht.

Wir mußten zunächst essen. Das Herzle packte also die mitgebrachten Speisen aus und legte uns vor. Die Pferde wurden abgesattelt. Sie durften trinken und sich dann ihr grünes Futter suchen. Mir war die Karte ganz selbstverständlich wichtiger als das Essen. Ich studierte sie genau und zog dabei Intschu-inta zu Rate, der mir versichert hatte, daß er die Höhle genau kenne. Da stellte sich ein Widerspruch zwischen ihm und der Karte heraus. Nach der letzteren gab es hier unten im Tal allerdings nur den einen Eingang zur Höhle, vor dem wir uns befanden, droben auf der Höhe aber drei verschiedene Ausgänge, zwei schmale und einen breiten. Der breite war der Pferdeweg, der hinter dem Schleierfall mündete. Die beiden anderen waren Fußwege, die an einer gewissen Stelle von dem Pferdeweg abzweigten, noch eine Strecke beisammen blieben und dann sich teilten. Der eine mündete droben im Schloß; an welcher Stelle, das war nicht zu sagen; es genau zu bestimmen, war die Zeichnung zu klein. Der andere stieg nicht ganz so hoch. Er ging im Binnental aus; wie es schien, in der Nähe der angefangenen Riesenstatue Winnetous oder einer der beiden Teufelskanzeln. Intschu-inta aber kannte keinen dieser drei Ausgänge. Er wußte zwar, daß früher, in alten Zeiten, mehrere Ausmündungen der Höhle vorhanden gewesen seien, doch habe man sie zugeschüttet. Warum, das wußte er nicht. Er behauptete, daß der Höhlenweg immer breit und sehr gut gangbar, im Innern des Berges aufwärts führe, bis er plötzlich schmal werde und dann vor einer Tropfsteingruppe ende. Diese Gruppe liege etwas seitwärts vor dem Schleierfall, den man noch in der Höhle stürzen höre, wenn man scharfe Ohren habe.

Wer hatte nun recht? Intschu-inta oder die Karte? Jedenfalls die letztere. Ich beschloß also, mich auf sie zu verlassen, wenigstens in Beziehung auf den oberen Teil der Höhle und die dort befindlichen Ausgänge. Bis dorthin aber konnte ich der Ortskenntnis des »Dieners« vollständig trauen. Darum beschloß ich, die Pferde nicht hier zu lassen, sondern mitzunehmen. Wir hatten angenommen, nach dem Eingang zurückkehren zu müssen; aber wenn es oben einen so breiten und bequemen Ausgang gab, wie er auf der Karte verzeichnet war, so befanden wir uns dort ja schon daheim und hatten nicht nötig, den Rückweg durch die Höhle zu machen und dann noch fünf Stunden weit nach Hause zu reiten. Intschu-inta blieb zwar dabei, daß wir, zumal mit den Pferden, unbedingt gezwungen sein würden, wieder umzukehren; ich aber war der Ansicht; daß kein vernünftiger Mensch auf den Gedanken gekommen sein könne, die drei Ausgänge völlig zuzuschütten. Ich nahm vielmehr an, daß sie nur maskiert, also versteckt worden seien, und verließ mich da auf meine Kombination und auf meine guten Augen.