Buch lesen: «7 Engel», Seite 4

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Kapitel 7

Elina blies die Staubschicht von Mamas Bibel und schlug sie auf. Sie versuchte sich zu entsinnen, wann sie das letzte Mal darin gelesen hatte. Trotz angestrengtem Nachdenken fiel es ihr nicht mehr ein, zu lange war es her.

Der Glaube hatte bei ihren Eltern einen hohen Stellenwert gehabt, deshalb war auch das gemeinsame Lesen in der Bibel ein fester Bestandteil ihres Lebens gewesen. Aber Elina verdrängte die besonderen Geschichten über Gott und Jesus, die ihre Mutter so lebendig zu erzählen vermochte, dass Ruth und Elina glaubten, mittendrin zu sein, wie so vieles andere erfolgreich.

Doch ein paar Gedankenblitze drängten sich nun wieder in ihren Kopf. Wie gerne wäre sie früher Teil der Geschichte gewesen, in der Jesus die Kinder segnete. Gottes Sohn war damals in ihrem Herzen, geriet aber mit dem Verschwinden ihrer Eltern in Vergessenheit, zu viel Leid bereitete Elina die Erinnerung an ihre Liebsten. Und zu dieser Vergangenheit gehörten nun mal auch die Erzählungen aus der Bibel.

Gehorsam schlug sie nun den Psalm 91 auf, wie ihr geheißen worden war, und las langsam die Worte. Plötzlich sah sie ihre Mutter im Geiste, wie sie liebevoll diese tröstenden Worte zu ihren Töchtern sprach.

In der Erinnerung saß sie wieder auf Mamas Schoß und hörte sie mit ihrer liebevollen Stimme sagen: „Auch ich sage zu Gott, dem Herrn: Bei dir finde ich Zuflucht, du schützt mich wie eine Burg! Mein Gott, dir vertraue ich! Er bewahrt dich vor versteckten Gefahren und vor tödlicher Krankheit. Er wird dich behüten wie eine Henne, die ihre Küken unter die Flügel nimmt. Seine Treue schützt dich wie ein starker Schild.“

Elina fühlte sich, als ob ein Fluss aus Licht ihr Innerstes durchflutete. Sie spürte wieder die Liebe Gottes, die ihre Eltern sorgsam an sie weitergegeben hatten. Sie sah ihren Vater, der mit seinen beiden Töchtern betete und all ihre kleinen Probleme, die Kinder eben bewegten, ernst nahm. Ihr Vater hätte sie jetzt in den Arm genommen und sie ermahnt, den Worten des Psalms zu folgen. Es war ihr nun wieder klar: Gott war ihre Zuflucht, er beschützte sie und war immer treu an ihrer Seite. Wie konnte sie das nur vergessen? Die Antwort, die ihr in den Sinn kam, war fast zu leicht. Sie wusste nicht mehr, wie man mit Gott in Kontakt trat.

Elina weinte dicke Tränen über den Verlust ihres Glaubens, den Verlust ihrer Eltern und den Verlust von Laurenz. Wie sollte sie die erzwungene Einsamkeit ertragen? Bäche ergossen sich über Elinas Wangen und so ging es ihr mehrere Tage lang.

Die Arbeit im Friseurgeschäft wurde zur Qual, sie brauchte eigentlich Zeit zum Nachdenken, aber sie schaffte es, die Fassade aufrechtzuerhalten, wusch und schnitt Haare, föhnte, gab Tipps für das Stylen einer Frisur. Nur ihr aufgesetztes Lachen wirkte etwas eingefroren.

Erst als ein paar Tage vergangen waren, schaffte Elina es, den Computer einzuschalten, um darauf zwei E-Mails vorzufinden. Die erste Nachricht war von Laurenz.

Liebe Elina!

Tut mir leid, dass ich dich nicht geweckt habe, aber ich hätte es nicht ertragen können, noch einmal in deine wunderschönen grünen Augen zu sehen. Ich weiß, es sieht so aus, als wäre ich geflohen, und ja, irgendwie stimmt das auch. Ich brauche dich, kann aber nicht bei dir sein. Es zerreißt mir das Herz. Wenn du wüsstest, welchen Schmerz es mir alleine bereitet, dir diese paar Zeilen zu schreiben. Aber ich weiß nicht, wie ich es ändern soll. Ich hoffe, die Zeit heilt unsere Wunden.

Bitte melde dich! Ich muss wissen, wie es dir geht.

Dein Laurenz

Elina fing an zu schluchzen, so wie immer, wenn sie alleine war. Alles Leid weinte sie sich von der Seele, besonders die Nähe zu Laurenz vermisste sie. Die lieb gemeinten Worte in seinem Brief konnten sie nicht trösten. Ganz im Gegenteil, es ging ihr nur noch schlechter, weil sie wusste, wie sehr er litt. Sie sehnte sich in seine starken Arme zurück.

Elina versuchte sich zu beruhigen, atmete tief durch und wischte sich über die nassen Augen. Sie las die zweite E-Mail von ihrer Schwester Ruth.

Meine geliebte Schwester!

Was ist los mit dir? Warum meldest du dich nicht bei mir? Normalerweise erhalte ich alle paar Tage eine Nachricht und nun ... nichts! Kein Sterbenswörtchen! Geht es dir gut? Ich mache mir Sorgen um dich. Schreib sofort zurück! Das war ein Befehl! Ich ertrage es nicht, wenn ich nichts weiß von dir. Du kennst mich ja, ich fühle mich einfach verantwortlich für dich.

Bei mir haben sich ein paar Veränderungen ergeben. Ich wohne nicht mehr im Zentrum von Vancouver. Ich bin jetzt nach Victoria gezogen, das liegt auf Vancouver Island. Der Leiter des Regionalteils der Vancouver Times, bei der ich bekanntlich untergekommen bin, ist schwer erkrankt. Er war für die Berichterstattung aller Ereignisse auf der Insel zuständig. Nun mache ich seinen Job.

Stell dir vor, ich habe drei Mitarbeiter! Wir decken alles ab, was Vancouver Island zu bieten hat. Es gibt sogar eine Bibelschule auf der Insel.

Aber am aufregendsten finde ich, dass wir über jedes Geschehnis in Tofino berichten dürfen, an dessen Küste sich unzählige Meeressäuger tummeln. Du weißt doch, wie sehr ich Wale und Delfine liebe, die Bewohner hier tun das auch. Deshalb gehören Berichte über meine Lieblingstiere ab jetzt zum Tagesgeschäft. Ich kann dir gar nicht sagen, wie glücklich mich meine neue Aufgabe macht.

Bis bald! Ich bete für dich!

Deine Ruth, die dich sehr vermisst.

Elina rappelte sich auf, um ihre längst überfälligen Antworten zu schreiben. Sie tippte unter einem weiteren Strom von Tränen ein paar Worte an Laurenz, dass sie ihn ebenso vermisse. Was sollte sie sonst noch schreiben? Dass sie ein Häuflein Elend war? Nein, sie wollte es ihm und ihr selbst nicht noch schwerer machen. Nach einigen kurzen Zeilen drückte sie auf Senden. Im Nachhinein fiel ihr ein, er könnte durch ihre kühlen Worte gekränkt sein. Vielleicht machte es den Eindruck, es wäre ihr alles egal. So abgebrüht wollte sie nicht rüberkommen, aber jetzt war es zu spät, sie konnte es nicht mehr rückgängig machen.

Um ihren Ärger zu mindern, holte sie sich ein Glas Milch und setzte sich ein weiteres Mal an die Tastatur. In einem Zug trank sie alles leer, so hatte sie zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen, Durst und Hunger waren vorerst gestillt.

Die Zeilen an Ruth fielen ganz anders aus. Elina ließ ihrem Kummer freien Lauf und war danach etwas erleichtert, so sehr man in ihrer Situation erleichtert sein konnte. Ihre Schwester würde sie verstehen oder es zumindest versuchen. In weiser Voraussicht ließ sie den Rechner eingeschaltet. Sollte Ruth am Schirm sitzen, würde eine Antwort schnell folgen. Und sie sollte recht behalten. Kaum eine Stunde später hatte sie eine weitere E-Mail von Ruth. Die Sätze über deren Leben in Vancouver waren wie Balsam auf Elinas Seele. Es tat gut, kurz von Laurenz Winter abgelenkt zu sein, wenn auch nur für ein paar Minuten.

Elina!

Du hattest eine Affäre! Spinnst du? Kann man dich nicht alleine lassen? Was würden unsere Eltern dazu sagen? Denk doch mal nach, was das Ganze für Folgen haben kann. Bist du so einsam? Okay, Entschuldigung, ich sollte dir beistehen und dich nicht verurteilen. Ich benehme mich wieder einmal wie deine Ersatzmutter, was ich eigentlich ablegen wollte, schließlich bist du schon erwachsen. Aber es ist so tief in mir drin, dir immer noch den Weg weisen zu wollen.

Du hast geschrieben, dass Laurenz wieder in Los Angeles ist. Du arme Maus, ich hoffe, es macht dich nicht allzu fertig. Sag, wie geht es dir damit? Du bist sicher todunglücklich. Ich weiß, dass du das nicht hören möchtest, aber Gott lässt dich in deiner Trauer nicht alleine, er wird dich tragen, wenn du ihn lässt. Bete zu Jesus, Elina. Wenn ich etwas für dich tun kann in der Ferne, dann lass es mich wissen. Ich würde dir gerne ins Gesicht sehen, um dir das zu sagen, aber leider ist das gerade nicht möglich.

Meine Arbeit hat sich als sehr intensiv, aber durchaus aufregend erwiesen. Ich bin ständig unterwegs, um über die Geschehnisse in Vancouver Island zu recherchieren und sie in Zeitungsberichten wiederzugeben. Meine Mitarbeiter sind sehr begabt und flexibel, was die Zusammenarbeit sehr interessant und erfolgreich macht. Ich habe schon ein großes Lob aus Vancouver erhalten. Das macht mich sehr stolz.

Gestern war ich in Tofino, weil eine neue vielversprechende Walforschungsstation eröffnet hat. Dr. Peter Cetus leitet die Forschungen, ein überaus begabter und charmanter Mann, wie sich im Interview herausstellte. Er hat mir versprochen, dass ich regelmäßig Informationen über die Forschungsergebnisse erhalte. Stell dir vor, um wie viel leichter meine Arbeit dadurch wird, eine so verlässliche Quelle zu haben. Jetzt steht einer Kolumne über meine geliebten Meeressäuger nichts mehr im Weg.

Elina, ich bin so glücklich, nichts erinnert mich hier an unsere harte Vergangenheit. Nur du fehlst mir jeden Tag mehr.

Ich würde so gerne noch mehr schreiben, aber ich muss wieder einmal gehen. Die Arbeit ruft.

Gott segne dich.

Deine Ruth

Nach zwei tränenverhangenen Wochen, in denen Elina bei der Arbeit einfach funktionierte, um daheim weiterzutrauern, verdichteten sich ihre Gedanken in eine bestimmte Richtung. Sie hatte ihr Leben von vorne bis hinten durchleuchtet, alle ihre Entscheidungen überdacht und kam nun zu einem Entschluss. Nur einer konnte die Leere ihres Herzens wieder auffüllen: Jesus.

Sie hatte es die ganze Zeit gewusst, seit ihrer Kindheit, nur wollte sie es lange nicht wahrhaben. Gott würde ihren Schmerz lindern und mit ihr gehen, bis zum Schluss. Sie würde Laurenz noch lange nachtrauern, aber sie hatte nun einen Freund, der sie an der Hand nahm.

Erneut las sie den Psalm 91, diesmal mit mehr Hoffnung und Liebe, sie saugte die Worte auf wie ein Schwamm. Sie wollte das Erbe ihrer Eltern antreten, so wie Ruth es schon immer tat. Sie wollte ihr Leben mit Gott gehen und seinem Willen folgen. Sie war jetzt bereit, ihre Bestimmung anzunehmen. Elina versuchte sich zu erinnern, wie man mit Gott sprach. „Herr Jesus Christus, verzeih, dass ich nicht auf dich gehört habe, dass ich geglaubt habe, die Affäre mit Laurenz könnte das Loch in meinem Herzen kitten, das durch den Verlust meiner Eltern und meines Glaubens entstanden ist. Seitdem Ruth weg ist, fühle ich mich noch einsamer und Laurenz verstärkte dieses Gefühl im Endeffekt noch. Bitte vergib mir und zeig mir den richtigen Weg, erfülle mich wieder mit Liebe.“

Elina redete sich alles von der Seele und spürte wohligen Frieden in ihrem Herzen, diesen Frieden, der immer von Malak ausging, wenn er sie besuchte. Elina hatte sich mit Gott versöhnt.

Sie blickte auf und sah die sieben Engel vor sich stehen, irgendwie hatte sie das sogar erwartet. Dieses Mal erschrak sie nicht.

Malak grüßte sie und verkündete: „Elina, ich möchte dir etwas aus meiner Erinnerung zeigen.“

Sie sah in seine saphirblauen Augen, seine Berührung ließ sie erschauern, diese unbeschreibliche Liebe erfüllte sie, der ewige Friede des Herrn legte sich wie ein Mantel über sie. Plötzlich schossen Bilder durch ihren Kopf.

Sie sah Malak und seine Gefährten vor sich und hörte eine Stimme, die erfüllt von Sanftmut und großer Stärke sprach: „Malak, du wirst fallen, um eines meiner geliebten Kinder zu mir zurückzuholen. Ich stelle dir sechs Begleiter an die Seite, sieben Engel, die mir treu ergeben sind. Dein Opfer wird die Freude über das in unsere Gemeinschaft zurückgekehrte Kind ermöglichen, der Himmel wird jubeln. Mein Dank ist dir gewiss. Aber sei auf der Hut, es wird nicht leicht sein, Elina zu überzeugen. Doch ich habe Großes mit ihr vor, sie soll meine Worte und meine Liebe zu den verwaisten und vernachlässigten Jugendlichen Englands bringen. Sie werden sie ernst nehmen, da sie eine von ihnen ist. Der Weg dorthin braucht seine Zeit, es werden ihr einige Fehler unterlaufen, aber sie wird lernen, zu beten und um Verzeihung zu bitten, und ich werde sie ihr jedes Mal gewähren. Sie wird sich von mir trösten lassen. Sie wird wissen, dass ich ihr Hirte, ihr Lehrer und ihr Herr bin, damit sie meine Liebe spürt und mir vertraut. Malak, du und die anderen sechs werdet sie auf diesen Pfad führen und sie lenken. Du wirst in ihren Garten stürzen, doch dein Leid ist Teil meines Planes und ich werde dir in deinem Schmerz beistehen, ich werde dich heilen, damit Elina Stück für Stück in meine Nähe zurückkehrt. Wenn es an der Zeit ist, wirst du ihr dieses Gespräch zeigen. Danke, Malak, erfülle meinen Auftrag! Mein Segen sei mit euch!“

Plötzlich waren die Bilder verschwunden.

Elina versuchte klar zu denken. „War das Gottes Stimme?“

Der Engel nickte, obwohl sie die Antwort schon kannte. Sie konnte sie spüren.

„Warum kann ich Gott nicht sehen?“

„Es ist euch Menschen nicht bestimmt, zu Lebzeiten Gott zu sehen“, antwortete Malak. „Elina, dein Auftrag ist es, für die Jugendlichen Englands ein Lichtblick zu sein.“

„Aber wie?“, stammelte sie unsicher.

„Gott wird dich leiten und dir die richtigen Menschen zur Seite stellen. Er wird dir die richtigen Worte in den Mund legen. Habe Vertrauen! Auch wir werden uns wiedersehen. Bis bald!“

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Kapitel 8

Elina ärgerte sich über die defekte Kaffeemaschine. Trotz unprofessioneller Reparaturversuche, gutem Zureden und schließlich wütendem Gezeter wollte kein Tropfen der koffeinhaltigen Brühe in der Kanne landen. Sie gab auf, dann eben keinen Kaffee zur frühen Morgenstunde. Eine kalte Dusche würde hoffentlich einen ähnlich aufmunternden Effekt haben. Frustriert zog sie in Richtung Badezimmer ab. Bevor Elina zur Arbeit ging, checkte sie noch ihre E-Mails. Sie fand eine von Laurenz in ihrem Posteingang.

Liebe Elina!

Ich habe ein neues Filmprojekt begonnen, das mich den ganzen Tag und die halbe Nacht vereinnahmt. Ich hänge mich voll rein, um nicht ständig an dich denken zu müssen. Im Geiste bin ich immer noch bei dir unter der Weide.

Ich arbeite an einem Western mit dem Titel „The Son of the Sundown“, in dem ich eine wichtige Nebenrolle ergattert habe. Ich spiele den Sohn des Hauptdarstellers, der verzweifelt versucht, seinem Leben einen neuen Sinn zu geben. Sein bisheriges Dasein war gekennzeichnet von Gewalt, Mord und Diebstahl. Er möchte aber seinem Sohn etwas hinterlassen, wodurch er stolz an seinen Vater zurückdenken kann, wenn er einmal tot ist. Der Weg dahin ist lang und steinig. Mehr darf ich dir noch nicht verraten, aber vielleicht ist es besser, du siehst dir den Film später im Kino an. Dann sind wir wieder ein Stück weit verbunden.

Wenn ich meine Sache gut mache und in dieser Rolle brilliere, könnte dies mein Sprungbrett zur ersten Hauptrolle sein. Drück mir die Daumen, dass ich es nicht vergeige. Ich bin nun so nah dran, meinen Traum zu verwirklichen. Wie gerne würde ich diese glücklichen Stunden mit dir teilen.

Dein Laurenz

In Gedanken war sie bei ihm, aber etwas hatte sich verändert, der Schmerz war nicht mehr überwältigend. Das erste Mal hatte sie das Gefühl, sich auf dem Weg der Besserung zu befinden. Das Loch in ihrem Herzen schien von einer dünnen Haut überspannt zu sein, die hoffentlich nicht wieder aufriss, bevor die Wunden ganz verheilt waren. Elina wagte es, vorsichtig daran zu denken, dass die Narben, die irgendwann in ihrem Herzen verbleiben würden, erträglich sein konnten.

Nach einer raschen Antwort begab sie sich pünktlich in die Arbeit. Es war ein wunderschöner Septembertag, Elina schien aus ihrem Dämmerschlaf erwacht zu sein. Sie konnte wieder die Schönheit der Natur genießen, das satte Grün des Sommers fing an, dem Farbenkleid des Herbstes zu weichen. Das Gefühl von Sonnenwärme auf ihrer Haut war angenehm, sie begann wieder, die Welt um sich herum wahrzunehmen.

Elina sperrte den Laden auf, legte ihre Arbeitskleidung an und begann sauber zu machen. Sie hatte noch dreißig Minuten, bis die erste Kundschaft kam. Dann musste alles zur Zufriedenheit der verwöhnten Damen sein.

Heute war Elina dran, den Frühdienst zu machen, aber normalerweise war ihre Chefin Savina Cabello trotzdem schon im Geschäft, um ihr auf die Finger zu sehen. Sie gab ihr keinen Grund, misstrauisch zu sein, es entsprach vielmehr der Natur von Savina, alles kontrollieren zu müssen. Sie war der penibelste Mensch, den sie kannte, aber es störte sie nicht. Elina hatte nicht vor, schlampig zu arbeiten oder gar ihre Chefin zu hintergehen.

Elina machte sich Sorgen, Savina war normalerweise ganz und gar berechenbar, immer zur selben Zeit im Laden. Es war ihr doch nichts passiert? Das passte einfach nicht zu ihr, so spät zu kommen. Vielleicht war es auch nur ein Test, um zu sehen, ob die Mitarbeiterin ihre Sache alleine gut machte. Nein, ihre Chefin wusste, sie konnte sich auf sie verlassen.

„Es wird ihr etwas Unerwartetes dazwischengekommen sein“, beruhigte Elina sich selbst.

Gerade als sie den Satz zu Ende gedacht hatte, erschien Savina in der Tür. Verwirrt schaute sie Elina in die Augen, etwas Sonderbares, unerklärbar Eigenartiges lag in ihrem Blick.

Reflexartig wich die junge Frau ein paar Schritte zurück. „Savina, was ist los mit dir?“, fragte sie besorgt.

„Mein Lebenstraum erfüllt sich. Ich habe die Bestimmung meines Lebens gefunden“, flötete diese überschwänglich und tanzte ungestüm durch den Raum.

„Was redest du, ich dachte, dieser Frisiersalon sei die Erfüllung deiner Träume? Du hast doch so hart dafür gearbeitet und dir alles mühsam erspart.“

Elina musste zur Seite springen, ihre Chefin hätte sie sonst gerammt. Diese ignorierte den Einwurf ihrer Angestellten. Stattdessen kippte sie unachtsam einen Stuhl um.

Während Elina den Sessel wieder aufrichtete, sang Savina Cabello zu allem Überfluss auch noch eine Arie mit ihrer tiefen Stimme. Es hörte sich schrecklich an. Hoffentlich kam jetzt keine Kundin herein, die würde höchstwahrscheinlich an der Schwelle kehrtmachen und Reißaus nehmen.

Endlich hörte Savina mit dem entsetzlichen Hühnergeschrei auf und wandte sich an ihre M itarbeiterin. „Ach, Elina, ich hatte ja keine Ahnung, dass ich ein solches Talent habe, welches verborgen in mir schlummerte“, schwärmte sie in den höchsten Tönen, doch der Ausdruck in ihren Augen war eigenartig.

„Was redest du? Du meinst aber nicht diesen schrägen Gesang von eben? Hast du Alkohol getrunken?“, fragte Elina misstrauisch.

„Nein, ich bin nicht betrunken. Dass ich nicht singen kann, ist mir sehr wohl klar, das war nur ein Ausdruck meiner Freude. Nein, ich war gestern Abend bei einer Zaubershow. Zuerst wollte ich nicht hingehen, ließ mich dann aber doch von einer Bekannten dazu überreden. Gelangweilt und ohne große Erwartungen schaute ich auf die Bühne. Doch als der Vorhang aufging, stand er da, der schönste Mann auf dieser Welt, ein echter Wahrsager. Er verzauberte das ganze Publikum und ganz besonders mich, immer wieder sah er in meine Richtung. Er muss die Magie zwischen uns gespürt haben, denn er bat mich auf die Bühne. Er wusste Dinge aus meiner Vergangenheit, konnte meine Kindheit in Spanien detailgetreu wiedergeben und er sagte mir meine Zukunft voraus. Er flüsterte mir zu, wenn ich mehr wissen wolle, sollte ich nach der Show in sein Hotelzimmer kommen, ich sei etwas ganz Besonderes. Das könne er spüren und bei mir sei sein wissendes Gefühl so stark wie noch nie zuvor.“

„Der wollte dich doch nur reinlegen, ein falsches Spiel mit dir treiben. Das hört sich für mich an wie eine falsche Schlange, die dich zu Untaten verführen möchte. Du hast doch nicht etwa ...“ Elina blieb der Mund offen stehen.

„Wenn du so anfängst, sage ich gar nichts mehr. Ich bin doch nicht von gestern. Ich bin alt genug, um einschätzen zu können, wann etwas ernst und handfest ist und wann nicht. Seit wann hast du so wenig Vertrauen in mich?“ Savina funkelte sie böse an.

Ihre Chefin sollte auf jeden Fall weitererzählen, nur so konnte sie ungefähr einschätzen, was hier gespielt wurde. So rang Elina sich kleinlaut eine Entschuldigung ab, um mehr zu erfahren. Dieser Plan ging auf, auch wenn Savina der Groll über die Rüge noch anzumerken war.

„Du lässt mich jetzt erzählen ohne Unterbrechung. Ist das klar?“

Elina nickte brav. Doch genau in diesem Moment betrat die erste Kundschaft den Laden und die beiden mussten das Gespräch verschieben. Elina wusste, es war gar nicht gut, wenn ihre Chefin sich auf die Wahrsagerei einließ. Wenn sie doch nur mehr Informationen erhalten hätte, doch den ganzen Tag über ergab sich keine weitere Möglichkeit für ein Gespräch. Elina hatte zu wenig Ahnung von solchen Dingen und beschloss, ihre Schwester elektronisch um Rat zu fragen.

Am Abend setzte sie sich mit einer Tasse Tee und Salzgebäck zum Computer und vertraute Ruth ihre Befürchtungen an. Es dauerte etwa eine halbe Stunde, bis die Antwort folgte.

Liebe Elina!

Sag deiner Chefin, sie soll die Finger von der Wahrsagerei lassen. Es kann sehr unangenehm werden, wenn man sich mit den bösen Mächten einlässt. Da verbrennt sie sich gehörig die Finger. Punkt und aus, da gibt es keine Grauzone.

Aber was ganz anderes ... Elina, ich freue mich so sehr für dich! Du hast endlich deinen Glauben wiedergefunden. Meine Gebete wurden erhört. Halleluja! Aber nun sollten wir gemeinsam für Savina beten, dass sie keine Dummheiten begeht und sich nicht unnötig in Gefahr bringt. Vielleicht ist dieser Wahrsager nur ein harmloser Scharlatan, der mit Tricks arbeitet. Aber wenn du mich fragst, würde ich es nicht austesten und sofort die Notbremse ziehen. Mehr kann ich dir nicht dazu sagen.

Übrigens bin ich sehr erleichtert über deinen Gemütszustand, man merkt, es geht dir besser. Du machst dir sogar schon Sorgen um andere, was ich im Hinblick auf dich durchaus positiv bewerten kann. Auch wenn es mir für Miss Cabello unendlich leidtut.

Bei mir hat sich auch wieder einiges getan. Ach, könntest du nur hier sein. Mein Leben ist so aufregend, ich würde so gerne alles mit dir teilen.

Stell dir vor, ich durfte im Forscher-U-Boot von Dr. Peter Cetus mitfahren. Du kannst dir nicht vorstellen, wie viel Aufwand und Technik hinter einer solchen Unternehmung steckt. Und erst recht die Sicherheitsvorkehrungen, die getroffen werden müssen, sind für einen Laien kaum zu durchschauen. Als es dann endlich losging, war ich in meinem Element.

Es ist faszinierend, so dicht bei den Walen durch das Meerwasser zu tauchen. Es gibt nichts Schöneres auf dieser Welt. Diese Tiere sind grazil und anmutig, von ihnen geht so viel Ruhe aus. Auch wenn man deutlich spürt, welche Kraft ihnen innewohnt. Es war unbeschreiblich, ich weiß gar nicht, wie ich meinen Artikel beginnen soll. Ich könnte eine ganze Zeitung über die Thematik schreiben, so sehr beeindruckt mich die Arbeit der Walforscher.

Peter ist ein sehr charmanter Wissenschaftler, noch nie habe ich mich in der Nähe eines Mannes so wohlgefühlt. Es ist gar nicht leicht, in einem kleinen Unterseeboot den gebührenden Abstand zu wahren. Außerdem hatte ich das erste Mal in meinem Leben das Bedürfnis, genau das nicht zu tun. Stell dir das mal vor! Ich wollte ihn berühren, ich spielte mit dem Gedanken, mich an ihn zu kuscheln. (Was in einem kleinen Unterseeboot natürlich ebenfalls unmöglich wäre!) Als hätte ich meine gute Erziehung und meinen Anstand vergessen.

Du bist die Einzige, der ich das erzählen kann. Glaubst du, ich habe mich in ihn verliebt? Ich träume nachts davon, wie er mich liebevoll ansieht, sein Herz sich nach mir sehnt.

Ich glaube, seine Arbeit ist seine große Leidenschaft. Ich weiß nicht, ob jemand wie ich Platz in seinem Leben hätte. Ach, was spinne ich da vor mich hin? Ich werde mich in Acht nehmen, keine unüberlegten Schritte gehen, die ich anschließend bereuen werde. Ich habe Angst, mich in seiner Gegenwart zum Affen zu machen.

Elina, bitte bete für mich, damit Gott mir den Weg weist, den ich einschlagen soll. Ich hoffe, dass ich dich nicht überfordert habe mit meinen Träumereien. Normalerweise bin ich die nüchterne Realistin von uns beiden.

Ich vermisse dich.

Deine verwirrte Schwester Ruth

Das riss Elina fast vom Hocker. Ruth und verliebt? Ihre konservative Schwester zeigte ernsthaft Interesse an einem Mann? Das erste Mal seit Laurenz’ Verschwinden kam ihr ein echtes Lächeln über die Lippen.

Der kostenlose Auszug ist beendet.

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