Neuroanatomie

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Topographische Betrachtung des Nervensystems

Um alle Anteile an dem aus der knöchernen Schädelkalotte entnommenen Gehirn betrachten zu können, muss man es drehen und wenden. Der Einfachheit halber werden in der makroskopischen Anatomie verschiedene Blickwinkel (Ansichten) auf das Gehirn definiert. Ziel dieses Kapitels ist es, dass Sie einen topographischen und funktionellen Überblick hinsichtlich der Komponenten, vor allem des Zentralnervensystems, erhalten. Später werden wir, wo nötig, genauer auf die verschiedenen Strukturen eingehen.

Apikale Ansicht

Entnimmt man das Gehirn aus der schützenden Schädelkalotte und legt es vor sich auf den Tisch, sieht man eigentlich relativ wenig – vor allem sind dies Anteile des Großhirns (Abb. 2.4).


Abb. 2.4

Gehirn von oben

Gehirn aus dem Schädel entnommen; alle Hirnhäute entfernt

1Fissura logitudinalis cerebri

2Sulcus frontalis superior

3Sulcus praecentralis

4Sulcus centralis

5Sulcus postcentralis

6Sulcus cinguli

7Sulcus intraparietalis

8Sulcus parietooccipitalis

9Sulcus calcarinus

10Gyrus frontalis superior

11Gyrus frontalis medius

12Gyrus frontalis inferior

13Gyrus praecentralis

14Gyrus postcentralis

15Lobus parietalis superior

16Lobus parietalis inferior

17Gyri occipitales

Das Großhirn, auch Telencephalon genannt, ist zerfurcht wie eine Walnuss und wie diese in zwei Hälften geteilt (man spricht von Hemisphären). Die Vertiefungen nennt man Sulci, die Erhebungen Gyri. Gyri und Sulci sind Ausdruck der Entwicklung des Gehirns. Ganz ähnlich wie der Darm wirft das Gehirn (vor allem das Telencephalon und das Cerebellum) seine Oberfläche mit dem Zweck der Oberflächenvergrößerung in Falten. Somit können in einem gegebenen Raum, in diesem Fall der innerhalb der knöchernen Schädelkalotte, mehr Nervenzellen untergebracht werden.

Die Trennlinie beider Hemisphären heißt Fissura longitudinalis cerebri. Drängt man die beiden Hemisphären des Telencephalons mit dem Finger auseinander, erscheint in der Tiefe ein mächtiges Faserbündel, welches beide Hemisphären untereinander verbindet: der Balken (Corpus callosum, Abb. 2.5).


Abb. 2.5

Gehirn von oben

Hirnhäute vollständig entfernt; beide Hemisphären des Telencephalons sind auseinander gespreizt, um die Strukturen in der Fissura longitudinalis cerebri zu zeigen

1Gyrus praecentralis

2Sulcus centralis

3Gyrus postcentralis

4Lobus parietalis

5Lobus occipitalis

6Lobus frontalis

7Mantelkante

8Gyrus cinguli

9Corpus callosum, Truncus

10Corpus callosum, Splenium

11Cerebellum

Zwischen die beiden Hemisphären stülpt sich eine Duplikatur der harten Hirnhaut (Dura mater), die Falx cerebri genannt wird. Sie ragt somit in die Fissura longitudinalis cerebri hinein (siehe Kapitel 4 über Hirnhäute). Am entnommenen Gehirn ist die Falx cerebri normalerweise nicht zu sehen, da die Dura mater – und somit auch die Falx cerebri – meist bei der Hirnentnahme an der knöchernen Schädelinnenseite haften bleibt. Jede Hirnhälfte ist auf bestimmte Aufgaben spezialisiert: Links sitzen in der Regel die Sprache und Logik, rechts die Kreativität und der Orientierungssinn (dies trifft auf den Rechtshänder zu). Da die Hemisphären durch den Balken verbunden sind, wird klar, dass beide intensiv miteinander kommunizieren und interagieren. Das vordere Ende des Telencephalons nennt man Frontalpol (Polus frontalis), das entgegengesetzte hintere Ende nennt man Okzipitalpol (Polus occipitalis). Seitlich liegt der sogenannte Temporalpol (Polus temporalis).

Medio-sagittale Ansicht

Führt man ein scharfes Messer zwischen die beiden Hemisphären des Gehirns, zerteilt es und betrachtet es an der Schnittkante, so schaut man von medio-sagittal auf das Gehirn (Abb. 2.6).


Abb. 2.6

Medio-sagittal halbiertes Gehirn

Alle Hirnhäute entfernt; Hirnnerven nur teilweise erhalten

1Sulcus cinguli

2Gyrus frontalis superior

3Gyrus cinguli

4Sulcus corporis callosi

5Corpus callosum, Truncus, Anschnitt

6Septum pellucidum

7Corpus callosum, Genu, Anschnitt

8Corpus callosum, Rostrum, Anschnitt

9Area subcallosa

10Gyrus paraterminalis

11Gyrus rectus

12Nervus oculomotorius (N. III)

13Lobulus paracentralis

14Precuneus

15Sulcus parietooccipitalis

16Cuneus

17Corpus callosum, Splenium, Anschnitt

18Sulcus calcarinus

19Thamalus

20Tectum mesencephali mit Lamina quadrigenmina, Anschnitt

21Tegmentum mesencephali, Anschnitt

22Cerebellum, Vermis, Anschnitt

23Cerebellum, Lobus posterior

24Pons, Anschnitt

25Cerebellum, Tonsilla

26Medulla oblongata

27Medulla spinalis, Anschnitt

* Aquaeductus mesencephali

Als Sagittalebene (lat. sagitta – „Pfeil“) wird in der Anatomie eine sich vom Kopf zum Becken und vom Rücken zum Bauch erstreckende Ebene bezeichnet. Beim senkrechten Blick auf eine Sagittalebene sieht man demnach eine seitliche Ansicht des Körpers. Das dazugehörige Adjektiv heißt sagittal und entspricht der Bedeutung „von vorne nach hinten verlaufend“. In der Radiologie und besonders der tomographischen Bildgebung spielen Sagittalschnitte eine äußerst wichtige Rolle. In Abb. 2.6 wurde das Messer exakt mittig geführt, man spricht deswegen von einer medio-sagittalen Ansicht auf das Gehirn. In eben dieser medio-sagittalen Ansicht kann man die verschiedenen Anteile des Gehirns recht gut gegeneinander abgrenzen. Folgende Etagen können unterschieden werden (vergleiche auch mit Abb. 2.3): Medulla oblongata, Pons, Mesencephalon, Diencephalon und Telencephalon. Dorsal, unter dem Telencephalon liegt das Cerebellum. Auf die einzelnen Abschnitte wollen wir hier kurz eingehen, und so eine Grundlage für weitere neuroanatomische Betrachtungen legen.

Medulla oblongata – das verlängerte Mark

Dem Rückenmark (Medulla spinalis) schließt sich nach oben das verlängerte Mark (Medulla oblongata) an. Die Medulla oblongata ist somit der am weitesten kaudal gelegene Teil des Gehirns, der Übergang zum Rückenmark ist fließend. Gemeinhin wird zur Abgrenzung die Austrittsstelle des obersten Spinalnervenpaars herangezogen. Die kraniale (obere) Begrenzung der Medulla oblongata bildet die Brücke (lat. der Pons). In der Medulla oblongata befinden sich wichtige neuronale Zentren für die Kontrolle des Blutkreislaufs und der Atmung sowie Reflexzentren für den Nies-, Husten-, Schluck- und Saugreflex. Auch das Brechzentrum, die sogenannte Area postrema, ist hier angesiedelt. Darüber hinaus liegen in der Medulla oblongata Kerngebiete von Hirnnerven. Schließlich beherbergt die Medulla oblongata noch Nervenzellen, die für die Regulation des Säure-Basen-Haushalts wichtig sind. Ein vollständiger Ausfall der Medulla oblongata, z. B. durch ein Trauma oder einen Schlaganfall, führt in der Regel rasch zum Tod.*

Pons – die Brücke

Eine Etage über dem verlängerten Mark liegt die Brücke (Pons). Auch wenn im Deutschen die Brücke weiblich ist, ist das Geschlecht des lateinischen Begriffes „Pons“ maskulin. Man spricht also von „der Brücke“ aber „dem Pons“. Das Kleinhirn (Cerebellum) liegt dem Pons dorsal an. Kranial befindet sich das Mittelhirn (Mesencephalon). Die Brücke erscheint von vorne und seitlich wie ein Wulst (siehe Abb. 2.13). Dieser Wulst besteht aus einem breiten Band an Fasern, die – so schien es den alten Anatomen – die beiden Kleinhirnhemisphären direkt miteinander verbinden. Heute weiß man, dass dem nicht so ist – eine direkte Verbindung beider Kleinhirnanteile gibt es nicht. Vielmehr werden in der Brücke Fasern verschaltet, die aus dem motorischen Kortex stammen, sogenannte kortiko-pontine Fasern. Diese Fasern werden dann den beiden Kleinhirnhemisphären zugeleitet. Die Kerngebiete der Brücke bilden so eine wichtige Umschaltstelle zwischen Kleinhirn und Kortex. Die Brücke ist eine Fortsetzung der Medulla oblongata und ihr daher in Aufbau und Funktion sehr verwandt. Auch im Pons befinden sich Kerngebiete von Hirnnerven.

 

Mesencephalon – das Mittelhirn

Das Mittelhirn (Mesencephalon) liegt zwischen Pons und Zwischenhirn (Diencephalon). Es lässt sich von vorne nach hinten in drei Anteile gliedern. Von vorne sichtbar sind die Hirnschenkel (Crura cerebri). Sie beinhalten vor allem die zu Pons, Medulla oblongata und Rückenmark absteigenden Bahnen der Großhirnrinde. Weiter nach hinten schließt sich den Hirnschenkeln das Tegmentum (Haube) an. Im Tegmentum mesencephali liegen viele Kerne, die im Dienste der Motorik stehen. Beispiele sind der Nucleus ruber (roter Kern) und die Substantia nigra (schwarze Substanz). Letztere ist bekannt geworden durch ihre zentrale Relevanz bei der Entstehung des M. Parkinson. Darüber hinaus ziehen wichtige aufsteigende Fasersysteme durch diesen Teil des Mittelhirns, so zum Beispiel der Lemniscus medialis, der sensible Informationen aus dem Rückenmark in Richtung Thalamus und von dort weiter zum sensiblen Kortex (Gyrus postcentralis) leitet. Dorsal, also nach hinten, lagert sich dem Tegmentum des Mittelhirns eine „Wasserleitung“ an, der Aquaeductus mesencephali (Stern in Abb. 2.6). Diese Wasserleitung verbindet den dritten mit dem vierten Ventrikel des inneren Liquorsystems, einem mit Nervenwasser gefüllten Hohlraumsystems des Zentralnervensystems. Mit dem Aufbau dieses Liquorsystems befassen wir uns in Kapitel 4 dieses Lehrbuches. Noch vor dem Aquaeductus mesencephali liegen im Tegmentum des Mittelhirns die Kerngebiete des dritten Hirnnerven sowie ein Teil des Kernes des fünften Hirnnerven.

Blickt man von hinten auf das Mittelhirn, zeigen sich zwei mal zwei Hügel, zusammengefasst als Vierhügelplatte (Synonym: Lamina tecti oder auch Lamina quadrigemina). Sie bilden das Dach, das Tectum des Mittelhirns. Die oberen Hügel, die Colliculi superiores, erhalten über Sehnerv und Sehtrakt wichtige visuelle Informationen. Dabei geht es primär um Informationen über sich rasch ändernde Reize – also um Bewegung. Das könnte ein fahrendes Auto sein, dem wir mit den Augen folgen oder ein Ball, der auf unser Gesicht zufliegt, woraufhin wir reflexartig die Augen schließen. Entsprechend äußern sich auch die Ausfälle bei Schädigungen des oberen Hügels: Reflektorische Augenbewegungen sind dann erschwert, wobei weiterhin sämtliche optische Reize wahrgenommen und verarbeitet werden können. Die Colliculi inferiores, die unteren Hügel, dienen als Umschaltstelle für die meisten Fasern der Hörbahn. Da die unteren Hügel auch direkt Informationen an die oberen senden, wird hier eine reflexhafte Integration beider Sinnesmodalitäten möglich – wir blicken automatisch in die Richtung eines lauten Geräusches.

Merke

Oft haben Studenten Probleme sich zu merken, welche der Hügel im visuellen und welche im akustischen System eingebettet sind. Schauen Sie doch einfach ihren Sitznachbarn an. Die Augen stehen höher als die Ohren, demnach obere Hügel = visuelles System, untere Hügel = auditorisches System.

Truncus cerebri – der Hirnstamm

Mit der Medulla oblongata, dem Pons und dem Mesencephalon haben wir bereits drei wichtige Strukturen des Gehirns kennengelernt. Vergleicht man das Gehirn mit einem Baum, so würden diese drei Strukturen am ehesten dem Stamm des Baumes entsprechen, weiter oben gelegene Abschnitte, vor allem das Großhirn, entsprächen sodann den Ästen und den Blättern. Medulla oblongata, Pons und Mesencephalon werden deswegen in ihrer Gesamtheit auch als Hirnstamm (Truncus cerebri; Truncus encephali) bezeichnet. Entwicklungsgeschichtlich ist der Hirnstamm ein recht alter Teil des Gehirns, und so fallen die Unterschiede zwischen Mensch und Tier vergleichsweise gering aus. Oben schließen sich Zwischen- und Großhirn, nach hinten das Kleinhirn an.*

Cerebellum – das Kleinhirn

Hinten im Schädel, direkt unterhalb des Telencephalons und hinter dem Hirnstamm liegt das Kleinhirn (Cerebellum). Von außen sind seine beiden Hälften gut zu erkennen, die – wie die Hälften des Großhirns – als Hemisphären bezeichnet werden. Das Kleinhirn ist mit dem Hirnstamm auf jeder Seite mit je drei Kleinhirnstielen (Pedunculus cerebellaris inferior, medius und superior) verbunden, durch welche wichtige Faserverbindungen verlaufen (nur schwer zu sehen in Abb. 2.6 und 2.7). Nach oben und unten spannen sich zum Hirnstamm zwei dünne Strukturen aus, das obere und untere Marksegel (Velum medullare superius und inferius; angedeutet als gestrichelte Linie in 2.7). Diese sind im medio-sagittalem Schnitt besonders gut zu sehen.


Abb. 2.7

Cerebellum mit Hirnstamm, median halbiert

Alle Hirnhäute entfernt

1Lamina quadrigemina, Mesencephalon

2Substantia nigra, Mesencephalon

3Vierter Ventrikel

4Pons

5Folia cerebelli

6Plexus choroideus des vierten Ventrikels

7Medulla oblongata

Zwischen Kleinhirn und Hirnstamm liegt ein weiterer mit Liquor gefüllter Hohlraum des Gehirns, der vierte Ventrikel. Dessen vordere Begrenzung wird auch als Rautengrube (Fossa rhomboidea) bezeichnet. Strukturen, die den vierten Ventrikel mit seiner Rautengrube umgeben, nennt man Rhombencephalon (griech. „Rautenhirn“). Das Rhombencephalon setzt sich demnach aus Cerebellum, Pons und Medulla oblongata zusammen.

Obwohl das Kleinhirn nur etwa ein Sechstel vom Volumen des Telencephalons besitzt, beherbergt es weit mehr Neurone als das Großhirn. Um derart viele Nervenzellen auf so engem Raum unterbringen zu können, ist die Kleinhirnrinde, der äußere Mantel des Kleinhirns, stark gefaltet. Die dadurch entstehenden horizontalen Fältchen werden als Blätter (Folia cerebelli) bezeichnet. Wie wir bereits gesehen haben, weist auch das Großhirn solche Falten auf, nur werden sie dort Gyri genannt. Zerteilt man eine der Kleinhirnhemisphären längs (so wie in unserem medio-sagittalen Schnitt), präsentiert sich das Kleinhirn wie die Form eines Baumes. Die Anatomen bezeichnen dies als Lebensbaum, als Arbor vitae.

Aber was macht das Kleinhirn eigentlich? Als 1917 der englische Neurologe Gordon Holmes (1876–1965) Soldaten mit Kleinhirnverletzungen untersuchte, erkannte er: „Das Kleinhirn kann als ein Organ gesehen werden, das Bewegung unterstützt.“ Tatsächlich bestätigen bildgebende Verfahren mittlerweile, dass das Kleinhirn Bewegungen koordiniert und moduliert: Ob man die Kaffeetasse anhebt, Klavier oder Fußball spielt – das Kleinhirn greift überall modulierend ein. Zudem wird dem Kleinhirn neuerdings auch eine Rolle bei zahlreichen höheren kognitiven Prozessen zugeschrieben. Wir sehen, der Name und das geringe Volumen täuschen: Das Kleinhirn ist dem Großhirn in der Komplexität seiner Aufgaben und der Anzahl seiner Neuronen keineswegs unterlegen.6

Diencephalon – das Zwischenhirn

Das Diencephalon schließt sich nach oben dem Mesencephalon an. Es enthält unter anderem Umschaltstationen für aufsteigende sensible und motorische Bahnen sowie regulatorische Zentren für das vegetative und endokrine System. Im medio-sagittalen Schnitt kann man vom Diencephalon nur einige wenige Strukturen erkennen. Überhaupt ist es recht komplex aufgebaut und bereitet den Studierenden regelmäßig so seine lieben Probleme. Keine Angst, wir werden es im entsprechenden Kapitel detailliert besprechen. Hier beschränken wir uns auf einige allgemeine Anmerkungen zum Zwischenhirn: Das Diencephalon umschließt auf beiden Seiten den dritten Ventrikel, der genauso wie der vierte Ventrikel einen Teil der inneren Liquorräume darstellt. Bei der medio-sagittalen Schnittführung wird der dritte Ventrikel quasi halbiert, wir schauen deswegen in den Abbildungen 2.6 und 2.8 in das Lumen des dritten Ventrikels hinein. Viele der um den dritten Ventrikel liegenden Strukturen gehören zum Diencephalon.



Abb. 2.8

Diencephalon, mediale Ansicht

1Corpus callosum

2Fornix

3Adhaesio interthalamica

4Corpus pienale; Epiphyse

5Habenulae

6Lamina terminalis (eingerissen)

7Lage von Eminentia mediana und Tuber cinerum

8Infundibulum

9Lage der Hypophyse im intakten Präparat

* Commisura anterior

Nach hinten wird der Raum des dritten Ventrikels von der Epiphyse (Zirbeldrüse, Corpus pineale), die dem Diencephalon zugerechnet wird, begrenzt. Es handelt sich um eine Drüse, die Melatonin ausschüttet. Über die Epiphyse wird unter anderem die „innere Uhr“ gesteuert, also der zirkadiane Rhythmus. Sie ist dafür verantwortlich, dass wir entweder Langschläfer sind oder aber zu den Frühaufstehern gehören. Der Boden des dritten Ventrikels wird nach vorne hin von der Hypophyse gebildet, die mit dem Diencephalon über den Hypophysenstiel (Infundibulum) verbunden ist. Die Hypophyse selber ist in der Abbildung 2.8 nicht zu sehen, sie reißt bei der Herausnahme des Gehirns aus der Schädelkalotte für gewöhnlich vom Infundibulum ab. Zumindest der hintere Anteil der Hypophyse, der sogenannte Hypophysenhinterlappen, der auch als Neurohypophyse bezeichnet wird, ist Teil des Diencephalons. Die Neurohypophyse sezerniert die beiden Hormone ADH und Oxytocin Das ADH (antidiuretische Hormon) besitzt antidiuretische Wirkung, indem es die Wasserrückresorption in den distalen Tubuli sowie in den Sammelrohren der Niere fördert (siehe Lehrbücher der Physiologie und der Histologie). Dadurch geht dem Körper möglichst wenig Wasser verloren. Die vasopressorische Wirkung des ADH führt zur arteriellen Vasokonstriktion und damit zu einer Blutdruckerhöhung. Oxytocin wirkt direkt am Myometrium des Uterus. Hier führt das Hormon gegen Ende der Schwangerschaft sowie unter der Geburt zur Auslösung und Anpassung der Wehentätigkeit. Nach Ende der Schwangerschaft bewirkt die Ausschüttung von Oxytocin Kontraktionen der myoepithelialen Zellen in der Brustdrüse und regt damit die Milchsekretion beim Stillen an. Darüber hinaus scheint es die emotionale Bindung der Mutter an das Kind wesentlich zu stärken.7

Eine weitere markante Struktur, die in der medio-sagittalen Ansicht dem Diencephalon zugeordnet werden kann, ist das kleine Dach des dritten Ventrikels, der Fornix.

Der Begriff „Fornix“ stammt aus dem Lateinischen und bedeutet so viel wie „Wölbung“ bzw. „Gewölbe“. Der Fornix verläuft als mächtiger Faserzug am oberen Ende, am Dach des dritten Ventrikels. Er verbindet den Hippocampus mit dem Corpus mamillare (letzterer ist ebenfalls eine Struktur des Diencephalons, die in der gleich folgenden Basalansicht sehr gut zu sehen ist). Funktionell ist der Fornix an der Einspeicherung von Gedächtnisinhalten vom Kurzzeit- in das Langzeitgedächtnis beteiligt und spielt somit eine wichtige Rolle beim Lernen.

Nach oben und vorne wird der dritte Ventrikel vom Balken begrenzt. Der Balken gehört nicht mehr zum Diencephalon, sondern ist bereits ein Teil des Telencephalons. Wir haben ihn schon als prominentes Axonbündel kennengelernt, welches beide Hemisphären miteinander verbindet. Der dritte Ventrikel besitzt natürlich auch eine laterale Begrenzung. Diese wird von einer Struktur gebildet, die sich etwas gegen den dritten Ventrikel vorwölbt, dem sogenannten Thalamus. In Abb. 2.8 sehen wir vom Thalamus vor allem die sogenannte Adhaesio interthalamica. Hierbei handelt es sich um eine Art Überbrückung beider Thalami, die durch das Lumen des dritten Ventrikels zieht. In vielen Lehrbüchern wird der Thalamus als das „Tor des Bewusstseins“ bezeichnet. In der Tat werden so gut wie alle sensiblen Informationen noch einmal im Thalamus verschaltet, bevor Sie an entsprechende kortikale Gebiete weitergeleitet werden. Es handelt sich hierbei jedoch nicht um eine simple Weiterleitung von sensorischen und sensiblen Impulsen. Vielmehr entscheidet der Thalamus darüber, welche Informationen weitergeleitet und welche unterdrückt und uns somit nicht bewusst werden. Spannend aber ungeklärt bleibt die Frage, inwiefern bei Menschen mit besonderen Fähigkeiten (etwa Menschen mit photographischem Gedächtnis) der Thalamus gezielt gewisse Sinnesinformationen vermehrt an den Kortex weiterleitet. Wie wir noch sehen werden, leiten sich viele Teile des Diencephalons namentlich vom Thalamus ab, wie etwa Hypothalamus, Subthalamus, oder Epithalamus. Die Zirbeldrüse als einen Teil des Epithalamus haben wir bereits kennengelernt. Ebenso haben wir bereits einen Teil des Hypothalamus angesprochen, nämlich die Neurohypophyse. Funktionell handelt es sich beim Hypothalamus um einen Teil des Zwischenhirns, der als oberstes Regulationszentrum für alle vegetativen und endokrinen Vorgänge verantwortlich ist. Er steuert u. a. Kreislauf, Körpertemperatur, Sexualverhalten, Flüssigkeits- sowie Nahrungsaufnahme und macht demnach viel mehr als bloße ADH- und Oxytocin-Szernierung. Dazu aber später mehr.

 

Topographische Orientierung

Die Lage des Thalamus ist eigentlich recht einfach zu verstehen. In Abb. 2.8 blicken Sie in den rechten Teil des dritten Ventrikels hinein. Die seitliche Wand des dritten Ventrikels wird im Wesentlichen vom Thalamus gebildet. Sie blicken demnach auf die mediale Wand des rechten Thalamus. Vergleichen Sie hierzu auch Abb. 2.1. Suchen Sie dort den Thalamus als auch den dritten Ventrikel und verdeutlichen Sie sich deren Lage zueinander.

Telencephalon – das Großhirn

Dem Diencephalon schließt sich schlussendlich das obere Ende des Zentralnervensystems an, das Großhirn (Cerebrum) oder Endhirn (Telencephalon). Alle Anteile des Gehirns in Abbildung 2.6 oberhalb des Diencephalons werden also dem Telencephalon zugerechnet. Diesen „Endteil“ des Zentralnervensystems haben wir bereits in der apikalen Ansicht als zerklüftete Landschaft mit Erhebungen (Gyri) und Einsenkungen (Sulci) kennengelernt. Beim Großhirn handelt es sich zweifelsohne um den spannendsten Teil des Zentralnervensystems und noch immer sind nicht all seine Funktionen, vor allem beim Menschen, vollständig geklärt. Es ist verantwortlich für viele Denk- und Handlungsprozesse, die den Menschen von anderen Lebewesen unterscheidet. Das Großhirn ist durch den bereits erwähnten Interhemisphärenspalt (Fissura longitudinalis cerebri) in zwei Halbkugeln (Hemisphären) getrennt. Die Hemisphären können nach ihrer Lage in der knöchernen Schädelkalotte nochmals in je vier Lappen gegliedert werden (Abb. 2.9).

Da nicht alle Lappen des Großhirns in der medio-sagittalen Ansicht gut zu erkennen sind, ist in Abb. 2.9 zusätzlich noch eine schematische Ansicht von lateral gezeigt. Vorne liegt der Frontallappen (Lobus frontalis; gelb), dem sich von hinten der Parietallappen (Lobus parietalis; rot) anlagert. Gegenüber dem Frontallappen befindet sich der Okzipitallappen (Lobus occipitalis; blau). In der medio-sagittalen Sicht ist ein weiterer Lappen, der Temporallappen (Lobus temporalis; grün) nur teilweise zu sehen, er soll aber hier schon einmal erwähnt werden. Gleich oberhalb des Corpus callosum befindet sich der sogenannte Gyrus cinguli (Gürtelwindung; grau in Abb. 2.9) der von manchen Autoren als eigenständiger Lappen geführt wird. Er beeinflusst die Aufmerksamkeit und Konzentration, verarbeitet Schmerzen und reguliert Affekte. Ist er geschädigt, mangelt es den Patienten unter anderem an Antrieb: Sie erscheinen emotional abgestumpft und bewegen sich wenig.


Abb. 2.9

Die vier Lappen des Großhirns in medio-sagittaler und lateraler Ansicht

gelb: Lobus frontalis

rot: Lobus parietalis

blau: Lobus occipitalis

grün: Lobus temporalis

1Gyrus cinguli

2Sulcus parietooccipitalis

3Cuneus

4Sulcus calcarinus

5Gyrus praecentralis

6Gyrus postcentralis

7Sitz des motorischen Sprachzentrums; Broca-Zentrum

8Sitz des sensorischen Sprachzentrums; Wernicke-Zentrum

Die verschiedenen Gyri des Großhirns können, wie gerade exemplarisch für den Gyrus cinguli gezeigt, verschiedenen Funktionen zugeordnet werden. Die genauen Namen dieser Gyri sowie deren Funktion werden in den Kapiteln 11 und 12 über das motorische bzw. sensible System behandelt. Ein allgemeiner Überblick soll jedoch jetzt schon gegeben werden.

Lobus frontalis – der Frontallappen

Im Frontallappen liegen zum einen wichtige Zentren für höhere geistige Funktionen des Menschen, zum anderen auch motorische Areale. Manche bezeichnen den vorderen Anteil des Lobus frontalis als den Regisseur des Zentralnervensystems, als Träger unserer Kultur und überhäufen ihn mit weiteren Superlativen. Und tatsächlich, obwohl große Bereiche des Frontallappens motorische Aufgaben haben, wird dessen vorderster Bereich, der präfrontale Kortex, immer wieder im Zusammenhang mit Aufmerksamkeit, Nachdenken, Entscheidung und Planung genannt. Außerdem gilt er als Sitz der Persönlichkeit. Diese intellektuellen Funktionen des Frontallappens finden sich vor allem in Richtung Stirn. Die Bedeutung des Frontallappens für die Bildung der Persönlichkeit wird eindrucksvoll durch das Schicksal des Phineas Gage demonstriert.

Der Fall Phineas Gage

Der 25-jährige Vorarbeiter Phineas Gage ist ein Routinier in Sprengungen. Die Bohrlöcher entlang der geplanten Eisenbahntrasse im US-Bundesstaat Vermont füllt er mit Schießpulver und verschließt sie danach mit Sand, welchen er mithilfe eines sieben Kilo schweren und drei Zentimeter dicken Eisenstocks feststampft. Eigentlich kann nichts schiefgehen. Am 13. September 1848 aber vergisst Gage den Sand und schlägt mit seinem „Ladestock“ direkt auf das Pulver. Er schrappt am Stein vorbei; Funken sprühen und die Explosion treibt die Stange komplett durch Gages Kopf. Die über einen Meter lange Stange tritt in der Höhe des Auges durch den Wangenknochen ein und tritt schlussendlich am Hinterkopf wieder heraus. Eigentlich müsste Gage tot sein, doch er ist nur kurz bewusstlos. Dann steht er eigenständig auf und fährt mit einem Ochsenkarren in seine Unterkunft. „Doktor, hier gibt es ordentlich was zu tun für Sie“, begrüßt er den herbeigeeilten Arzt John D. Harlow.

Dr. Harlow leistet ausgezeichnete Arbeit. Trotz der offenen Verletzung in Schädel und Gehirn überlebt Gage den unglücklichen Unfall. Äußerlich fehlt ihm fortan nur ein Auge, aber sein Verhalten verändert sich schlagartig. Zwar spricht er weiterhin normal und erinnert sich an alles, was mit ihm passiert ist. Auch sein Intellekt scheint unverändert. Als Vorarbeiter, der er war, ist er jedoch nach dem Unfall nicht mehr einsetzbar. Der einstmals zuverlässige Mann kann sein Leben nicht mehr organisieren. Und seine ehemals höfliche und freundliche Art ist blankem Jähzorn und Respektlosigkeit gewichen. Durch seine merkwürdige Persönlichkeitsveränderung wird Gage zu einem Anschauungsobjekt der relativ neuen Hirnforschung. Sein Retter John D. Harlow macht 1868 die Verletzung des Frontalhirns dafür verantwortlich: „Die Eisenstange zerstörte die Regionen von Mitgefühl und Autoritätsgefühl, nun beherrschen animalische Leidenschaften seinen Charakter“, urteilt der Arzt – eine gewagte These in einer Gesellschaft, nach deren Glauben jeder Mensch von Gott auf die ihm einzigartige Art und Weise geschaffen worden ist. Dass ausgerechtet das Sozialverhalten durch einen Unfall in Mitleidenschaft gezogen werden kann, verstört die Zeitgenossen. Heute ist die Vorstellung, dass bestimmte Regionen im Gehirn für bestimmte Funktionen zuständig sind, allgemein akzeptiert.*

Am hinteren Ende des Frontallappens findet sich der primär motorische Kortex (der Gyrus praecentralis, Motokortex, Abb. 2.9), der maßgeblichen Anteil an der willentlichen Bewegung hat. Er steht also im Dienste der Somatomotorik. Im basalen Anteil des Frontallappens, genauer gesagt im Gyrus frontalis inferior, befindet sich das Broca-Areal bzw. Broca-Zentrum. Hier ist der Sitz des motorischen Sprachzentrums, also des Gehirnanteils, der die Muskeln zur Aussprache eines Wortes ansteuert und koordiniert. Eine Schädigung des Gehirns im Broca-Areal, nicht selten bei einem Schlaganfall zu beobachten, führt zu einer einer motorischen Aphasie, d. h.einer erworbenen Sprachstörung, bei der aber das Sprachverständnis weitgehend intakt bleibt. Für das Sprachverständnis ist eine Region am Übergang des Temporal- in den Parietallappens zuständig (Wernicke-Zentrum; siehe unten). Hier soll schon einmal erwähnt werden, dass sich das Broca-Zentrum genauso wie das Wernicke-Zentrum nur in der dominanten Hemisphäre befindet. Diese ist beim Rechtshänder in aller Regel links.

Lobus parietalis – der Scheitellappen

Der Parietallappen beginnt unmittelbar hinter dem motorischen Gyrus praecentralis mit einem Gyrus postcentralis. Der Parietallapen (Scheitellappen) liegt somit hinter dem Frontallappen und ist von diesem durch die Zentralfurche, den Sulcus centralis getrennt. Der Gyrus postcentralis gehört funktionell zum somato-sensiblen System, empfängt also bewusste Sinneseindrücke wie Schmerz, Druck, Vibration, Temperatur etc. Bezogen auf unser weiter oben bereits erwähntes Beispiel mit dem Fußballspieler wird der Gyrus postcentralis bei einem Foul aktiviert und erlaubt es dem Gefoulten, Aussagen über Intensität und Lokalisation einer möglichen Verletzung treffen zu können. Läsionen im Gyrus postcentralis führen demzufolge zu einer eingeschränkten Empfindungsfähigkeit des repräsentierten Körperteils. Das betrifft Berührung, Druck und Temperatur, weniger jedoch den Schmerz. Der Parietallappen geht nach hinten in den Lobus occipitalis über, die Grenze bildet der Sulcus parietooccipitalis. Diese Grenze zwischen Parietal- und Okzipitallappen ist in der medio-sagittalen Sichtweise besonders deutlich zu identifizieren. Es bietet sich also an, in der praktischen Prüfung in eben dieser Sichtweise auf das Gehirn den Übergang von Parietal- in Okzipitallappen zu demonstrieren.

Alle weiteren Bereiche des Parietallappens, die nicht dem Gyrus postcentralis entsprechen, haben eine eher integrative Funktion. Diese abstrakte Formulierung ist eigentlich leicht zu verstehen. Stellen Sie sich vor, vor Ihnen auf dem Tisch liegen zwei Gegenstände: ein Tennisball und ein Tischtennisball. Beide Gegenstände sind in ihrem Aussehen relativ ähnlich, trotzdem sind Sie dazu in der Lage, auch mit geschlossenen Augen herauszufinden, welches der Tischtennisball und welches der Tennisball ist. Sie wissen, dass ein Tischtennisball viel kleiner als ein Tennisball ist, weil sie es gelernt haben. Darüber hinaus hat der Tischtennisball eine glatte Oberfläche, wohingegen der Tennisball eine raue-filzige Oberfläche aufweist. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass der Tischtennisball um etliches leichter ist. Der Gyrus postcentralis sammelt die gesamten sensiblen Informationen, die für die Zuordnung verschiedener Gegenstände in diesem Beispiel verantwortlich sind. Mit den Fingerkuppen erfühlen sie die Oberflächenbeschaffenheit beider Bälle, über entsprechende Rezeptoren in den Muskeln und Gelenken können Sie das Gewicht der Bälle abschätzen (zumindest können Sie entscheiden, welcher Ball der leichtere und welcher der schwerere ist). All diese Informationen, isoliert für sich, helfen Ihnen nicht allzu sehr weiter: Sie müssen in einem nächsten Schritt in andere Informationen „integriert“ werden. Erst ein Abgleich mit dem, was sie bereits über kugelige Strukturen (in unserem Beispiel Bälle) gelernt haben, erlaubt es Ihnen zu entscheiden, welches der Tischtennisball und welches der Tennisball ist. Sie sehen, dass diese auf den ersten Blick recht simple Gehirnfunktion die Interaktion ganz verschiedener Gehirnareale erfordert. Genau diese Interaktion zwischen Sinneseindrücken und Gelerntem werden von weiten Teilen des Lobus parietalis vermittelt.