Transkulturalität - Prozesse und Perspektiven

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Die Beantwortung der Frage, was KulturKultur ist, kommt nicht ohne den expliziten Hinweis darauf aus, dass die Antwort davon abhängt, in welchem weiter gespannten historischen Kontext diese Frage gestellt wird. Diesbezüglich verweisen HistorikerInnen darauf, dass einerseits die Geschichte der Nationen, Nationalstaaten und des nation-building von besonderer Relevanz ist und andererseits die MigrationMigrationMigrationArbeits-, Bildungs-, Heirats-, Pendel-, die die Spannung von ‚eigen’ und ‚fremd’, ‚wir’ und ‚die Anderen’ zu grundsätzlichen Fragen der staatlichen Ordnung im NationalstaatNationalstaat werden lässt. Wenn die Französische RevolutionFranzösische Revolution mit ihrer Menschenrechtserklärung von 1789 und der Verfassung von 1791 die ungehinderte, freie Zirkulation zum individuellen Grundrecht erhob, setzten die Nationalstaaten im späteren 19. Jahrhundert ihr Interesse an der IdentifikationIdentifikation der eigenen und der anderen Bürger durch.

Die Konsequenzen für Migranten bestanden fortan in einem neuartigen Anpassungsdruck in der Aufnahmegesellschaft. Permanentes, institutionell erfaßtes Fremdsein (Polizei, Paßwesen, Aufenthaltsgenehmigungen, Ein- und Ausreiseregelungen, Bedingungen für den Erhalt der StaatsbürgerschaftStaatsbürgerschaft …) oder („rückstandslose“?) Aufnahme und Assimilation durch Wechsel der Staatsbürgerschaft und -angehörigkeit stellten sich fortan als Alternative dar. […] Nachdem sich in der Frühen Neuzeit bis ins 18. Jahrhundert die ständischen und sozialen Schranken als wirksamer erwiesen haben als Wanderungsbeschränkungen zwischen Territorien, war die nächste Phase, die bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts reicht, von der Sorge um die Loyalität zur NationNation gekennzeichnet. Staatliche Migrationspolitik versuchte durch Definition der Staatsbürgerschaft und des Ausländerstatus eine klare GrenzeGrenze(n) zu ziehen – sei es über die Abstammung, sei es über das Bekenntnis zu den grundlegenden politischen Werten des Staatswesens. (Middell/Middell 1998, 19f.)

Es zeigt sich fortan, dass sich das Staatsbürgerrecht und das Asylrecht nicht mehr als geeignete Instrumente der Steuerung von MigrationMigrationMigrationArbeits-, Bildungs-, Heirats-, Pendel- erweisen; in dieser Situation stellt die KulturKultur ein neues Ordnungsraster dar.

Indem nicht mehr das Argument der Loyalität zur NationNation im Vordergrund steht, sondern Möglichkeiten und GrenzenGrenze(n) der kulturellen IntegrationIntegration, werden auch andere räumliche Maßstabsebenen (Stadtteil, Stadt, Dorf, Region…) in die Diskussion einbezogen. […] Es tritt – faktisch in Form einer Verschärfung durch ein scheinbar altes Konzept – die Idee der kulturellen Zugehörigkeit hinzu. [….] In der Idee der kulturellen Differenz lassen sich dagegen die gewünschten Schranken scheinbar effektiver ziehen. (ebd. 21f.)

Die UNESCOUNESCO als suprastaatliche Agentur greift mit der Deklaration von Mexiko 1982 genau an diesem Punkt in die Diskussion ein. Zwar noch dem „nationalen Paradigma“ verhaftet, strebt sie eine weltweite Konsultation ihrer Mitgliedsstaaten zu KulturKultur und KulturpolitikKulturpolitik an und lässt auf diese Weise erahnen, dass ein global zu veranschlagendes „kulturelles Paradigma“ auf dem Vormarsch ist. Ihre moralische LegitimationLegitimation bezieht die damit beförderte Aufwertung der Kultur zu einem Regulativ nicht nur der staatlichen PolitikPolitikKultur-, Sprachpolitik, Sozial-, sondern auch der internationalen Beziehungen, aus den Völkermorden der ShoaShoa, in Kambodscha und in RuandaRuanda, aus den Pogromen, Verfolgungen und Vertreibungen religiöser und anderer MinderheitenMinderheiten, aber auch aus der Bedrohung und Vernichtung indigeneindigener Völker im Zuge wirtschaftlicher Ausbeutung von Naturressourcen und politischer Unterdrückung. In ihrer Verlängerung geht es heute gesellschaftspolitisch – mehr denn je – darum, die Widersprüchlichkeiten und Konflikte der globalen Gesellschaft als Widerstreit von Kulturalisierungsregimes (vgl. Abschnitt 2.6) zu erkennen.

Wie sich anhand der bisherigen Argumentation zeigt, läuft die Beantwortung der Frage, was KulturKultur ist, auf ein Verständnis zu, dass Kultur als einen Prozess der AushandlungAushandlung von Bedeutung versteht. Es schließt damit an vorwiegend in SoziologieSoziologie und EthnologieEthnologie geführte Diskussionen (hier vor allem Wimmer 1996, 2005, Lentz 2009) an und berücksichtigt zudem die oben ausgeführten Kritikpunkte am Kulturbegriff der UNESCOUNESCO von 1982. Wenn also „Kultur(en) nicht durch einen festen, von allen Mitgliedern geteilten Kanon an Weltbildern, Normen und Praktiken [zu] definieren“ (Lentz 2009, 319) sind, was sind dann die zentralen Aspekte des hier zu veranschlagenden Kulturbegriffs?

Wimmer (1996) ist zu folgen, wenn er KulturKultur als einen „offenen und instabilen Prozeß des Aushandelns von Bedeutungen“ (ebd., 407) definiert, für den drei eng miteinander verwobene Aspekte bezeichnend sind:

Erstens „die verinnerlichte KulturKultur eines Individuums“, die sich im Anschluss an Bourdieus Konzept des ‚HabitusHabitus‘ ausdrückt und als Voraussetzung den AushandlungsprozessAushandlungsprozess ermöglicht. Hier zeigt sich das sozial konstruierte Kulturelle auf der individuellen und kognitiven Ebene (vgl. ebd., 407, 413).

Zweitens nennt Wimmer die „allgemeinen verbindlichen Vorstellungen über die Beschaffenheit der Welt, also das Resultat dieses Prozesses“ (ebd. 407). Hierbei geht es auf der kollektiven und symbolischen Ebene „um die Vorstellungen über die Beschaffenheit der sozialen Welt, über Recht und Unrecht, Heiliges und Profanes, also die kollektiven Repräsentationen“, die von den Akteuren verhandelt werden und die auf die Findung eines Kompromisses zulaufen. Ein „kultureller Kompromiß stellt sich ein, wenn alle in einer Arena aufeinander bezogenen Akteure ihre langfristigen Interessen in der gemeinsamen Symbolik formulieren können“ (ebd., 413).

Der dritte Aspekt besteht in „jene[n] kulturellen Praktiken, welche die GrenzenGrenze(n) der sozialen Gruppen markieren, innerhalb derer der Aushandlungsprozeß stattfindet“ (ebd., 407). Hierbei geht es um jene Akteure, die an diesem AushandlungsprozessAushandlungsprozess beteiligt sind, aber auch um jene anderen, welche außerhalb seines Geltungsbereichs stehen, die in einem „Prozeß der sozialen SchließungSchließungProzess der sozialen –“13 mit Praktiken der DistinktionDistinktion, der Differenz ausgegrenzt werden.

Lentz (2009, 320) sieht den Vorzug dieses Ansatzes darin, „dass er die Probleme der inneren Variabilität und der MachtMacht, -verhältnissegebundenheit von KulturKultur sowie des kulturellen Wandels zu thematisieren erlaubt. Er ermöglicht auch, die Kulturdiskurse und Abgrenzungsstrategien der Akteure selbst zu thematisieren, ohne ihren Essentialisierungen zu folgen […]“. Allerdings würde „die ‚Aushandlungs‘-Metapher eine ausgeprägte Verbalisierungsfähigkeit und Strategiegeleitetheit gesellschaftlicher Gruppen“ (ebd.) unterstellen, was der Bedeutung nicht verbalisierter Routinen, die Bourdieus Habitusbegriff impliziert, widerspricht.

Problematisch an Wimmers Kulturbegriff erscheint mir, dass er ohne jeden Rekurs auf die ökonomischen Verhältnisse und auf Fragen der sozialen UngleichheitUngleichheitsoziale auszukommen versucht, er somit kapituliert vor der „kommerziellen Kulturindustrie mit ihren transnationalen Kapitalverflechtungen und massenhaft verbreiteten Kulturwaren und ihrer im Selbstlauf fast übermächtig sich geltend machenden Tendenz, den Konsum dieser Waren zum Inhalt von ‚KulturKultur‘ zu machen“ (Haug 2011, 147). Darauf wird in Abschnitt 2.7 noch einzugehen sein. Auch die politische Dimension des Kulturellen erhält auf diese Weise nur wenig Kontur. Dazu sei nochmals auf Haug verwiesen:

Dass man sich daher nicht nur vom StaatStaat, sondern vor allem auch von der Kulturindustrie, ganz zu schweigen von der Warenästhetik, ‚abstoßen‘ muss, um die Dimension kultureller Handlungsfähigkeit freizulegen, gibt einen Hinweis auf das Politikum des Kulturellen, das diesen Namen vom Standpunkt der Gesellschaft verdient. Keine der Gruppen und Bewegungen vermag sich allein zu befreien. In dem Maße aber, in dem die alternativen Kulturinitiativen sich vernetzen, ihren Zusammenhang selber gestalten, entwickelt sich ihre PolitikPolitikKultur-, Sprachpolitik, Sozial- des Kulturellen. (ebd.)

Weitergehend stellt sich die Frage, wie der von Wimmer im Anschluss an Michel Foucaults DiskurstheorieDiskurstheorie formulierte Kulturbegriff auf materielle Kulturgüter, Werkzeuge, Bücher, Computer und anderes mehr zu beziehen ist, die sich zumindest auf den ersten Blick mit der Kurzformel „AushandlungAushandlung von Bedeutung“ nicht angemessen erfassen lassen. In diese Aufzählung gehört auch der in Kapitel 1 diskutierte Frankfurter Hauptbahnhof, der – neben dem Singen einer Hymne oder der Veranstaltung eines Stadtteilfestes – als ein kulturelles Artefakt eingeführt wurde. Es bleibt folglich zu klären, ob sich Wimmers Kulturbegriff auch auf diesen Bereich materieller Produkte und Produktion beziehen lässt.

Ein Zugriff ergibt sich, wenn materielle Güter dann als Kulturgüter verstanden werden, wenn sie Symbole für Interaktionsbeziehungen darstellen, denen über einen Wert (im ökonomischen Sinne als Gebrauchswert oder Tauschwert) hinaus auch Werte im ethischen, ästhetischen, kultischen und weitergespannt im ideologischen oder funktionalen Sinne zugeschrieben und sie Gegenstand von AushandlungAushandlung werden. In dieser Hinsicht lässt sich ein Bogen von der Errichtung des Hauptbahnhofs in Frankfurt am MainFrankfurt am Main am Ende des 19. Jahrhunderts zum Umbau des Hauptbahnhofs in Stuttgart und das Projekt „Stuttgart 21“ schlagen. Für die Verkehrs- und Infrastrukturgeschichte des Stuttgarter Bahnhofs ließe sich in mancher Hinsicht Ähnliches sagen wie für den Frankfurter Hauptbahnhof, wenn er auch baugeschichtlich aus einer anderen Zeit – vor dem Ersten WeltkriegWeltkriegErster geplant und kurz nach diesem Krieg errichtet – stammt. Mit den vielschichtigen Konflikten um das Projekt „Stuttgart 21“ zum Umbau des Bahnhofs lässt sich sehr anschaulich illustrieren, wie ein materielles Gut zum Symbol für eine bis dahin nicht gekannte soziale MobilisierungMobilisierung und Protestbewegung wird. Dass dieser Bahnhof im Leben vieler Menschen von Bedeutung ist, dass das Unternehmen der Bahn ihm seinerseits eine milliardenschwere Bedeutung innerhalb seiner Modernisierungsstrategie beimisst, dass die Stadt und das Land und die Immobilienbranche jeweils für sich mit dem Umbau bestimmte Bedeutungen verbinden, all das erinnert an die Metapher der Arena, in der sich die Akteure begegnen, um die Bedeutung des Projekts zu verhandeln und um Kompromisse zu erringen.

 

2.4 Bi-, Multi-, InterkulturalitätInterkulturalität als Konzepte des Konfliktmanagements

KulturKultur und Kulturen als Gegenstand von KonfliktmanagementKonfliktmanagement – wenn die zweite Weltkonferenz der UNESCOWeltkonferenz der UNESCO zur KulturpolitikKulturpolitik (1982) dieses Problemfeld aufgreift und zum Gegenstand eines staatenübergreifenden Konsultationsprozesses erklärt, so können, wie am Ende von Abschnitt 2.2 bereits eingeführt, mit BelgienBelgien und KanadaKanada/Canada zwei konkrete Fälle des Managements kultureller KonfliktKonflikte genannt werden. Die Ausarbeitung des Prinzips der BikulturalitätBikulturalismus, Bikulturalität stellt in beiden Staaten eine Strategie zur Herstellung des sozialen Friedens dar. Die Anerkennung der bikulturellen Verfassung dieser Gesellschaften und die Einführung der offiziellen ZweisprachigkeitMehrsprachigkeit sind hierbei die entscheidenden Konzepte staatlichen und zivilgesellschaftlichen Handelns. Das 1968 in Kanada beschlossene Prinzip der Bikulturalität und des Bilinguismus gerät allerdings schon bald auf neue Weise in die Kritik, als der damalige Premierminister Pierre Elliott Trudeau1 1971 den MultikulturalismusMultikulturalismus zum neuen Prinzip der Staatspolitik erklärt. Dieses Ereignis etwas genauer unter die Lupe zu nehmen, verspricht, Einsichten über den Sitz von Kultur im politischen HandelnHandelnpolitisches – von Staaten zu erlangen und gleichzeitig einige der Szenarien des Konfliktmanagements zu erkennen, die den Prozess des nation-building (Anderson 1983, Gellner 1995, 1996) ausmachen.

Das heutige KanadaKanada/Canada wurde vor gut 150 Jahren von der britischen Kolonialmacht gegründet und existiert als StaatStaat damit ähnlich lange wie ItalienItalien, 1861, oder DeutschlandDeutschland, 1871 gegründet. Damals, im Jahr 1867, hatte es noch nicht in die Ausdehnung von heute, sondern umfasste zunächst nur die beiden Provinzen OntarioOntario und QuébecSchulbücher, QuébecQuébec/Quebec. In den folgenden Jahren und Jahrzehnten wurden mit der sukzessiven Eroberung und Erschließung des Kontinents im Westen, Osten und Norden weitere Provinzen und Territorien gegründet und an Kanada angeschlossen. Die kanadische Föderation umfasst heute 10 Provinzen sowie drei Territorien, welche sich über den gesamten kanadischen Norden erstrecken. Die britische Kolonialmacht, die am Ende des Siebenjährigen Kriegs (1756-1763)2 gegen den Dauerrivalen FrankreichFrankreich siegreich war, zwang 1763 König Louis XV. im Frieden von Paris zur Abtretung seiner nordamerikanischen Besitzungen. Nach etwas mehr als 150 Jahren endete damit die Geschichte der seit 1608 expandierenden Kolonie von Neu-FrankreichNeu-Frankreich/la Nouvelle-Fance (la Nouvelle-France), nicht aber die ihrer französisch(sprachig)en Bevölkerung. Seit 1763 ist Kanada Teil des britischen Kolonialreichs und bis heute Mitglied des CommonwealthCommonwealth.3 Erst 1982 entlässt GroßbritannienGroßbritannien Kanada in die (weitgehende) Unabhängigkeit. Intern sind die Verhältnisse jedoch um einiges komplizierter.

Demografisch, wirtschaftlich und kulturell dominiert die anglophone Bevölkerung englischer, irischer, schottischer und auch amerikanischer Herkunft von zumeist protestantischer Konfession. In QuébecSchulbücher, QuébecQuébec/Quebec, wie auch in allen übrigen Provinzen, leben die Nachfahren der einstigen französischen Kolonisten, die frankophon und konfessionell dem Katholizismus4 verbunden sind, als Minderheiten. Heute stellen sie mit ca. 21 % der 35 Mio. Einwohner (2016) die größte sprachliche MinderheitMinderheitanglophone – , frankophone –, indigene – Kanadas dar.5 Traditionell, in der Fluchtlinie des KolonialismusKolonialismus, definieren sich diese beiden Bevölkerungsgruppen – Anglophone und Frankophone – aIs die „Gründernationen“ Kanadas, während die kanadischen UreinwohnerUreinwohner, die InuitInuit und die zahlreichen amerindianischen Völker, die längste Zeit der Kolonialgeschichte von aller politischen Partizipation ausgeschlossen waren. Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts – es ist die Zeit der wirtschaftlichen und infrastrukturellen Erschließung vor allem der großen Prärien und des Westens – kommen viele europäische ImmigrantInnen ins Land: aus DeutschlandDeutschland, Griechenland, ItalienItalien, PolenPolen, PortugalPortugal, aus den BalkanstaatenBalkanstaaten und der UkraineUkraine, in Westkanada hingegen mehrheitlich aus ChinaChina. Viele der ImmigrantInnen, vor allem die aus der Ukraine, sind am Bau der transkanadischen Eisenbahn durch die Prärien und die Rocky Mountains beteiligt. Nach dem Zweiten WeltkriegWeltkriegZweiter und besonders nach 1970 diversifiziert sich die Immigration erheblich. KanadaKanada/Canada wird zum Zielland für ImmigrantInnen aus der KaribikKaribik, vor allem aus HaitiHaiti, aus Mittel- und SüdamerikaMittel- und Südamerika, aus dem MaghrebMaghreb und dem subsaharischen AfrikaAfrikaAfrika, subsaharisches sowie später vor allem aus AsienAsien.

Für das Verständnis des modernen Kanadas ist ein Ereignis zentral, das als „Stille RevolutionStille Revolution“ bezeichnet wird. Anfang der 1960er Jahre brach sich das Aufbegehren der Canadiens français, der frankophonen Kanadier, Bahn, die gegen die britische Vorherrschaft und Vormundschaft protestierten und zugleich gegen die Allmacht der katholischen KircheKirchekatholische Forderungen nach einem säkularen StaatStaat setzten. Bald verbanden sich diese Forderungen mit denen nach Souveränität und nach Unabhängigkeit der überwiegend frankophonen Provinz QuébecSchulbücher, QuébecQuébec/Quebec von KanadaKanada/Canada.

Mit groben Strichen wäre damit die Situation umrissen, in welcher die Konzepte der BikulturalitätBikulturalismus, Bikulturalität und der MultikulturalitätMultikulturalität als Instrumente des staatlichen KonfliktmanagementKonfliktmanagements und als Strategien des Umgangs mit kultureller DiversitätDiversitätkulturelle im öffentlichen Raum entwickelt wurden. Schematisch lässt sich dies folgendermaßen darstellen.

Abb. 2.1:

Chronologie der Einführung von Konzepten des Kulturkonfliktmanagements

Wenn in der Nachkriegszeit der Topos von den „Two solitudes“, „Les deux solitudes“ – nach dem Titel des Romans von Hugh MacLennan – in aller Munde war, um das Verhältnis, oder genauer: den Dauerkonflikt zwischen dem anglophonen KanadaKanada/Canada und dem frankophonen Kanada oder eben auch ihre wechselseitige Ignoranz zu beschreiben, so führten die Kämpfe der frankophonen Kanadier im QuébecSchulbücher, QuébecQuébec/Quebec der 1960er Jahren zur Anerkennung der PolitikPolitikKultur-, Sprachpolitik, Sozial- des Bilinguismus und BikulturalismusBikulturalismus, Bikulturalität. Auslöser war die gerade erwähnte „Stille RevolutionStille Revolution“ in Québec Anfang der 1960er Jahre. Als Emanzipationsbewegung der Frankophonen richtete sich die „Stille Revolution“ gegen die sprachliche, ökonomische, politische, kulturelle und soziale Dominanz der anglophonen Gesellschaft, aber auch, als säkulare Bewegung, gegen die Herrschaftsposition der – mehrheitlich frankophonen – katholischen KircheKirchekatholische. Im Laufe der 1960er Jahre legte die Königliche Kommission zur Untersuchung des Bilinguismus und Bikulturalismus6 den Grundstein dafür, dass sich Kanada Ende 1968 zu einem zweisprachigen StaatStaat erklärte und die Politik des Bilinguismus und BikulturalismusBikulturalismus einführte. Offizielle ZweisprachigkeitMehrsprachigkeit heißt jedoch nicht, dass die Einwohner des Landes zweisprachig seien. Zum damaligen Zeitpunkt bedeutete die offizielle Zweisprachigkeit Kanadas – etwas vergröbernd formuliert – die Reaktion des Staates auf die zweimalige EinsprachigkeitEinsprachigkeit seiner Bürger und zugleich eine Maßnahme, um die Abspaltung der Provinz Québec abzuwenden.

Kaum, dass KanadaKanada/Canada 1969 das Gesetz über die offizielle ZweisprachigkeitMehrsprachigkeit des Staates mit EnglischEnglisch und FranzösischFranzösisch auf der Ebene des Bundes in Kraft setzte und damit der Forderung der frankophonen Bevölkerung nach Gleichberechtigung und Anerkennung ihrer Sprache und KulturKultur nachkam, setzte die liberale Bundesregierung unter P. E. Trudeau die IntegrationIntegration der ImmigrantInnen auf die Tagesordnung und führte 1971 offiziell die PolitikPolitikKultur-, Sprachpolitik, Sozial- des MultikulturalismusMultikulturalismus ein. Auch andere Immigrationsländer wie GroßbritannienGroßbritannien und die USAUSA diskutierten in dieser Zeit über Multikulturalismus. Aber nur in Kanada wurde er in offizielle Politik überführt und erhielt gleichzeitig seine besondere Prägung im Rahmen der Zweisprachigkeit des Landes als „zweisprachiger Multikulturalismus“. Begründet wurde diese Politik im Parlament mit den Argumenten, dass es erforderlich sei, 1. die kulturellen Gruppen dabei zu unterstützen, ihre Kultur zu bewahren und zu fördern, 2. die Partizipation an der kanadischen Gesellschaft zu verbessern, 3. den kulturellen Austausch zwischen den Gruppen zu fördern, und schließlich 4. den Immigranten zu erleichtern, mindestens eine der beiden offiziellen SprachenSpracheoffizielle Kanadas zu erlernen.7

Die Idee der von Trudeau geführten Bundesregierung, KanadaKanada/Canada als eine multikulturelle Gesellschaft zu definieren, hing einerseits mit einer Reihe von Widersprüchen zusammen, die in der B&B-Kommission nicht gelöst werden konnten. Denn andere kulturelle Gemeinschaften als die Anglophonen und die Frankophonen, wie die der Ukrainer, Juden und der autochthonen Völker, fühlten sich in ihrer kulturellen Wahrnehmung und ihrer Bedeutung für die kanadische Gesellschaft nicht angemessen berücksichtigt. Andererseits sollte der Diversifizierung der Immigration Rechnung getragen und der DiskriminierungDiskriminierung vor allem der sog. sichtbaren MinderheitenMinderheiten entgegengetreten werden. Nachdem das Prinzip des MultikulturalismusMultikulturalismus in die Kanadische Verfassung von 1982 – in Art. 27 – Eingang fand, dauerte es noch bis zum Jahre 1988, bis die konservative Regierung von Bryan Mulrony endlich auch das Gesetz über den Multikulturalismus verabschiedete. Seine Aufgabe war und ist es, die „kulturelle und rassische DiversitätDiversitätkulturelle“ der kanadischen Gesellschaft anzuerkennen, Diskriminierung zu reduzieren und das gegenseitige Verständnis der Kulturen zu fördern (vgl. Dewing 2013).

Seither verweist die Bundesregierung Kanadas immer wieder auf die positive Wirkung dieses Gesetzes: KanadaKanada/Canada habe sich in der Wahrnehmung seiner BürgerInnen zu einer multikulturellen Gesellschaft entwickelt, in der die Respektierung von und das Zusammenleben mit anderen Kulturen weit vorangeschritten sei. Es habe günstige Auswirkungen auf das Bevölkerungswachstum und auf den Wert der kanadischen StaatsbürgerschaftStaatsbürgerschaft (vgl. ebd.).

Wenn die PolitikPolitikKultur-, Sprachpolitik, Sozial- des zweisprachigen MultikulturalismusMultikulturalismus im anglophonen KanadaKanada/Canada verbreitet auf Zustimmung stieß, wurde sie in QuébecSchulbücher, QuébecQuébec/Quebec von Anfang an mit Misstrauen verfolgt und kritisch betrachtet. Die Auffassung, P. E. Trudeau habe sie propagiert, um die mit der Offizialisierung des Bilinguismus erreichte Anerkennung der französischsprachigen KulturKultur und die Aufwertung Québecs in der kanadischen KonföderationKonföderationkanadische zu konterkarieren, war weit verbreitet. Zugespitzt formuliert: In der politischen KlasseKlasse Québecs war und wird – bis heute übrigens – die Politik des kanadischen Multikulturalismus als Waffe des kanadischen NationalismusNationalismus gegen die Ambitionen des Quebecer Nationalismus und gegen das Projekt der Schaffung einer frankophonen Staatsnation interpretiert. Er stelle, so heißt es immer wieder, den politisch-rechtlichen Status Québecs in Frage und biete keine angemessene Konzeption für die sprachlich-kulturelle Situation Québecs (vgl. Bouchard 1999, 2012, Oakes/Warren 2009, 30ff.). Die Reaktionen aller bisherigen Quebecer Regierungen auf den kanadischen Multikulturalismus bestehen unisono darin, dass sie ihn ablehnen und ihrerseits das Konzept der InterkulturalitätInterkulturalität bzw. des InterkulturalismusInterkulturalismus dagegensetzen.8

 

Doch wie das Konzept der InterkulturalitätInterkulturalität9 ausgestaltet und politisch umgesetzt werden soll, bleibt in QuébecSchulbücher, QuébecQuébec/Quebec relativ lange Zeit offen. Vielversprechend – und zugleich hoffnungsvoll nach einer langen Serie von ethnisch-kulturellen KonfliktKonflikten in Québec zu Beginn der 2000er Jahre – gestaltet sich in dieser Hinsicht der 2007/08 breit angelegte Konsultationsprozess der Bevölkerung der Provinz zum Umgang mit kultureller DiversitätDiversitätkulturelle, der in den Händen des Historikers Gérard Bouchard und des Philosophen Charles Taylor liegt.10 Doch die Empfehlungen der Kommission, von vielen begrüßt, von anderen gescholten, missfallen der Regierung, die die Kommission selbst eingesetzt hat. Sie distanziert sich demonstrativ von den Empfehlungen, die u.a. eine „offene Laizität des Staates“ vorsahen.

Der kanadische MultikulturalismusMultikulturalismus wie die Quebecer InterkulturalitätInterkulturalität gehen beide von kultureller DiversitätDiversitätkulturelle aus und stimmen weiterhin auch darin überein, dass sie den Assimilationismus11 und besonders den RassismusRassismus ablehnen. Grundsätzlich verschieden sind sie darin, wie sie den Gestaltungsraum für eine politische und nationale Gemeinschaft ausfüllen, in welchem sich die DiversitätDiversitätkulturelle entfalten soll: KanadaKanada/Canada definiert sich zweisprachig und multikulturell, was jedoch faktisch auf die Dominanz des Englischen und auf die Assimilation der MinderheitenMinderheiten an die dominante anglophone KulturKultur hinausläuft. QuébecSchulbücher, QuébecQuébec/Quebec seinerseits hat die französische Sprache als einzige offizielle und als gemeinsame Sprache des öffentlichen Raums festgeschrieben mit dem Ziel, der frankophonen Bevölkerungsmehrheit ein Leben und Arbeiten in französischer Sprache zu garantieren und auf diese Weise eine Zukunft als sprachliche MinderheitMinderheiten in Kanada und NordamerikaNordamerika zu gewährleisten (vgl. Rocher/White 2014, 17).

Bis heute allerdings hat das Konzept des InterkulturalismusInterkulturalismus in QuébecSchulbücher, QuébecQuébec/Quebec keinerlei offiziellen Status, etwa in Form eines Gesetzes oder zumindest in Form eines Weißbuchs, wie es schon Rocher/White 2014 in ihrer Analyse der Interkulturalismusdiskussion in Québec der Regierung empfehlen. In detaillierter Form führen sie aus, dass dieses Konzept in Québec keineswegs unwidersprochen bleibt, wobei die Kritik sich mehr auf den Interkulturalismus als auf die InterkulturalitätInterkulturalität bezieht. Den Unterschied sieht Bouchard (2012, 50f.) darin, dass sich der Interkulturalismus auf eine makrosoziale (sozietale) Ebene und auf eine Konzeption der ethnokulturellen Verhältnisse bezieht, die in den Orientierungen, Politiken und Programmen in der Verantwortung des Staates und der großen Institutionen einer Gesellschaft oder einer NationNation liegen. Auf einer mikrosozialen Ebene hingegen, die die Ebene der Interkulturalität ist, handelt es sich darum, wie kulturelle Verschiedenheit im täglichen Leben öffentlicher oder privater Institutionen und im Leben der Gemeinschaften gestaltet wird: Folglich sei es möglich, die Praxis der Interkulturalität auch außerhalb des Rahmens der Nation zu verorten.

Welches Zwischenfazit lässt sich an dieser Stelle ziehen? Beide Kulturkonzepte stellen Antworten auf die vielfältigen und die Geschichte prägenden KulturKultur- und Sprachkonflikte in KanadaKanada/Canada dar: Konflikte zwischen ProtestantenProtestanten und KatholikenKatholiken, Engländern/Anglophonen und Franzosen/Frankophonen, zwischen den Angehörigen der beiden ehemaligen Kolonialmächte FrankreichFrankreich und GroßbritannienGroßbritannien und den autochthonen Völkern Kanadas (die ihrerseits von innerem KolonialismusKolonialismus sprechen, vgl. Abschnitt 2.5) sowie den Migrantengruppen zunächst aus EuropaEuropa und, seit etwa 1970 besonders zahlreich, aus den anderen Teilen der Welt. Beide Konzepte stellen eine Anerkennung von kultureller Differenz, von pluralistischer Gesellschaft und Demokratie dar und verstehen sich als Instrumente im Kampf gegen RassismusRassismus, DiskriminierungDiskriminierung und für Chancengleichheit auch in Hinblick auf sexuelle OrientierungOrientierungsexuelle und das Verhältnis der GeschlechtGeschlechter in der Gesellschaft. Ihre Stärken liegen auf dem FeldFeld, Feldtheorie des Rechts, des demografischen Wandels und letztlich dem der Ökonomie. Schließlich haben beide Konzepte ihren Platz in den Diskussionen über kulturelle und sprachliche IdentitätIdentitätsprachliche von sich ethnisch definierenden Gemeinschaften, wobei das Verhältnis von MehrheitMehrheit, -sgesellschaft und MinderheitMinderheit immer wieder in den Mittelpunkt rückt.

Wesentliche Unterschiede bestehen darin, wie die Beziehungen innerhalb und zwischen Gruppen und Gemeinschaften in der Gesellschaft und die Anerkennung gemeinsamer Werte gestaltet werden. Bedient der DiskursDiskurs des MultikulturalismusMultikulturalismus immer wieder das Bild des Mosaiks, in welchem eine Vielzahl von Gruppen nebeneinander leben12, propagiert die InterkulturalitätInterkulturalität das Bild des wechselseitigen Austauschs, der Annäherung und des Dialogs im Hinblick auf den Respekt gemeinsamer Werte. Die Quebecer Position – treffender wäre: die Quebecer Positionen – des InterkulturalismusInterkulturalismus und der Interkulturalität sensibilisieren uns darüber hinaus für die Dynamik von Prozessen der MajorisierungMajorisierung und MinorisierungMinorisierung – in QuébecSchulbücher, QuébecQuébec/Quebec stellen die Frankophonen die MehrheitMehrheit, -sgesellschaft dar, in KanadaKanada/Canada sind sie eine sprachliche MinderheitMinderheit – , für den Schutz von Minderheiten und die sprachliche Förderung auf dem FeldFeld, Feldtheorie der offiziellen SpracheSpracheoffiziellen wie der HerkunftssprachenHerkunftssprachen. Schließlich lenkt die Diskussion die Aufmerksamkeit auf die Unterscheidung verschiedener Handlungsebenen: Multi-/Interkulturalismus als makrosoziale und gesellschaftsgestaltende Konzepte des Staates bzw. staatlicher Agenturen; Multi-/Interkulturalität hingegen als mikrosoziale Konzepte der im Alltäglichen zu gestaltenden kulturellen DiversitätDiversitätkulturelle, ihrer Normen und Formen, die idiosynkratrischen Formen eingeschlossen.

KanadaKanada/Canada und QuébecSchulbücher, QuébecQuébec/Quebec haben somit einen anderen Weg eingeschlagen als z. B. FrankreichFrankreich und DeutschlandDeutschland, die beide, wenn auch in unterschiedlicher Weise, von oben her stark auf Assimilation, Homogenisierung und auf kulturelle Hegemonie der dominanten Gruppen setzen. Diese Feststellung mag paradox erscheinen angesichts von kulturellen Praktiken auf der lokalen bzw. kommunalen Ebene in Deutschland wie in Frankreich, angesichts der alltäglichen Erfahrungen von VernetzungVernetzung und MischungMischung wie auch der umfangreichen wissenschaftlichen Diskussion über InterkulturalitätInterkulturalität, interkulturelle PädagogikPädagogikinterkulturelle – und interkulturelle KommunikationKommunikation.