Transkulturalität - Prozesse und Perspektiven

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In dieser letzten Phase gewinnt das Nachdenken über transkulturelle Prozesse in vielen wissenschaftlichen Disziplinen deutlich an Attraktivität, zeigt sich doch, dass globale Phänomene wie wachsende MigrationMigrationMigrationArbeits-, Bildungs-, Heirats-, Pendel- und MobilitätMobilität, wie der Strukturwandel in den Ökonomien, Märkten und den internationalen Beziehungen sowie die Möglichkeiten des Internets und der DigitalisierungDigitalisierung die Sozialbeziehungen und kulturellen Verhältnisse radikal verändern. Und dass diese Veränderungen selbst wiederum eine lange Geschichte haben, weshalb sich gerade auch HistorikerInnen auf die Rekonstruktion von Verflechtungs- und Austauschprozessen konzentrieren.



Bemerkenswert ist nun, in welcher Weise Ottmar Ette (2012, 8-26) diesen Phasen der GlobalisierungGlobalisierung ihre je eigenen Bedrohungen und Ängste zuordnet. Meist sind es Krankheiten und Epidemien, die Ausdruck bestimmter Kontaktverhältnisse sind und die mit Ängsten vor neuen KontaktKontakten einher gehen: Ängste vor der Syphilis in der ersten Phase, das Gelbfieber in der zweiten Phase, die wellenartige Verbreitung der Pocken und der Spanischen Grippe in der dritten Phase und die Ängste vor HIV, Ebola und Corona in der vierten Phase.



Diese Krankheiten lösten in der Vergangenheit vielfältige KonfliktKonflikte aus: Paniken unter den Menschen, Lynchjustiz, FluchtFlucht und VertreibungVertreibung. Heute gehen sie mit Ausgangssperren und Lockdown des öffentlichen Lebens und Teilen der Volkswirtschaften einher, mit globalen Reaktionen an den Börsen, mit dem Auslösen von Krisenplänen der Weltgesundheitsorganisation (WHO), der Europäischen Union, der nationalen Gesundheitsbehörden vieler Länder, mit drastischen Beschränkungen von Grundrechten und der MobilitätMobilität der BürgerInnen. In diesem Zusammenhang wird ein Aspekt von Transkulturalität besonders eindrücklich erfahrbar, der allerdings so gut wie nie erwähnt, geschweige denn erforscht wird und folglich auch in diesem Buch nur schlicht genannt werden kann. Es handelt sich um die emotionalenemotionalen Reaktionen und psychischen Zustände der IndividuenIndividuum, Individuen unter den ihnen abgeforderten permanenten Anpassungsleistungen, die ein von Mobilität und MigrationMigrationArbeits-, Bildungs-, Heirats-, Pendel- geprägtes und im permanenten Krisenmodus geführtes Leben erfordern. Dabei zeigt sich, dass diese Anpassungsleistungen in sozialer Hinsicht keinesfalls gleich verteilt sind und die bestehenden sozialen Ungleichheiten zwischen arm und reich (vgl. Butterwegge 2020) weiter verschärft werden.





Kapitel 3: Transkulturalität – MigrationMigrationMigrationArbeits-, Bildungs-, Heirats-, Pendel- oder Neuerfindung des Konzepts?

3.1 Problemskizze und Argumentation



In diesem Kapitel geht es um Fragen danach, woher das Konzept der Transkulturalität kommt, was es bedeutet und – da schon ersichtlich wurde, dass es dazu nicht nur eine Geschichte zu erzählen gibt, sondern mehrere –, warum es in unterschiedlichen Räumen mit verschiedenen Bedeutungen zirkuliert. So lässt sich dann auch die Frage stellen, ob das Konzept der Transkulturalität mehrfach – zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten – erfunden wurde, oder ob es ein Konzept ist, das durch die Zeiten und Räume hindurch gewandert ist.



In der neueren kulturwissenschaftlichen Forschung wird die Zirkulation, das Wiederaufgreifen oder die WanderungWanderung von Theorien und Konzepten unter dem Stichwort

traveling concepts

 diskutiert. Edward Saids Aufsatz „Traveling Theory“ (1982, dt. 1997) gilt dabei oft als eine zentrale Referenz. Said geht in seinem Aufsatz der Frage nach, ob



eine Idee oder TheorieTheorie der unsichtbaren Hand durch ihre WanderungWanderung von einem Ort zum anderen, von einer Zeit zur anderen an Kraft gewinnt oder verliert und ob sie vielleicht in der einen geschichtlichen Phase und nationalen KulturKultur zu etwas ganz anderem wird als in einer anderen Phase oder Situation. Ein solcher Übergang in eine neue Umgebung geschieht nie reibungslos. Er geht zwangsläufig mit Darstellungs- und Institutionalisierungsprozessen einher, die sich von denen am Ursprungsort unterscheiden. (Said 1997, 263)



Said unterstreicht im Weiteren, wie unverzichtbar es ist, bei Theorien und Konzepten die historische Situation ihrer Entstehung und ihrer Rezeption im Auge zu behalten.1 Dies verlangt nach kritischem Bewusstsein, um Theorien kontextbewusst anzuwenden und sie zu öffnen im Hinblick auf die historische Realität, in der sie ausgearbeitet und in der sie weiterverarbeitet werden. Und mit den Worten Saids: „Ich behaupte jedoch, dass wir TheorieTheorie der unsichtbaren Hand dadurch von kritischem Bewusstsein unterscheiden, daß wir sagen, letzteres sei eine Art räumlicher Sinn, eine Art Ortungsvermögen, um die Theorie zu lokalisieren oder zu situieren“ (Said 1997, 284).



Ganz in diesem Sinne skizziere ich in den Abschnitten 3.2 bis 3.5 die Entstehung, WanderungWanderung und/oder Neuerfindung2 des Konzepts der Transkulturalität. Erstmals ausgearbeitet wurde es in KubaKuba von dem Anthropologen Fernando Ortiz (1940) als Gegenentwurf zu dem in der US-amerikanischen AnthropologieAnthropologie der 1930er Jahre verbreiteten Konzept der AkkulturationAkkulturation. Mitte der 1970er Jahre hält das Konzept in die LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft Lateinamerikas Einzug und wird von hier aus Teil der postkolonialen Diskurse über Literatur und Gesellschaft in NordamerikaNordamerika. Mitte der 1980er Jahre wiederum begegnet es uns in QuébecSchulbücher, QuébecQuébec/Quebec bzw. in KanadaKanada/Canada, wo es von programmatischer Bedeutung für ein publizistisches und kulturpolitisches Projekt von italienischen Immigranten in Montréal ist. Und wieder anders gestaltet sich der philosophische und kulturtheoretische DiskursDiskurs der frühen 1990er Jahre, in welchem der deutsche Philosoph Wolfgang Welsch für sich in Anspruch nimmt, das Konzept der Transkulturalität begründet zu haben.3 Für Said bedeutet kritisches Bewusstsein „eine Art räumlicher Sinn, eine Art Ortungsvermögen, um die TheorieTheorie der unsichtbaren Hand zu lokalisieren oder zu situieren“. Dieser Idee folgend, soll im Abschnitt 3.6 der Versuch unternommen werden, in Form einer synoptischen Darstellung ein gewisses Maß an Systematisierung zu Bedeutung, Wanderung und/oder Neuerfindung des Konzepts der Transkulturalität zu erreichen. In der Gegenwart angekommen, befasst sich Abschnitt 3.7 mit der Einordnung von Transkulturalität in das Paradigma des

Spatial turn

Spatial turn

s

, um abschließend in 3.8 die Frage aufzuwerfen, in welcher Weise Prozesse von Transkulturalität ein Bedrohungspotential aufweisen.





3.2 Fernando Ortiz: Grundlegung aus der Perspektive der AnthropologieAnthropologie



Die gegenwärtige Transkulturalitätsforschung ist sich weitgehend darin einig, den Ursprung des Konzepts der Transkulturalität in der Studie „Contrapunteo cubano del tabaco y el azúcar“ (1940) des kubanischen Anthropologen Fernando Ortiz Fernández, kurz Fernando Ortiz (1881-1969) zu sehen.1 In diesem Buch, dessen Titel so viel bedeutet wie „kubanische Debatte über Tabak und Zucker“, behandelt Ortiz die Bedeutung zweier Agrarprodukte für die kulturelle Entwicklung Kubas und zeigt auf, welche Auswirkungen ihr Anbau und ihr Konsum für die kubanische Gesellschaft und ihre Transformationen im Zuge des KolonialismusKolonialismus, des PostkolonialismusPostkolonialismus, -forschung und der MigrationMigrationMigrationArbeits-, Bildungs-, Heirats-, Pendel- eingenommen haben. Anhand des Tabaks rekonstruiert er die vielfältigen sozialen Veränderungen in den Lebensweisen und den Produktionsformen auf KubaKuba. Die Rolle des Zuckers analysiert er im Kontext des Sklavenhandels, der Produktions- und Lebensformen der afrikanischen SklavInnen auf den Plantagen und in den Zuckerfabriken Kubas sowie des transatlantischen Handels mit Zucker. Dabei untersucht er, welche Veränderungen in den Lebensweisen der Menschen der Anbau, die VerarbeitungVerarbeitung und der Konsum von Zucker und Tabak nach sich zogen und welche Auswirkungen dies auf die Organisation von Gesellschaft hatte.



Im zweiten Teils des Buches, darin im zweiten Abschnitt, führt er das Konzept der ‚transculturación’ ein, um die vielfältigen und hochkomplexen Phänomene der Veränderungen der Kulturen – er spricht von „las complejísimas transmutaciones de culturas“ (Ortiz 1987, 93) – und ihrer Lebensweisen begrifflich zu fassen, ohne die die Herausbildung der kubanischen NationNationkubanische nicht zu verstehen sei. Unter ‚Kulturen’ versteht Ortiz zunächst Menschengruppen wie die autochthonen indianischen und die vielen anderen aus AfrikaAfrika, AsienAsien und dem EuropaEuropa der Kolonialmächte eingewanderten Gruppen und IndividuenIndividuum, Individuen. Mit ihrer EinwanderungEinwanderung hätten diese Menschen ihre kulturellen Praktiken, Ideen und Verhältnisse mit nach KubaKuba gebracht, man könne auch sagen, ihre KulturKultur: die Art, wie sie das Land bewirtschaften, das Pferd, den Stier, den Stammeshäuptling, den Priester, das Schießpulver, den Straßenbau, das Eisen, das Buch und die Buchstaben, ebenso das Geld, den Lohn, den Bankier, den Herren, den Sklaven usw. Im Kontakt der Menschen und ihrer Lebensweisen und Produktionsformen sei im Zuge vielfältiger migrationsbedingter Mischungsprozesse das entstanden, was Kuba, die kubanische NationNationkubanische –, das kubanische Volk, die Kubaner ausmache (vgl. S. 94ff.). Ihm als Anthropologen geht es somit um eine Erklärung der (kollektiven) IdentitätIdentitätkollektive und der kulturellen Praktiken in Kuba aus den Produktionsformen, aus den ökonomischen und den MigrationMigrationsverhältnissen heraus.

 



Dass sich zur damaligen Zeit ein Anthropologe auf die Erforschung der eigenen und ihn umgebenden kulturellen Verhältnisse einlässt, ist, wissenschaftsgeschichtlich betrachtet, ein überaus bemerkenswerter Vorgang. Denn die wissenschaftliche(n) Disziplin(en) der EthnologieEthnologie-VölkerkundeVölkerkunde-AnthropologieAnthropologie, deren Anfänge in die Zeit der Aufklärung im 18. Jahrhundert, insbesondere in DeutschlandDeutschland und RusslandRussland, zurückreichen, ist im 19. und 20. Jahrhundert eng mit dem KolonialismusKolonialismusbelgischer -, französischer – , britischer – der europäischen Kolonialmächte verbunden. Ihre Aufgabe sah die Ethnologie darin, die Völker und Kulturen, mit denen die Kolonisatoren, die Missionare und Reisenden in KontaktKontakt kamen, zu beschreiben, somit also WissenWissen zu produzieren über die Andersartigkeit der nicht europäischen Völker und Kulturen, die gemeinhin als vormoderne Kulturen von „Primitiven“, „Wilden“, „Naturvölkern“ und deshalb als von den Europäern zu zivilisierende Völker angesehen wurden. Öffentlichkeitswirksam in der Zurschaustellung „exotischer Völker“ waren besonders in der Zeit zwischen 1870 und 1940 die unzähligen Völkerschauen in Deutschland und anderen Ländern und die großen Weltausstellungen in Paris 1889, Chicago 1893 und BrüsselBrüssel 1897.



Die Arbeitsweise des Ethnologen bestand damals darin, sich als Gelehrter an ferne Orte zu begeben, auf sein FeldFeld, Feldtheorie der Forschung, und hier den „Wilden“, „Primitiven“, „Eingeborenen“ zu erkunden. Zurück in den Metropolen der Kolonialreiche galt es dann, dieses Wissen publik oder zum Gegenstand universitärer Lehre zu machen.



Ortiz, der in Havanna und Barcelona Jura und in ItalienItalien Kriminologie studierte und zunächst eine Karriere als Diplomat in Spanien und FrankreichFrankreich einschlug, erhielt 1909 eine Professur an der Rechtsfakultät der Universität Havanna. Sein wissenschaftliches Interesse galt jedoch in dieser Zeit, und auch in den folgenden Jahrzehnten, weniger den Fragen des Rechts. Hauptsächlich interessierte er sich für die aus AfrikaAfrika stammenden Gruppen der kubanischen Bevölkerung, die Afrokubaner. In dieser Hinsicht bewegte er sich zunächst noch in der Tradition der damals etablierten ethnologischen Forschung; sein erstes Buch, „Los negros brujos“ (1906), verfasste er als Beitrag zu einer „etnología criminal“ über die Hexenkulte jener aus AfrikaAfrika stammenden Kubaner. Archäologische Forschungen zur frühen Besiedlung Kubas, zur Musikethnologie der Völker Kubas, zur Sprache der Afrokubaner und andere Themen schlossen sich an und fügten sich in „Contrapunteo cubano del tabaco y el azúcar“ zu einer bis dahin unbekannten anthropologischen Forschungsperspektive.



Das Neue und Herausragende an dieser Forschungsperspektive besteht darin, dass er als Anthropologe nicht mehr das Fremde entfernter Kulturen vor Augen hat, sondern das eigene Gewordensein, und dies unter den Verhältnissen des KolonialismusKolonialismus, der Zeit davor und danach, sowie der MigrationMigrationMigrationArbeits-, Bildungs-, Heirats-, Pendel-. Er bricht somit mit der in der Zeit des Kolonialismus etablierten Forschungsperspektive der EthnologieEthnologie-VölkerkundeVölkerkunde-AnthropologieAnthropologie, die von einem Zentrum aus auf periphere Kulturen sieht. In theoretischer Hinsicht setzt er sich dabei mit dem Begriff der AkkulturationAkkulturation auseinander, wie er in den 1930er Jahren2 in der US-amerikanischen Ethnologie Verbreitung gefunden hatte, und verwirft ihn als unzureichend. Für Ortiz beschreibt AkkulturationAkkulturation nur eine Seite, die der Annahme einer anderen KulturKultur, nicht aber den Verlust, den WandelWandel, die neu entstehenden kulturellen Formen und Ausdrucksweisen sowie die damit verbundenen sozialen Folgen (vgl. S. 93, 96). Dagegen zielt der von ihm geprägte Begriff der ‚Transkulturation‘ auf das Verständnis der ganzen Komplexität sozialer und kultureller Transformationen, wie sie am Beispiel der Produktion und des Konsums von Tabak nachzuzeichnen sind: ökonomische, institutionelle, juristische, ethische, religiöse, künstlerische, sprachliche, psychologische, sexuelle und andere (ebd.). Dies schließt ein, die kubanische Gesellschaft in ihren Traditionslinien zu verstehen. Diese reichen von den amerindianischen Kulturen, den Kulturen der afrikanischen SklavInnen, den Kulturen der Kolonialmächte bis zu jenen der MigrantInnen aus allen Teilen der Welt, die mit ihrer Ankunft in der Neuen Welt Prozesse der

desculturación

 oder

exculturación

,

aculturación

,

inculturación

 (ebd.) und ebenso der

neoculturación

 (S. 96) erlebten, die jeweils Aspekte von

transculturación

 seien.



Ortiz verfolgte die Absicht, das Konzept der Transkulturation in der US-amerikanischen AnthropologieAnthropologie zu verankern, indem er den in Yale lehrenden renommierten Anthropologen Bronisław Malinowski um ein Vorwort zu seinem Buch bat. Die beiden kannten sich seit 1929. Malinowski verfasst dieses Vorwort auch und drückt darin seine völlige Übereinstimmung mit Ortiz’ Konzept aus. Auch kündigte er an, es fortan selbst in seinen Arbeiten verwenden zu wollen. Auf diesem Weg wurde er derjenige, welcher Ortiz’ Begriff ins Englische einführte, ohne dass er in der damaligen Zeit auf breiteren Widerhall gestoßen wäre. Übrigens auch bei Malinowski selbst nicht; zumindest lässt sich in seinen späteren Arbeiten eine Verwendung des Konzepts der Transkulturation nicht belegen (vgl. Ernst/Freitag 2014, S. 6ff.).



Modern ist Ortiz aber auch noch in anderer Hinsicht. Er ist der Überzeugung, dass die ganze kulturelle Bandbreite, die EuropaEuropa in 4000 Jahren hervorgebracht habe, in KubaKuba in weniger als 400 Jahren durchlebt wurde (vgl. S. 94). Er nimmt damit ein Verständnis von kulturellen Transformationsprozessen vorweg, das ein Historiker der GlobalisierungGlobalisierung wie Giddens (1990) oder KulturgeographInnen wie Massey (1994, 2005) oder Jacquemet (2010) mit dem Bild eines „high degree of space-time compression“ (vgl. Abschnitt 3.7) beschreiben und das offenbar, zumindest wenn wir Ortiz folgen, auch schon auf frühere Phasen der Globalisierung als jener des neoliberalen SpätkapitalismusSpätkapitalismus zutrifft.





3.3 Ángel Rama und Mary Louise Pratt: Von der AnthropologieAnthropologie zur LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft



Erst in den frühen 1990er Jahren gewinnt der Begriff der Transkulturation bzw. Transkulturalität in US-amerikanischen und europäischen Arbeiten an Verbreitung, nachdem der uruguayische Autor und Literaturkritiker Ángel Rama in den 1970er Jahren das Konzept von Ortiz aus der Versenkung geholt hatte. Rama publizierte 1974 einen Aufsatz unter dem Titel „Los procesos de transculturación en la narrativa latinoamericana“, den er kurz vor seinem Tod zu dem Buch „Transculturación narrativa en América latina“ (1982) erweiterte.1 In dessen drittem Kapitel „Transculturación y genero narrativo“ (S. 32-56) entwickelte Rama, ausgehend vom anthropologischanthropologischen Ansatz von Ortiz, ein in dreierlei Hinsicht erweitertes und verändertes Konzept von Transkulturation. Rama übertrug es a) vom nationalen Raum Kubas auf den subkontinentalen – und damit sehr viel stärker heterogenen sozialen Raum – Lateinamerikas, und b) von einem anthropologischanthropologischen Konzept zu einem der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft. Für Ramas Untersuchungen zu den lateinamerikanischen Literaturverhältnissen war die Umstrukturierung des literarischen Feldes im Zuge von KolonialismusKolonialismus und postkolonialer Auseinandersetzung zentral. Um das Konzept für die Zwecke literaturwissenschaftlicher Analyse brauchbar zu machen, schlug er c) seine Operationalisierung vor, indem er vier Prozesse der transkulturellen literarischen VerarbeitungVerarbeitung identifizierte: Verlust, Auslese/Aussonderung, Wiederentdeckung und Inkorporation.2 Wie Ortiz auch, nahm Rama die Perspektive der vom Kolonialismus unterworfenen KulturKultur ein, indem er der „cultura originaria“, der ursprünglichen Kultur, „la cultura externa“, die von außen kommende Kultur, gegenüberstellte und diese Opposition auf die literarischen Werke übertrug. Es ging ihm im Speziellen darum zu zeigen, wie im KontaktKontakt der Kulturen/Literaturen besonders die Prozesse der Auslese/Aussonderung (

la selectivitad

) und der Wiederentdeckung (

la invención

), die von Ortiz eher weniger betrachtet wurden, zu verstehen sind, um auf diese Weise zu einer Neubewertung der postkolonialen lateinamerikanischen Literaturen zu gelangen.



Ramas Studien zu transkulturellen Prozessen in den lateinamerikanischen Literaturen stellten wiederum einen Referenzpunkt für die Untersuchungen der in den USAUSA tätigen anglokanadischen Literaturwissenschaftlerin und Lateinamerikanistin Mary Louise Pratt dar, die in „Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation“ (1992,

2

2008) ihre Analysen von den Räumen des Kulturkontakts im spanischen Kolonialreich in Lateinamerika auf jene des britischen KolonialismusKolonialismusbelgischer -, französischer – , britischer – und PostkolonialismusPostkolonialismus, -forschung in AfrikaAfrika ausweitete. Der Nutzen des Konzepts der Transkulturation bestand für Pratt darin, die Wechselseitigkeit des KulturtransferKulturtransfers auch in Situationen asymmetrischer Machtverteilung, wie sie keineswegs nur für die kolonialen Verhältnisse bezeichnend waren, in den Blick zu bekommen. Auf Ortiz und Rama verweisend, führt Pratt aus, dass



thnographers have used this term to describe how subordinated or marginal groups select and invent from materials transmitted to them by a dominant or metropolitan culture. While subjugated peoples cannot readily control what the dominant culture visits upon them, they do determine to varying extents what they absorb into their own, how they use it, and what they make it mean. (2008, 7)



Für Pratt ist das Konzept der Transkulturation mit Fragen danach verbunden: „What do people on the receiving end of empire do with metropolitan modes of representation? How do they appropiate them? How do they talk back?“ Und als Wissenschaftlerin schließt sie notwendig noch die folgende Frage an: „What materials can one study to answer those questions“ (ebd.). Einer ihrer drei Leitbegriffe3 für die Untersuchung transkultureller Prozesse ist der der ‚KontaktzoneKontaktzone’. Transkulturelle Prozesse entfalten sich in Kontaktzonen, d. h. in sozialen Räumen, in denen „disparate cultures meet, clash, and grapple with each other, often as colonialism and slavery, or their aftermaths as they are lived out across the globe today“ (ebd.). Auf ihren Untersuchungsgegenstand, die kolonialen und postkolonialen Literaturverhältnisse in Lateinamerika und im Süden AfrikaAfrikas zugeschnitten, ist eine Kontaktzone



a space of imperial encounters, the space in which peoples geographically and historically separated come into contact with each other and establish ongoing relations, usually involving conditions of coercion, radical inequality, and intractable conflict. The term ‚contact’ foregrounds the interactive, improvisational dimensions of imperial encounters so easily ignored or suppressed by accounts of conquest and domination told from the invader’s perspective. (2008, 8)



An den Kontaktbegriff in der SprachwissenschaftSprachwissenschaft (KontaktlinguistikKontaktlinguistik) angelehnt, der bei SprecherInnen verschiedener Sprachen zum Zwecke der Verständigung eine

lingua franca

, ein PidginPidgin und, wenn dieses Pidgin zur MutterspracheMuttersprache wird, eine KreolspracheKreolsprache entstehen lässt (vgl. S. 8), verortet sie den Kontaktbegriff entlang der

colonial frontier

. ‚Kontakt‘ bedeutet für Pratt, den Akzent darauf zu setzen, wie die Subjekte durch ihre Beziehungen mit anderen zu dem geworden sind, was sie sind. ‚KontakKontaktt’ als auslösendes Moment für Transkulturation heißt dann:



It treats the relations among colonizers and colonized, or travelers and „travelees”, not in terms of separateness, but in terms of co-presence, interaction, interlocking understandings and practices, and often within radically asymmetrical relations of power. (ebd.)



Von der Publikation des Buchs von Fernando Ortiz bis zur ersten Auflage des Buchs von Mary L. Pratt vergeht ein halbes Jahrhundert. Ortiz scheint mit seinen Ideen zur Transkulturation in seiner Zeit einmalig gewesen zu sein. Vermutlich wäre sein Werk dem VergessenVergessen anheimgefallen – zumal die von den USAUSA erzwungene politische Isolation Kubas nach der Revolution den Zugang zu seinem Werk nicht erleichterte –, wenn der uruguayische Literaturwissenschaftler Ángel Rama in den 1970er Jahren nicht erneut die Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet hätte. Und, wenn nicht der Boom der Lateinamerikastudien an amerikanischen und europäischen, darunter auch an zahlreichen deutschsprachigen Universitäten, seit den späten 1970er und 1980er Jahren zu einer breiten Rezeption lateinamerikanistischer Themen geführt hätte, darunter besonders der Literatur und Literaturkritik, der TheologieTheologie der Befreiung oder der PädagogikPädagogik des Brasilianers Paolo Freire. 500 Jahre nach Kolumbus’ Griff nach der neuen Welt gehört M. L. Pratt zu jenen Intellektuellen in den USA, die der imperialen Geschichtsschreibung mit dem verbreiteten Topos der Überlegenheit der Kulturen der europäischen Kolonialmächte, wie er in mannigfacher