Transkulturalität - Prozesse und Perspektiven

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2.2 Das „Neldesche Gesetz“: Kein KontaktKontakt ohne KonfliktKonflikt

Wer kennt es nicht, dass wir uns an einen Ort begeben, den wir als Gaststätte, Restaurant, Pizzeria, Pub, Beisl, Imbiss, Mensa oder Bistrot bezeichnen, um dort Krautroulade, Schnitzel, Pasta, Sushi, Falafel oder Dumblings zu essen, gegebenenfalls auf der Terrasse, im Patio oder Wintergarten Platz nehmen, anschließend mit einer Kreditkarte statt cash bezahlen und eventuell noch einen Kaffee to go ordern. Was uns hierbei so geläufig wie unschuldig über die Lippen geht, bewegt nicht selten ganze Staatsapparate, die Gesetze auf den Weg bringen, um die Verwendung von Wörtern aus anderen Sprachen, und mehr noch die Nutzung oder das Erlernen von anderen Sprachen, einem strengen Reglement zu unterwerfen. Oder es versetzt den sprachpuristischen Bürgersinn in Rage, der sich die Reinhaltung der Sprache und KulturKultur auf die Fahnen schreibt und deshalb gegen die vermeintliche „Sprachverderbnis“ durch das Fremde zu Felde zieht.1 Doch auch andere Regelungen sind hinreichend bekannt, etwa dass Gesellschaften festlegen, dass in ihren Schulen die Kinder ein, zwei oder drei Sprachen lernen sollen, bestimmte Sprachen wohlgemerkt, nicht irgendwelche, auch wenn es sich bei den dabei ausgeschlossenen Sprachen um die Sprachen von großen Gruppen unter den Schulkindern oder in der Gesellschaft handelt.

All dies wiederum ins Wissenschaftliche gewendet, führt uns zu einer Systematik, die von dem Sprachwissenschaftler Uriel Weinreich (1953) begründet wurde und darin besteht, den KontaktKontakt von Sprachen als Kontakt zwischen Sprachgemeinschaften, zwischen SprecherInnen und zwischen Kulturen zu verstehen. In diesem Kontext kommt Peter H. Nelde (1940-2007), Gründer und langjähriger Leiter der Brüsseler Forschungsstelle für MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit, in die Diskussion, der eine Vielzahl solcher Situationen des SprachkontaktSprachkontakts untersuchte und anlässlich einer der großen Tagungen dieser Forschungsstelle konstatierte: „Fest steht jedenfalls, dass auf allen bisherigen Tagungen zur KontaktlinguistikKontaktlinguistik noch keine „konfliktfreie“ MinderheitMinderheitanglophone – , frankophone –, indigene – von der Forschung eingebracht wurde“ (Nelde 1990, V). Diesem „Neldeschen Gesetz“ – kein KontaktKontakt ohne KonfliktKonflikt2 – mag man zwar entgegenhalten, dass es sehr wohl SprachkontakteSprachkontakte in Form von Entlehnungen aus oder Lehnbildungen3 nach anderen Sprachen gibt, bei denen eine Konfliktsituation nicht erkennbar ist. Handel, Tourismus, Sport, Wissenschaft, Technik usw. sind Bereiche, in denen vielfältige Sprachkontakte an der Tagesordnung sind und zum WandelWandel der Sprachen beitragen, auch ohne Konflikt. Das eingangs genannte Beispiel zu unseren Geflogenheiten des Essens illustriert dies auf seine Weise.

Aber das ist nicht der entscheidende Punkt: Neldes Blick richtet sich – wie schon bei Uriel Weinreich – auf die SprecherInnen und Gemeinschaften unterschiedlicher Sprachen oder Varietäten von Sprachen, deren Kontakt darin besteht, dass sie sich ihre Lebens- und Kommunikationsräume teilen und ihre Sprachen dabei in der Regel nicht gleichberechtigt sind oder im Sinne von GleichheitGleichheit behandelt werden. Außer Frage steht dabei, dass dies Auswirkungen auf die IdentifikationIdentifikation der IndividuenIndividuum, Individuen mit ihren Sprachen und auf die kulturellen Praktiken der Gemeinschaften hat, wenn sie von Erfahrungen der Reglementierung, des Verbots oder der DiskriminierungDiskriminierung geprägt sind. Zweitens geht es um mehr als um den Kontakt von Sprachen auf der Ebene des Wortschatzes, sondern um die sehr viel komplexeren Zusammenhänge des Funktionierens von Sprachen in öffentlichen und institutionellen Räumen und wie darin in die Praxis der Sprachen eingegriffen wird. Drittens geht es Nelde um MinderheitenMinderheit, -en und um Sprachen in Minderheitensituationen, was wiederum verbunden ist mit Prozessen der MinorisierungMinorisierung oder der MajorisierungMajorisierung (vgl. Blanchet 2005, Weirich 2014) und ihren Folgen für den SprachausbauSprachausbau, das SprachbewusstseinSprachbewusstsein, die SprachloyalitätSprachloyalität, die von den Einzelnen wie von den Gemeinschaften als spannungsgeladen und konfliktträchtig erlebt werden.

Kein Kontakt ohne Konflikt – für einen Belgier bedarf diese Erkenntnis angesichts der langen Geschichte kultureller Konflikte, die dieses Land schon mehrfach an die GrenzeGrenze(n) des Zerfalls brachte, eigentlich keiner weiteren Belege. Seit BelgienBelgien 1830 als ein französischsprachiger StaatStaat gegründet wurde, reißen die Sprach- und Kulturkonflikte nicht ab. Von Beginn der Existenz dieses Staates an und bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts bedienten sich sowohl die flämische als auch die wallonische Aristokratie und Bourgeoisie gleichermaßen des Französischen als dominanter und prestigereicher Sprache und KulturKultur.4 Das Französische dieser Oberschicht kontrastierte im nördlichen Teil des Landes, in FlandernFlandern, mit den von der Landbevölkerung gesprochenen flämischen DialektDialekten, und im südlichen Teil, in WallonienWallonien, mit den ebenfalls von den Volksschichten gesprochenen wallonischen, pikardischen und lothringischen Dialekten. Gegen die monokulturelle ImagoImago der frankophonen Oberschicht entfaltete sich eine flämische Emanzipationsbewegung und forderte ihrerseits Räume, Symbole und Institutionen der EinsprachigkeitEinsprachigkeitinstitutionelle in Flämisch und die Anerkennung ihrer Sprache als offizielle SpracheSpracheoffizielle im Staat. Aber auch nachdem 1962 das Land durch die Festlegung einer SprachgrenzeSprachgrenze in zwei einsprachige Territorien – im Norden mit Flämisch bzw. Niederländisch, im Süden mit FranzösischFranzösisch – geteilt wurde und BrüsselBrüssel als überwiegend französischsprachige Insel im flämischen Sprachgebiet sowie die umliegenden Gemeinden einen Sonderstatus erhielten, waren die Konflikte zwischen Flamen und Wallonen noch längst nicht beigelegt, bis heute nicht (vgl. Erfurt 1992). Flankiert wurden die kulturellen Konflikte von einer Verschiebung des wirtschaftlichen Kräfteverhältnisses, das sich seit den 1960er Jahren deutlich zugunsten Flanderns entwickelte und die Forderungen nach Sezession und Gründung eines eigenen Staates immer lauter werden ließen. Quer zu all diesen Spannungsfeldern lagen noch andere, beispielsweise die der deutschsprachigen MinderheitenMinderheiten im Osten des Landes, auch als NeubelgienNeubelgien bezeichnet, die in den 1970er Jahren als dritte Sprachgemeinschaft – neben den Wallonen und Flamen – anerkannt wurden. Das finstere Kapitel des belgischen KolonialismusKolonialismusbelgischer -, französischer – , britischer – wiederum stand bis in die jüngste Zeit völlig im Schatten der kulturellen Konflikte im Inneren des Landes und ist bis heute lediglich in Ansätzen aufgearbeitet.

Zwei Erkenntnisse sind hier festzuhalten. Erstens, dass grundsätzliche Zweifel am „Neldeschen Gesetz“ bislang nicht zu erkennen sind. Eher bestätigt es sich, angesichts von gesellschaftlichen Dynamiken, unter denen die MigrationMigrationMigrationArbeits-, Bildungs-, Heirats-, Pendel- einen prominenten Platz einnimmt und KulturKultur zu einem Schlüsselelement von gesellschaftlichen und globalen Transformationsprozessen geworden ist, über die im Weiteren noch zu sprechen sein wird. Das heißt auch, dass dem hierbei erforderlichen KonfliktmanagementKonfliktmanagement und den Anforderungen an die Sensibilität der gesellschaftlichen Akteure für Fragen der DiskriminierungDiskriminierung, des Ausschlusses, der Auf-, Ab- oder Entwertung von sozialen Gruppen, von MinderheitenMinderheiten und von IndividuenIndividuum, Individuen und ihren kulturellen Praktiken, im weitesten Sinne also für Fragen der Kultur, wachsende Bedeutung zukommt.

Zweitens, dass in BelgienBelgien im Jahre 1962, als vorläufiges Fazit eines etwa einhundert Jahre währenden Dauerkonflikts, das Prinzip der BikulturalitätBikulturalismus, Bikulturalität als eine Strategie des Konfliktmanagements eingeführt wurde. Bikulturalität bedeutet, dass neben der bislang dominanten französischsprachigen KulturKultur auch die flämisch- bzw. niederländischsprachige Kultur anerkannt wird und das Land von diesem Zeitpunkt an entlang der SprachgrenzeSprachgrenze in zwei einsprachige Territorien geteilt wird.5 Verwaltet wird das Land fortan nach dem TerritorialitätsprinzipTerritorialitätsprinzip, das innerhalb des Staates jeder der beteiligten Gemeinschaften paritätische Vertretung und Machtausübung garantiert.

Am Ende der 1960er Jahre – dies sei hier im Vorgriff auf Abschnitt 2.4 bereits eingeführt – wird mit dem Prinzip der BikulturalitätBikulturalismus, Bikulturalität auch der seit der Gründung Kanadas (1867) virulente KonfliktKonflikt zwischen Frankophonen und Anglophonen befriedet. Allerdings ist dieser Erfolg nur von kurzer Dauer. Er wird sich im Weiteren als problematisch und auf neuerliche Weise konfliktgeladen erweisen. Der Stein des Anstoßes ist die seit 1971 von der kanadischen Bundesregierung praktizierte PolitikPolitikKultur-, Sprachpolitik, Sozial- des MultikulturalismusMultikulturalismus.

2.3 Was ist KulturKultur?

Es ist auch heute noch aufschlussreich sich zu vergegenwärtigen, was sich Anfang der 1980er Jahre auf dem FeldFeld, Feldtheorie der Diskussion über KulturKultur und KulturpolitikKulturpolitik ereignete. Eines der in diesem Kontext bedeutenden Ereignisse, das hier etwas ausführlicher in ErinnerungErinnerung, – in Bewegung gerufen werden soll, ist die zweite Weltkonferenz der UNESCOWeltkonferenz der UNESCO zur Kulturpolitik, mit der 1982 in Mexiko die Verhandlungen von 129 teilnehmenden Staaten ihren Abschluss fanden. Mit dem zeitlichen Abstand von heute zu diesem Ereignis ist es möglich, sich mit den Veränderungen, die sich im Verständnis von Kultur in den letzten Jahrzehnten Bahn gebrochen haben, vertraut zu machen.

 

In den Verhandlungen der Weltkonferenz der UNESCOWeltkonferenz der UNESCO verständigten sich die Staaten auf einen Begriff von KulturKultur, den sie fortan der Gestaltung ihrer KulturpolitikKulturpolitik zugrunde legen sollten. In der Deklaration heißt es,

dass die KulturKultur in ihrem weitesten Sinne als die Gesamtheit der einzigartigen geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Aspekte angesehen werden kann, die eine Gesellschaft oder eine soziale GruppeGruppe kennzeichnen. Dies schließt nicht nur Kunst und Literatur ein, sondern auch Lebensformen, die Grundrechte des Menschen, Wertsysteme, Traditionen und Glaubensrichtungen;

- dass der Mensch durch die KulturKultur befähigt wird, über sich selbst nachzudenken. Erst durch die Kultur werden wir zu menschlichen, rational handelnden Wesen, die über ein kritisches Urteilsvermögen und ein Gefühl der moralischen Verpflichtung verfügen. Erst durch die Kultur erkennen wir Werte und treffen die Wahl. Erst durch die Kultur drückt sich der Mensch aus, wird sich seiner selbst bewusst, erkennt seine Unvollkommenheit, stellt seine eigenen Errungenschaften in Frage, sucht unermüdlich nach neuen Sinngehalten und schafft Werke, durch die er seine Begrenztheit überschreitet.1

Der Kulturbegriff der UNESCOUNESCO2 trägt zwei Fragen Rechnung. Einerseits antwortet er darauf: Was ist KulturKultur? – hierbei handelt es sich um eine inhaltliche Bestimmung. Andererseits geht es um die Frage: Was bedeutet Kultur für den Menschen? – somit rückt eine funktionale Perspektive in den Blick. Hiervon ausgehend geht es der UNESCO darum zu bestimmen, welche Grundsätze die KulturpolitikKulturpolitik der Staaten leiten sollen. Diese Grundsätze erstrecken sich auf kulturelle IdentitätIdentitätkulturelle, ihre Anerkennung, Wahrung, Förderung und ihren Schutz, auf die kulturellen Dimensionen der Entwicklung, auf Kultur und Demokratie, auf das Kulturerbe, das künstlerische und geistige Schaffen und die Kunsterziehung, auf die Beziehung der Kultur zu BildungBildung, Wissenschaft und KommunikationKommunikation bis hin zur internationalen kulturellen Zusammenarbeit. Schließlich mündet die Deklaration der Weltkonferenz in den Aufruf, dass in

einer von Konflikten erschütterten Welt, die die kulturellen Werte der verschiedenen Zivilisationen bedrohen, […] die Mitgliedstaaten […] ihre Bemühungen um die Erhaltung dieser Werte verstärken und noch wirkungsvollere Aktionen zur Förderung der Entwicklung der Menschheit einleiten [müssen]. Die Aufstellung eines dauerhaften Friedens ist allein für das Bestehen der menschlichen KulturKultur von Bedeutung. (ebd.)

Mit der Deklaration von Mexiko verständigen sich somit die teilnehmenden Staaten unter der Ägide eines suprastaatlichen Akteurs auf ein Konzept von KulturKultur, das im Kern auf (kollektive) Identitätsbildung, auf KonfliktmanagementKonfliktmanagement und auf Entwicklung ausgelegt ist und dessen Hauptzweck darin besteht, KulturpolitikKulturpolitik zu betreiben. Kultur erscheint hierbei als ein Begriff im Singular: die Kultur einer Gesellschaft oder einer GruppeGruppe. In ihrer Vielheit betrachtet, somit additiv, ergibt diese Summe der Kulturen von Gesellschaften und Gruppen, was oben als „[die] menschliche Kultur“ gefasst wird.

Was lässt sich aus heutiger Sicht zu diesem Kulturbegriff sagen? Zunächst sei daran erinnert, dass es 1982 – im alltagssprachlichen Sinne wie in den KulturKultur- und Sozialwissenschaften – auch noch andere Verwendungsweisen und Bedeutungen des Wortes Kultur gab3 und dass sich seither die Welt in ihrer Gesamtheit wie in ihren Teilen fundamental verändert hat. Eingebettet ist der WandelWandel des Verständnisses von Kultur und Kulturen in die Veränderungen des Gesellschaftlichen, wie sie in ihren kleinteiligen Formen in Kapitel 1 beschrieben wurden.

In ihrer großen bis globalen Form bestehen die Veränderungen in Ereignissen und Prozessen wie dem Ende des Kalten Kriegs 1989/90, den neuen geopolitischen Konflikten um MachtMacht, -verhältnisse und Einfluss mit den Kriegen in Afghanistan, Irak, auf dem Balkan oder in AfrikaAfrika, im Aufstieg ChinaChinas zu einem globalen Akteur, seit den 2000er Jahren im AusbauAusbausprachlicher – des Internets und der DigitalisierungDigitalisierung, bis hin zum KlimawandelKlimawandel und den weltweiten Gesundheits- und Ernährungskatastrophen, darunter gegenwärtig die Corona-Pandemie.

Ins 19. Jahrhundert zurückreichend, ist in dieser Hinsicht ein Begriff von KulturKultur zu nennen, der im Plural verwendet wird: die Kulturen. Der Begriff der Kulturen ordnet sich in eine Geschichte der Zivilisationen ein, die vom Werden und Vergehen von Kulturen berichtet. Im Französischen und Englischen deckt sich dieser Kulturbegriff oft mit dem der civilisation(s)/civilization(s) (vgl. dazu Braudel 1987, auch NetzwerkNetzwerk Transkulturelle Verflechtungen 2016, 38ff.).4 Verbreitung und öffentliche Aufmerksamkeit gewinnt dieser Begriff der Kulturen, als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der Hochphase der kolonialistischen Expansion europäischer Mächte, Geologen und Ethnologen aufbrechen, um die eroberten Gebiete zu vermessen und ferne („fremde“) Kulturen in AfrikaAfrika, AsienAsien und OzeanienOzeanien zu erforschen. Der Kulturbegriff erhält hierbei eine ethnische Fundierung, indem die kulturellen Praktiken von „Völkern“ und von „Stämmen“, die im Kolonialdiskurs schlicht als „Wilde“ oder „Primitive“ verstanden und den „zivilisierten“ oder „Kulturvölkern“ der Europäer gegenübergestellt wurden, beschrieben werden. Die europäischen Kolonialmächte ihrerseits legitimieren ihre koloniale Expansion als „zivilisatorische Missionzivilisatorische Mission“ (vgl. Tricoire 2017, 2018). Doch geht man fehl in der Annahme, dass es sich hierbei allein um akademische Übungen und um von Neugier getriebene Praktiken der Forschungsreisenden handelte. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts verfolgten die KircheKirchen Hand in Hand mit den staatlichen Autoritäten Programme der Assimilation der indigeneindigenen Bevölkerungen, die heute nicht anders als „kultureller GenozidGenozidkultureller“5 angesehen werden können (vgl. Abschnitt 2.5).

Genau in diesem Spannungsverhältnis ist das Hauptwerk von einem der Gründungsväter der EthnologieEthnologie, des britischen Ethnologen Edward Tylor (1832-1917), angesiedelt. In seinem Buch mit dem doppeldeutigen Titel „Primitive Culture“ (1871) bedeutet das Adjektiv primitive ‚ursprünglich‘, ‚uranfänglich‘, doch zugleich reagiert Tylor damit auf zeitgenössische Diskurse über die KulturKultur von „Primitiven/Wilden“ (vgl. Lentz 2016, 4). An Tylor zu erinnern, drängt sich im vorliegenden Zusammenhang geradezu auf, und dies in zweierlei Hinsicht. Erstens wegen seines Begriffs von Kultur, den er bestimmt als:

jenes komplexe Ganze, welches Wissen, Glaube, Kunst, Moral, Recht, Sitte und Brauch und alle anderen Fähigkeiten und Gewohnheiten einschließt, welche der Mensch als Mitglied der Gesellschaft erworben hat. (zitiert nach Kohl 1993, 130)

Es ist nicht zu übersehen, dass die Kulturdefinition der UNESCOUNESCO von 1982 in ihrem ersten Teil noch ganz in der Tradition von Edward Tylors Kulturbegriff steht. Und zweitens, dass sich Tylor wie später auch die UNESCO von einem Kulturverständnis abgrenzen, wonach sich KulturKultur – nun etwas verkürzt – auf Oper, Theater, Konzert, Literatur und Museen, gegebenenfalls noch auf Film und gutes Essen erstreckt und der Kulturbegriff damit auf ein Verständnis von „HochkulturHochkultur“ verengt wird. Alltagssprachlichalltagssprachlich ist dieses enge Verständnis von Kultur auch heute noch gegenwärtig und weit verbreitet.

Eine Verständigung über den Begriff von ‚KulturKultur‘ ist aus diesem Grunde keine einfache Angelegenheit. Als ein Wort, das so trivial wie geläufig daherkommt (vgl. Baumann 1973, 1, Haug 2011, 15), gibt es nicht zu erkennen, ob es sich beim Reden über Kultur um ein wissenschaftliches Konzept handelt oder um eine Verwendungsweise, die alltagssprachlichalltagssprachlich geprägt ist. Man denke nur an die vielen Komposita im Deutschen, in denen Kultur erscheint, wie Alltagskultur, Herkunftskultur, HochkulturHochkultur, Jugendkultur, Körperkultur, Mayakultur, Nationalkultur, Nischenkultur, Politkultur, Popkultur, SprachkulturSprachkultur, Standeskultur, Unternehmenskultur, Wohnkultur, Vereinskultur und Verkaufskultur, oder an Kulturamt, Kulturbeutel, Kulturerbe, Kulturfestival, Kulturfonds, Kulturgut, Kulturhaus, Kulturkampf, Kulturkanal, Kulturraum, Kultursender, Kulturverfall, Kulturvolk, KulturwissenschaftKulturwissenschaft oder, wieder anders, an die an das lateinische Wort cultura anschließende Bedeutung und Verwendungsweise in Agrikultur, Obstkultur, Pilzkultur, die auch heute noch die einstige und ursprüngliche Bedeutung von Kultur transportieren. Als ein Fachbegriff, der quasi beständig von den alltagssprachlichen Verwendungsweisen unterwandert wird, riskiert er Missverständnisse in der wissenschaftlichen Diskussion, und umgekehrt ist im AlltagAlltag kaum vermittelbar, was sich hinter den fachspezifischen Verwendungsweisen von ‚Kultur‘ verbirgt, wenn zum Beispiel KulturphilosophInnen – auch dieses Wort ist ein Neologismus – von ‚KulturalisierungKulturalisierung‘ anstelle von ‚Kultur‘ sprechen wollen. Auf den Kulturbegriff deshalb zu verzichten, wie es Trouillot (2002) und andere vorschlagen, und ihn durch speziellere Begriffe wie ‚HabitusHabitus‘, ‚DiskursDiskurs‘, ‚MilieuMilieu‘ u.a. zu ersetzen, wäre nur konsequent, schaffte aber die Probleme in der Verständigung über ein so komplexes Phänomen nicht aus der Welt.

Zurück zum Kulturbegriff der UNESCOUNESCO. Bemerkenswert daran ist, dass es sich hierbei nicht um einen Fachbegriff handelt, wie er in den Kreisen von Spezialisten gebraucht wird, sondern um einen ontologisch und anthropologischanthropologisch fundierten Begriff von maximaler gesellschaftspolitischer ReichweiteReichweite, weshalb ihm auch ein erhebliches Maß an normativer Bedeutung zukommt.

Wie bereits erwähnt, bestimmt die UNESCOUNESCO ‚KulturKultur‘ – in der Tradition von Tylor (1871) – nach einem inhaltlichen Kriterium (im ersten Teil) und nach einem funktionalen Kriterium (im zweiten Teil), wobei beide Kriterien als zwei Seiten einer Medaille verstanden werden. Auf diese Weise widersteht dieser Begriff älteren Auffassungen von Kultur6, z. B. Kultur eines Volkes, Kultur einer NationNation oder einer EthnieEthnie oder Kultur im Sinne von „HochkulturHochkultur“, zugleich erscheint er aus heutiger Sicht und im kultur- und sozialwissenschaftlichen Kontext in mehrfacher Hinsicht als revisionsbedürftig. Stichwortartig formuliert besteht die Revision in folgenden Aspekten des Kulturbegriffs:

 die Annahme von HomogenitätHomogenität, die durch DistinktionDistinktion, DifferenzDifferenz und HeterogenitätHeterogenität zu ersetzen ist,

 die inhaltliche und funktionale Bestimmung von KulturKultur, die um eine relationale zu erweitern ist,

 die statische Betrachtungsweise von KulturKultur, die durch eine dynamische zu ersetzen ist,

 die damalige ontologisch und anthropologischanthropologisch fundierte Auffassung von KulturKultur, die heute in wissenschaftlichen Diskursen um eine konstruktivistischkonstruktivistische und handlungstheoretische Bestimmung von Kultur zu erweitern, gegebenenfalls auch zu ersetzen ist,

 die Ablösung des Kulturbegriffs von seiner Vereinnahmung durch den StaatStaat als Akteur von KulturpolitikKulturpolitik und seine Situierung in den MachtMacht, -verhältnisse-, HerrschaftHerrschafts- und KlasseKlassenverhältnissen.

Mit anderen Worten und in gebotener Kürze: In die Deklaration der UNESCOUNESCO von 1982 ist erstens ein Verständnis von KulturKultur eingeschrieben, demzufolge sich Gesellschaften oder Gruppen durch bestimmte Anschauungen, Werte, Traditionen, Glaubensrichtungen, materielle und ideelle Güter bestimmen. Diese Vorstellung von Einheitlichkeit in Bezug auf die gemeinsam geteilten Lebensformen und Lebensstile wird auch als Homogenisierung bezeichnet. Als prototypisch für die homogenisierende Betrachtung ist das Konzept der Nationalkultur zu nennen, wie es zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der Phase der Entstehung der Nationalstaaten entworfen wurde. Wie der NationalstaatNationalstaat selbst ist auch die Nationalkultur von der ImagoImago des Bürgertums von Einheitlichkeit und Vereinheitlichung geprägt, allen voran der einheitliche Markt, einheitliche Maße und Gewichte, einheitliche Sprache und bis hin zu den nationalen Orten und Mythen der ErinnerungErinnerung, – in Bewegung und des Gedenkens.7 Auf diesem Boden können dann auch die stereotypen Bilder von Völkern und Nationen gedeihen, denen gemäß DIE Franzosen, DIE Deutschen, DIE Russen glauben, fühlen, denken, dass … , arbeiten, essen und trinken gern …. und verhalten sich (wie) …..

 

Wie Bhabha (1994) und andere KulturwissenschaftlerInnen zeigen, sind derartige Zuschreibungen eines gemeinsamen Nenners höchst fragwürdig; nicht anders die Annahme einer Übereinstimmung von Gemeinschaft und TerritoriumTerritorium, oder eines von den Angehörigen einer KulturKultur gemeinsam geteilten WissenWissens, weshalb grundsätzliche Zweifel am Postulat der HomogenitätHomogenität angebracht sind.8 Bekanntermaßen können die Differenzen innerhalb einer Kultur größer sein als beispielsweise die zwischen Personen verschiedener Kulturen. Ganz in diesem Sinne hat sich inzwischen die Erkenntnis durchgesetzt, dass Kultur und Kulturen nicht als homogen, sondern in ihrer DifferenzDifferenz (u.a. Hall 2018, 101ff.) und mit Begriffen der DistinktionDistinktion (Bourdieu 1979) und der HeterogenitätHeterogenität zu modellieren sind (vgl. Blackledge/Creese 2014, Castellotti 2017, Dirim/Mecheril 2018). Ansätze, welche die Differenz und Heterogenität in und von Gemeinschaften zum Ausgangspunkt nehmen, sind daher prinzipiell besser geeignet, die soziokulturelle Komplexität, die Vielschichtigkeit, die Verwobenheit in den Griff zu bekommen. Das gilt für die Kultur von Gemeinschaften nicht anders als für die des Individuums. Mischungen und HybriditätHybridität (vgl. Kapitel 4) sind sozusagen allgegenwärtig. Dies ist nicht erst als eine Folge der Beschleunigung der GlobalisierungGlobalisierung zu verstehen, sondern war auch früher schon der Fall (vgl. Borgolte/Schneidmüller 2010).

Der zweite Ansatz für die Revision ergibt sich daraus, dass im Kulturbegriff von 1982 die relationale Dimension9, d.h. die Beziehungen, die zwischen koexistierenden Kulturen stattfinden, auf InteraktionInteraktion basieren und handlungstheoretisch zu begründen sind, noch keinen Platz hat. Einen exemplarischen Ausdruck findet die Vorstellung von der Vielheit der Kulturen im Konzept der MultikulturalitätMultikulturalität. Allerdings wird hierbei die Vielheit lediglich in ihrer Addition, in ihrem Nebeneinander oder Nacheinander verstanden, nicht aber als das Miteinander von in Beziehung tretenden Entitäten, Gruppen oder Akteuren und den in diesem Kontext erforderlichen Formen und Prozessen des Aushandelns von Differenz und von KonflikKonfliktten. Dass der KontaktKontakt ein Motor der Veränderung ist, kann als ausgemacht gelten. Er manifestiert sich in einer breiten Palette von Prozessen und Beziehungen der InteraktionInteraktion von Akteuren und den Resultaten ihres Handelns und Verhandelns.

Drittens liest sich der damalige UNESCOUNESCO-Begriff von KulturKultur aus heutiger Sicht als statisch, als ein Begriff, der auf Beschreibung eines Zustandes und auf Inventarisierung von Formen und Praktiken ausgelegt ist. Die vielfältigen Prozesse der Veränderung der Gesellschaften, der Gruppen und IndividuenIndividuum, Individuen, die Diversifizierung dessen, was als Kunst, Kultur und Literatur, und allgemeiner als geistige, materielle, intellektuelle und emotionalemotionale Aspekte überhaupt angesehen und was als Werte, Traditionen und Glaubensrichtungen von den Akteuren wahrgenommen und in ihrer Verwobenheit gelebt wird, verlangen jedoch nach einer anderen als der statischen Betrachtung. Es geht darum, sowohl das So-geworden-Sein der kulturellen Subjekte als auch ihr „Machen“ und ihr „Werden“ zu verstehen. Dies verlangt nach einem dynamischen, an den Prozessen und den Akteuren orientiertem Verständnis von Kultur, wie es auch in diesem Buch zur Diskussion gestellt wird.

Ein vierter Ansatz für die Revision knüpft an das ontologisch und das anthropologischanthropologisch fundierte Kulturverständnis der UNESCOUNESCO an, wonach das Wesen von KulturKultur sowohl in der Ordnung der Welt (somit ontologisch) als auch in den handelnden Menschen mit ihren Vorstellungen (Identitäten, Glaube u.a.), Wert- und Wahrnehmungsmustern und Praktiken (somit anthropologisch) besteht, aus heutiger Sicht um eine konstruktivistischkonstruktivistische Bestimmung zu erweitern ist. KonstruktivismusKonstruktivismus geht davon aus, dass unser WissenWissen auf Konstruktionsprozessen basiert, wie auch unsere Wirklichkeit gesellschaftlich konstruiert ist, um an den Titel des Buchs von P. Berger und T. Luckmann (1966) anzuschließen. Eine der zentralen Thesen lautet dabei, dass die Wirklichkeit beobachtungsabhängig ist. Je nach Standpunkt, Interesse, Person usw. sehen wir sie anders und sehen etwas Anderes. Damit einher geht der Zweifel an der Gültigkeit oder Angemessenheit tradierter Vorstellungen von Kultur, womit die Tür für eine DekonstruktionDekonstruktion des Kulturbegriffs weit geöffnet wird. So etwa gegenüber den Kulturkonzepten des bedeutenden französischen Ethnologen Claude Lévi-Strauss oder des amerikanischen Anthropologen Clifford Geertz, die Kultur als umfassendes Symbolsystem betrachten, das alle Ausdrucksformen einer Gemeinschaft prägt, von den Soziabilitätsformen über die Alltags- oder Festtagsriten bis zur ErziehungErziehung, und sich als handlungsleitender Code beschreiben lässt. Für den Anthropologen Geertz rückt dabei die identitäre Dimension in den Vordergrund:

Die KulturKultur einer Gemeinschaft […] besteht in dem, was man wissen oder glauben muss, um in einer von den Mitgliedern dieser Gesellschaft akzeptierten Weise zu funktionieren. Und aus dieser Auffassung von Kultur folgt eine ebenso eindeutige Auffassung davon, was es heißt, eine Kultur zu beschreiben: nämlich ein System von Regeln aufzustellen, das es jedem, der diesem ethnographischen Algorithmus gehorcht, möglich macht, so zu funktionieren, dass man (von der physischen Erscheinung einmal abgesehen) als Eingeborener gelten kann. (Geertz 1973, hier zitiert nach Geertz 1983, 17)

Gegenüber dieser an der Gemeinschaft orientierten Auffassung von KulturKultur stellt der KonstruktivismusKonstruktivismus eine Provokation dar. Zugespitzt formuliert heißt es zum Beispiel bei dem Ethnologen P. Kohl (2013, 20): „Jegliche Annahme von Kultur muss daher als individuell konstruiert angesehen werden“. Als Soziologe kommt H. Griese zu einem ganz ähnlichen Befund, wenn er Kultur als einzigartiges Merkmal eines jeden Individuums betrachtet und schlussfolgert: „Es gibt zumindest so viele Kulturen wie Subjekte“ (Griese 2006, 21). Oder anders formuliert, der Perspektivenwechsel auf die gesellschaftliche Bedingtheit von Kultur, der mit dem Konstruktivismus10 einhergeht, besteht darin, dass Kultur nicht mehr als das verstanden wird, was eine GruppeGruppe bestimmt und was deren Mitglieder teilen, sondern als das, was den Einzelnen formt und wie er damit umgeht.11 Von hier aus erschließen sich eine Reihe weiterer Blickrichtungen auf Kultur, die in den beiden folgenden Abschnitten dargestellt werden und der Logik dieses Kapitels folgen, Kultur(en) im KonfliktmanagementKonfliktmanagement zu betrachten.

Der fünfte Ansatz, schließlich, geht davon aus, dass ihm Rahmen der UNESCOUNESCO Staaten bzw. staatliche Akteure den Kulturbegriff für die Zwecke von staatlicher KulturpolitikKulturpolitik verhandelt haben. Daraus ergeben sich Fragen einerseits nach dem Verhältnis von StaatStaat und KulturKultur und allgemeiner danach, wie Kultur und Kulturen im Kontext der MachtMacht, -verhältnisse-, HerrschaftHerrschafts- und KlassenverhältnisseKlasse, -nverhältnisse, speziell im Kapitalismus, zu situieren sind und wie sich die „herrschende Kultur“ zu alternativen Kulturen und „Gegenkulturen“ zur „herrschenden Kultur“ verhalten. Andererseits stellt sich die Frage nach der ökonomischen Dimension des Kulturellen, sowohl im Hinblick auf die kapitalistische Kulturindustrie und ihre transnationalen Kapitalverflechtungen und Verwertungsprozesse als auch auf die sozioökonomische UngleichheitUngleichheitsozioökonomische der Menschen und deren Auswirkungen auf kulturelle Praktiken. Diese Zusammenhänge wurden immer wieder von marxistischen oder marxistisch inspirierten KultursoziologInnen, PhilosophInnen und ÖkonomInnen aufgegriffen. Für viele von ihnen, darunter Stuart Hall, Pierre Bourdieu und Wolfgang Fritz Haug, ist für die Ausarbeitung ihrer Theorien und Analysen zu Kultur und kulturellen Verhältnissen die Beschäftigung mit dem Werk von Antonio Gramsci von zentraler Bedeutung.12