Transkulturalität - Prozesse und Perspektiven

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4.2 MischungMischung und HybriditätHybridität

Über Mischungsprozesse und die MischungMischung von Sprachen hat bereits am Ende des 19. Jahrhunderts der Romanist und Kreolsprachenforscher Hugo Schuchardt viel Grundsätzliches geschrieben, was auch heute noch Bestand hat (vgl. Abschnitt 5.4.1). Heutzutage ist allerdings mehr von HybriditätHybridität als von Mischung die Rede. Das Wort hybrid, als Adjektiv, als Substantiv oder als Bestandteil in Komposita, begegnet uns in vielen Situationen: Autos fahren mit Hybridmotoren, Computer funktionieren mit Hybridfestplatten, im Bauwesen werden Verbundbaustoffe wie Stahlbeton als Hybride bezeichnet. Von lateinisch hybrida für ‚Mischling’, ‚Bastard’, auch ‚frevelhaft’ (aus griechisch hýpris) abgeleitet, bezieht sich ‚hybrid‘ auf ‚Vermischtes’, ‚Gekreuztes’ oder ‚Gebündeltes’. In der Zoologie gilt ein Maulesel, der durch Kreuzung aus Pferd und Esel entstanden ist, als Hybride. Aus der Vererbungs-, Kreuzungs- und Rassenbiologie des 19. Jahrhunderts geht der Begriff im Laufe der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, nun stark negativ konnotiert, in die nationalsozialistische „Rassenhygiene“ ein. Eine Um- und Aufwertung erfährt er Jahrzehnte später, insbesondere in der Kolonialismuskritik und den Studien der Postkolonialismusforschung, wo er zunächst von dem in Mexiko tätigen argentinischen Anthropologen Néstor García Canclini (1989) erneut aufgegriffen und von Forschern wie Edward Said und vor allem von Stuart Hall und Homi Bhabha in den 1990er Jahren weiter verbreitet wird (Bhabha 1994, Hall 1994, 2003, 2018). Seither gehören Hybridität und HybridisierungHybridisierung zu den Leitbegriffen in postkolonialen Theorien und in Diskussionen über multiple Modernitäten und die Komplexität von KulturkontaktKontakten und kulturellen Dynamiken.

Der Begriff ‚HybriditätHybridität’ bezieht sich auf den Zustand des Gemischtseins, ‚HybridisierungHybridisierung’ wiederum benennt den zu hybriden Merkmalen führenden Prozess. Literaturen und Sprachen, Esskulturen, Kleidung und Mode, Architektur, die darstellenden und angewandten Künste sind Felder, auf denen sich durch die Geschichte hindurch zahlloses Anschauungsmaterial für kulturelle Mischungsprozesse und von Hybridität/Hybridisierung finden lässt.

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Phänomenen von HybriditätHybridität hat nicht zuletzt aufgrund unterschiedlicher fachlicher Traditionen und der Nichtwahrnehmung des Forschungsstandes anderer Disziplinen als der eigenen (vgl. dazu Burke 2009, 34) dazu geführt, dass wir es heute mit einer großen Vielfalt an einschlägigen Konzepten und sich nicht selten überlappenden Phänomenen zu tun haben, weshalb sich Burke (2009) veranlasst sieht, sich mit Begriffen wie den folgenden auseinanderzusetzen: accomodation, acculturation, adaptation, amalgamation, appropriation, assimilation, borrowing, corruption, creolization, dialogue, digestion, ecotype, exchange, fusion, globalization, glocalization, heterogenization vs. standardization, heteroglossia, hybridity, imitation, interpenetration, localization, melting pot, métissage, mixing, negotiation, plagiarism, polyphony, the stew, syncretism, transculturation, transfer transferund translation (ebd., 34-65).

Zur Illustration dessen, wie man sich kulturelle Mischungen, hier in Form von sprachlichen Mischungen, vorstellen kann, sei der Text des Erfolgschansons von Marie-Jo Thério „A MonctonMoncton“1 angeführt. Auch ohne vertiefte Kenntnisse des Französischen, des Englischen und speziell der Sprachformen des ChiacChiac, um das es hier geht, ist erkennbar, wie in diesem Liedtext verschiedene Sprachen „ineinanderlaufen“.

Gisèle j’te callais ienque de même à cause c’est boring à soir pis et qu’y a rien qui va on à MonctonMoncton c’est weird pareil pour un samedi soir à Moncton Gisèle j’te callais ienque de même I hope j’te bother pas I guess que j’faisais rien J’avais des histoires à t’conter J’ai coaxé Mike at least trois fois pour qu’il vienne watcher un movie avec moi but y veut rien savoir si qu’le High School pouvait ienque finir : well on s’rait ben à « Parlee Beach » au soleil Gisèle quoi c’est qu’toi tu fais c’t’été ? I guess qu’t’as déjà trouvé une job fulltime un boyfriend pour t’embrasser Gisèle moi j’feel ben stuck icitte on dirait que j’peux pu bouger mais que l’automne seye là well j’serai déjà long gone ! But à soir j’te callais ienque de même à cause c’est boring pis qu’y a rien qui va on à Moncton pis quand c’que j’start à penser aux années qui s’en v’nont well j’sais pas trop y’où c’est que j’vas fitter dans la vie pis watch moi ben quand j’aurai pris la go ben stallée dans des pensées de Moncton.

Die aus der ostkanadischen Region AcadieAcadie stammende Sängerin Marie-Jo Thério singt ihr Chanson in ChiacChiac, in einer Mischvarietät aus FranzösischFranzösisch, akadischem Französisch und kanadischem EnglischEnglisch, so, wie diese Varietät in der Stadt MonctonMoncton und darüber hinaus im Südosten der Provinz Nouveau-BrunswickNouveau-Brunswick/New Brunswick/New Brunswick verbreitet ist. Selbst ohne detailliert die sprachliche Struktur dieses Textes zu analysieren, wird augenfällig, dass das Chiac, syntaktisch gesehen, weitgehend der Grammatik des Französischen folgt, in der Lexik jedoch unübersehbar vom Englischen geprägt ist.2 In der Lautung und in der Morphologie klingt die akadische Varietät des Französischen an.3 All diese verschiedenen Sprachformen laufen in diesem Text ineinander und verschmelzen zu einer sprachlichen Varietät4 und einer ästhetischen Form, in der sich offenbar – der Erfolg dieses Chansons zeigt es – viele Menschen in dieser Region und weit darüber hinaus in der kanadischen FrankophonieFrancophonie/Frankophonie wiedererkennen und angesprochen fühlen.5

Wie lässt sich dieser Text, der als ein Beispiel für HybriditätHybridität angeführt wird, deuten? Er verweist auf zwei Dimensionen:

erstens, auf die soziale Situierung des Chiacs entlang der SprachgrenzeSprachgrenze von FranzösischFranzösisch und EnglischEnglisch, die in der AcadieAcadie bzw. in KanadaKanada/Canada zugleich eine GrenzeGrenze(n) innerhalb von sozialen HierarchienHierarchien ist, mit Französisch als marginalisierter MinderheitenspracheMinderheitensprache und Englisch als dominanter Sprache;

zweitens, auf eine Varietät im urbanen und semiurbanen MilieuMilieu in Stadtvierteln von MonctonMoncton, die als ‚milieux défavorisés’, als arm, benachteiligt, bildungsfern gelten und in denen sich nicht selten frankophone Zuwanderer aus anderen Regionen von Nouveau-BrunswickNouveau-Brunswick/New Brunswick bzw. der AcadieAcadie niederlassen.

ChiacChiac zu sprechen galt lange Zeit – und gilt auch heute noch – als soziales Stigma.6 Denn Chiac zu sprechen bedeutet, gegen die sprachlichen Normen und die sozialen Konventionen der Sprachbeherrschung, wie sie von den Bildungsinstitutionen vertreten und von anderen sprachpolitischen Akteuren wie Medien, Buch- und Zeitschriftenverlagen verbreitet werden, zu verstoßen, und dies sowohl im Französischen als auch im Englischen.7 Und umgekehrt, wer Chiac spricht und wer die Sprachen auf diese Weise „malträtiert“, der zeige, dass er weder die eine noch die andere Sprache beherrscht und ungebildet ist, wie einer der weit verbreiteten Vorbehalte gegenüber dem Chiac lautet. Ausgerichtet ist dieser Vorbehalt an der Vorstellung von EinsprachigkeitEinsprachigkeit und dem ‚guten Gebrauch’ („le bon usage“) der Sprache, die im Zentrum einer Sprachideologie stehen, die spätestens seit der Französischen Revolution eine der tragenden Säulen des sprachlichen NationalismusNationalismus darstellt. Diese Ideologie bedient sich dabei nicht zuletzt des Mythos, dass seit biblischen Zeiten die Einsprachigkeit des Menschen der Normalfall sei. Auf ihr lastet, als göttlicher Fluch, die MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit, die aus der Sprachverwirrung seit dem Turmbau zu Babel resultiere. Die Einsprachigkeitsideologie geht mit der Vorstellung von der Reinheit der Sprache und mit Bewertungen wie „gute Sprache“ im Gegensatz zu „schlechter“, „verdorbener“ oder eben vermischter Sprache einher, wofür das Chiac als Paradebeispiel genannt werden kann. Dessen stark negativem Image zum Trotz engagieren sich seit den 1990er Jahren akadische SchriftstellerInnen und MusikerInnen, darunter Marie-Jo Thério und der von ihr verehrte Lyriker und Sänger Gérald Leblanc (1945-2005) dafür, dieses Bewertungsmuster, das vor allem in den Mittelschichten verbreitet ist, infrage zu stellen und umzukehren, indem sie ihrerseits Gedichte, Lieder und Romane in dieser Mischvarietät verfassen. In ihren Texten drückt sich das Potential von devalorisierten Varietäten, wie es das Chiac und wie es hybride Formen im Allgemeinen sind, für die politische MobilisierungMobilisierung von marginalisierten Gemeinschaften aus, „um eine Gegenposition zum HerrschaftsdiskursHerrschaftsdiskurs aufzubauen und die dominante Norm in Frage zu stellen“ (Budach 2005, 41). Oder auch, nun stärker ins Reflexive gewendet, um das „bestehende Spannungsverhältnis zwischen sprachlicher Norm und nicht-normierten Varietäten“ zu nutzen, „um soziale Zusammenhänge und Widersprüche sichtbar zu machen und um auszuloten, was HybriditätHybridität […] zur selten widerspruchsfreien Verortung von IndividuenIndividuum, Individuen in ihrem gesellschaftlichen Umfeld beitragen kann“ (ebd.).

Sprachliche Mischungen wie die im ChiacChiac sind vielfältig und finden sich in allen möglichen Kontaktverhältnissen wieder. Besonders häufig sind sie bei SprecherInnen in von MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit geprägten Grenzregionen und im urbanen MilieuMilieu.8 In der langen Reihe von Beispielen für derartige Sprachmischungsprozesse und Mischsprachen findet sich das YanitoYanito/Llanito (Llanito) in Gibraltar als MischungMischung aus britischem EnglischEnglisch, Kastilisch und andalusischem SpanischSpanisch. Ebenfalls den KontaktKontakt von Englisch und Spanisch betreffend, doch sehr viel weiter verbreitet als an der Südspitze der iberischen Halbinsel, sind die Mischungen in der Sprachpraxis bilingualer hispanics in den USAUSA, die oft, wenn auch nicht ganz zutreffend, als SpanglishSpanglish bezeichnet wird. Im Grenzgebiet von Brasilien, UruguayUruguay und Argentinien ist das Portuñol oder FronterizoPortunol, Fronterizo als Mischvarietät aus argentinischem Spanisch und brasilianischem PortugiesischPortugiesisch verbreitet. Das MitchifMitchif wiederum gilt als Mischvarietät aus FranzösischFranzösisch und der Sprache der Cree und wird von den Métis („Mestizen“) in den kanadischen Provinzen Manitoba und SaskatchewanSaskatchewan gesprochen. Die MigrationMigrationMigrationArbeits-, Bildungs-, Heirats-, Pendel- von Italienern nach Argentinien hat ihre Spuren im CocolicheCocoliche hinterlassen, die Migration ihrer Landsleute nach KanadaKanada/Canada im ItalieseItaliese, Italianese, wie es in Montréal heißt, bzw. im Italianese, wie dieses gemischtsprachliche Sprechen in Toronto genannt wird. Im NouchiNouchi in Abidjan und in anderen Städten der Elfenbeinküste kreuzen sich verschiedene afrikanische Sprachen, Französisch und das français populaire ivoirien zu einer neuen Sprache.9 In das Spektrum dieser SprachmischungSprachmischung gehört im slavischen Kontext das Suržyk als russischbasierte Mischvarietät in der UkraineUkraine (vgl. Voss 2013) und, um ein letztes Beispiel zu nennen, auch die Kanak SprakKanak Sprak – so die Bezeichnung des Schriftstellers Feridun Zaimoğlu –, wie sie vorwiegend von zweisprachig aufwachsenden TürkInnen der zweiten und dritten Einwanderungsgeneration in DeutschlandDeutschland praktiziert wird.

 

Anhand dieser Beispiele ist bereits zu erkennen, dass es sich bei diesen Varietäten um mündliche, seltener auch um verschriftete Artikulationsformen, um Prozesse des „Gemischt­sprechens“ handelt, bei denen die SprecherInnen aus einem mehrspra­chigen Repertoire schöpfen (vgl. Auer 1999, Hinnenkamp/Meng 2005, Rampton 1995) und „Multi-Sprech“-Varietäten kreieren (vgl. Erfurt 2003). Das Spektrum reicht dabei von ad hoc-Bildungen mehrsprachigMehrsprachigkeiten Sprechens bis zu einer Sprach­praxis, deren Formen wiedererkennbar und sprachlich relativ verfestigt sind, wie dies beim ChiacChiac oder beim NouchiNouchi der Fall ist.

García Canclini (1989), der, wie oben bereits angedeutet, das Begriffsfeld von HybriditätHybridität und HybridisierungHybridisierung maßgeblich prägte, greift damit zunächst in die Modernisierungstheorie der lateinamerikanischen Gesellschaften im späten 20. Jahrhundert ein. Hierbei geht es ihm darum, eine Methode zum Verständnis der neuen kulturellen Prozesse auf diesem Subkontinent zu entwickeln. Ein Subkontinent, auf dem sich die Widersprüche und KonfliktKonflikte in den ökonomischen, kulturellen und demografischen Verhältnissen immens zugespitzt und MigrationMigrationMigrationArbeits-, Bildungs-, Heirats-, Pendel- und Urbanisierung rasant zugenommen haben, wo Elitekultur und PopulärkulturPopulärkultur, autochthone Kulturen und McDonaldisierung aufeinanderprallen und wo Kulturformen entstehen, die sinnvoll weder in den Kategorien der einen noch der anderen Kulturform verstanden werden können. Im Unterschied zu dem viel zitierten Homi Bhabha sind die Untersuchungen des Anthropologen García Canclini auf konkreten Feldern angesiedelt und erstrecken sich insbesondere auf Hybridisierungsprozesse im Zuge von Urbanisierung. Er analysiert, wie MigrantInnen aus ländlichen Räumen in den Städten ihr traditionelles WissenWissen und ihre handwerklichen Erfahrungen an moderne städtische Produktionstechnologien anpassen, oder wie indigene Bewegungen ihre Forderungen im Kontext transnationaler und ökologischer Politikkonzepte reformulieren und dabei lernen, für ihre Ziele die modernen Medien zu nutzen. Hybridisierung bezieht sich auf Phänomene, die in der InteraktionInteraktion, und nicht selten in der Konfrontation verschiedener Kulturen entstehen und auf MischungMischung basieren. Mischung bedeutet für García Canclini vor allem eine Verschiebung von GrenzenGrenze(n); sie kommt zustande durch eine ErosionErosion alter Identifikationsmuster. Aber auch der umgekehrte Fall ist in Betracht zu ziehen, nämlich dass die Verschiebung von Grenzen der Motor für Mischungsprozesse ist. Es sind nicht nur Menschen, die sich über Grenzen bewegen und auf diese Weise mit anderen in Kontakt treten, sondern oft auch Grenzen, die sich über Menschen bewegen, denken wir an Regionen wie das ElsassElsass, die BukowinaBukowina, GalizienGalizien, oder an die territorialen und so auch kulturellen Neuordnungen nach dem Ende des KolonialismusKolonialismus in AfrikaAfrika, in SüdostasienSüdostasien (Indochina) oder nach dem Zerfall Jugoslawiens (vgl. die Beiträge in Kratochvil et al. 2013).

Das Thema der Mischungsprozesse, wie es mit dem Begriff der HybriditätHybridität/HybridisierungHybridisierung abgebildet wird, ist in seiner kulturanalytischen und emanzipatorischen Dimension keineswegs neu.10 Als métissage spielt es bereits im anti- und postkolonialen DiskursDiskurs der afrikanischen und karibischen Kulturdiskussion der sechziger Jahre eine Rolle, wie es später auch in Form des Konzepts der creolité/créolisation unter karibischen Literaten und Intellektuellen (vgl. Confiant/Ludwig/Poullet 2002) das Spannungsverhältnis von kolonialer Geschichte, lokaler kultureller IdentitätIdentitätkulturelle und GlobalisierungGlobalisierung, hier verstanden als eine Art neuer kultureller Homogenisierung (Kolonialisierung?), absteckt. War métissage zunächst im KolonialismusKolonialismus stark mit der Vorstellung von „Rassenvermischung“ verbunden, löste sich der Begriff in der postkolonialen Zeit von dieser problematischen Bedeutungsebene und avancierte zu einem Konzept, das die Multidimensionalität und die Komplexität kultureller Mischungsprozesse zu beschreiben versucht.

In theoretischer Hinsicht wird vor allem in der literaturwissenschaftlichen Forschung zur HybridisierungHybridisierung auf Michail Bachtins kultursemiotisches Konzept rekurriert. In der sprachwissenschaftlichen Rezeption von Bachtin wird dieser im Zusammenhang mit Begriffen wie double voicing bzw. double voice writing zitiert, d.h. jenem Verständnis von der Redevielfalt im Roman, die aus ihm ein ‚synkretistisches Gebilde’ macht. Die verschiedenen Sprechweisen, aus denen nach Bachtin ein Roman komponiert ist, formen das textuell Hybride als dialogisches Spiel „auf der GrenzeGrenze(n) zwischen dem Eigenem und dem Fremden“ (Bachtin 1979, 185).11

In den letzten Jahren hat in den Kulturwissenschaften und nicht weniger umfangreich in literarischen und literaturwissenschaftlichen Diskursen – in prominenter Weise in den Forschungen des Romanisten Ottmar Ette (u.a. 2005, 2010, 2012) – eine Auseinandersetzung über die sozialen Identifikationsprozesse und die Querungen im Spannungsfeld von Lokalität und Globalität stattgefunden, in deren Verlauf eine „Perspektivumkehrung“ hinsichtlich der kulturellen Asymmetrien und der Bewertung von MischungMischung/Kreuzung zu konstatieren ist. So gilt in den minorisierten Kulturen wie etwa im karibischen kreolophonen Raum (vgl. Confiant/Ludwig/Poullet 2002) HybriditätHybridität neben créolité/créolisation als ein emanzipatorisches Konzept und drückt einerseits regionale IdentifikationIdentifikation gegenüber der Dominanz eines Nationalsprachenmodells – hier des französischen – aus, das als repressiv wahrgenommen wird. Andererseits gilt das Regionale bzw. Insuläre nicht als das Singuläre und Isolierte, sondern vielmehr, so zumindest in den karibischen Räumen, als Kreuzungspunkt weltweiter KulturkontaktKontakte und Migrationsbewegungen. Hybridität als ein Konzept im Rahmen von kultureller HeterogenitätHeterogenität gilt zumindest da, wo sich die in einer Minderheitensituation befindlichen Gemeinschaften nicht auf neue Weise in das Fahrwasser des NationalismusNationalismus begeben, als eine alternative, bisweilen auch als widerständige Kulturkonzeption.

Auch für die MediävistikMediävistik, die Archäologie und die GeschichtswissenschaftGeschichtswissenschaft ist das Konzept von HybriditätHybridität/HybridisierungHybridisierung attraktiv, wie sowohl die Beiträge in Stockhammer (2012), die Untersuchungen des Netzwerks Transkulturelle Verflechtungen (2016) als auch die Beiträge in Drews/Scholl (2016) eindrucksvoll zeigen. In diesen Bänden wird der Hybridisierung einerseits ein Platz unter den kulturellen InteraktionInteraktionsformen zugewiesen und erscheint somit in unmittelbarer Nachbarschaft oder Verwandtschaft mit Konzepten des KulturtransfersKulturtransfer, der histoire croisée, des Netzwerks, des Palimpsests und anderen. Andererseits, und darin liegt der eigentliche Reiz, wenden sich die AutorInnen einer großen Vielfalt von mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Verflechtungen von Religionen, Heilsgeschichten, literarischen Motiven, Schriftgestaltungen, Malerei-Techniken und -traditionen usw. zu, die es erlauben, den Erkenntniswert der Konzepte an konkreten empirischen Befunden darzustellen.

In den letzten Jahren mehren sich die Stimmen, die sich kritisch zum Konzept der HybriditätHybridität äußern, die ihm eine nur kurze Halbwertszeit zugestehen und die eine Phase der „Post-Hybridität“ eingeläutet sehen wollen. In dieser Hinsicht aufschlussreich sind einige der Beiträge in Ette/Wirth 2014. Wiemann (2014) trägt darin aus der Sicht des anglistischen Literaturwissenschaftlers die Argumente von Kritikern von Bhabhas Hybriditätskonzept zusammen. Schon in den 1990er Jahre bündele sich die Kritik an Bhabhas Konzept in dem Vorbehalt, dass es, so Wiemann, „hinter dem eigenen Rücken jene Essentialismen, kulturellen Reinheitsgebote und identitären Ideologien und Praktiken perpetuiere“ (ebd., 170), gegen die es überhaupt erst entworfen wurde. Spätestens seit der Jahrtausendwende sei an die Stelle dieser Kritik eine andere getreten. Ausgangspunkt dieser neuen Kritik seien die strukturellen Affinitäten zwischen postmoderner Flexibilisierung und den Vorstellungen über Hybridität. Aufschlussreich wird dieser Zusammenhang von Ha (2010) diskutiert, indem er zeigt, wie Hybridität „zum Inbegriff unbegrenzter Flexibilität, Innovations- und Wandlungsfähigkeit stilisiert“ und zum „Leit- und Strukturprinzip urbaner Industriegesellschaften erhoben“ (Ha 2010, 217) wird. War Hybridität in früherer Zeit noch „mit der Aura subversiver und transformatorischer Energie umgeben, erscheint sie nun nicht nur ihres dissidenten Potentials beraubt, sondern als kulturelle Isomorphie eines selbst auf Hybridität basierten globalen Kapitalismus“, weshalb das Hybriditätskonzept seinen Gegner verloren habe und offene Türen einrenne (Wiemann 2014, 171).

Es stellt sich die Frage, wie weit diese Kritik an der HybriditätHybridität tatsächlich trägt und ob das Einläuten einer Phase der „Post-Hybridität“ nicht vielmehr Ausdruck einer gewissen enthistorisierenden Verselbstständigung kulturtheoretischer Debatten in der jüngeren Vergangenheit ist. Denn viel zu oft lässt sich in der kaum mehr überschaubaren kulturtheoretischen Diskussion über Hybridität/HybridisierungHybridisierung eine Rückbindung der TheorieTheorie der unsichtbaren Hand sowohl an die Methoden und die Daten der Forschung als auch an eine sozial situierte und historische konkrete Empirie nicht (mehr) erkennen. Stattdessen werden viele Kräfte mit ausschließlich theoretischen Erwägungen gebunden. Sinnvoll erweisen sich hingegen Analysen wie die von Ha (2010) über die Verortung und Funktion von Hybridität in der Geschichte der Technik, der Biologie, der kolonialen Rassentheorie und schließlich in der Reproduktion globalkapitalistischer Verhältnisse. In ihrer historisch konkreten Perspektivierung knüpfen sie an das an, was García Canclini bereits vorgemacht hat, wenn er in die Prozesse und Formen sozialen Wandels hineingeht und an Quellen und Material bislang unbekannte Aufschlüsse zu kulturellen Dynamiken ermöglicht. In dieser Hinsicht ist das Erkenntnispotential, das sich mit dem Konzept der Hybridität/Hybridisierung verbindet, längst noch nicht ausgereizt.

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