Buch lesen: «Öffentliches Wirtschaftsrecht», Seite 30

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c) Genehmigungsfiktion

268

§ 6a GewO normiert für verschiedene genehmigungsbedürftige Gewerbe, vor allem das Reisegewerbe (§ 55 Abs. 2 GewO)[249], eine Genehmigungsfiktion. Diese wurde im Zusammenhang mit der Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie eingeführt, gilt aber unterschiedslos auch für inländische Gewerbetreibende. Die Genehmigungsfiktion entfaltet die gleiche Wirkung wie eine Genehmigung. Der Antragsteller ist also so zu behandeln, als sei er im Besitz der entsprechenden Erlaubnis; es spielt auch keine Rolle, ob die Erlaubnis hätte erteilt werden dürfen, die fingierte Erlaubnis also rechtswidrig ist. Für Rücknahme und Widerruf gelten die allgemeinen Vorschriften (▸ Klausurenkurs Fall Nr 4 Rn 103).

Die Modalitäten der Genehmigungsfiktion ergeben sich aus § 42a VwVfG. Wird über einen Antrag auf Erteilung einer Erlaubnis nicht entschieden, gilt diese nach Ablauf von 3 Monaten als erteilt, vgl § 42a VwVfG[250]. Die Frist beginnt nach § 42a Abs. 1 S. 1 VwVfG mit Eingang der vollständigen Unterlagen bzw der behördlichen Mitteilung über die Vollständigkeit[251] zu laufen und kann nach § 42a Abs. 2 S. 3 VwVfG einmal verlängert werden. Der Antragsteller hat demnach nicht nur Anspruch auf eine Bestätigung der Fiktionswirkung nach § 42a VwVfG, ihm ist vielmehr zB auch eine Reisegewerbekarte auszustellen. Nicht erfasst werden andere Erlaubnisse, etwa die Ausnahmeerlaubnis nach § 56 Abs. 2 S. 3 GewO.

§ 3 Das Gewerberecht › II. Die Kontrolle des stehenden Gewerbes

II. Die Kontrolle des stehenden Gewerbes

1. Anzeige der Aufnahme eines stehenden Gewerbes (§ 14 GewO)

269

Fall 17:

Die „Scientology Kirche eV“ wirbt für ihre Tätigkeit durch den Verkauf von Büchern und Broschüren und sogenannter Elektrometer. Außerdem veranstaltet sie Seminare zu deutlich die Selbstkosten übersteigenden Preisen. Die zuständige Behörde fordert die Gemeinschaft in einem mit Rechtsmittelbelehrung versehenen Bescheid auf, ihrer Anzeigepflicht nach §§ 1, 14 GewO nachzukommen. S ist dagegen der Auffassung, kein Gewerbe auszuüben. Der Verkauf ihrer Produkte und Dienstleistungen verfolge vielmehr den ausschließlichen Zweck, höhere Bewusstseins- und Erlösungsstufen zu erreichen[252]. Wie ist die Rechtslage?

270

Fall 18:

P meldete in Mainz folgendes Gewerbe als Hauptniederlassung an: „Mobile Pkw- und Lkw-Aufbereitungstätigkeit, Waschservice sowie Fahrdienstleistungen“. Überprüfungen ergaben, dass das Gebäude unter der angegebenen Anschrift eine einzige Baustelle war, so dass gewerbliche Tätigkeiten weder tatsächlich festzustellen, noch überhaupt möglich gewesen wären. Am 24.1.2006 nahm die Gewerbeaufsichtsbehörde daher von Amts wegen die Abmeldung des Gewerbes des P vor. P macht geltend, dass für seine gewerbliche Niederlassung ein Handy und die Anbringung eines Briefkastens für Posteingänge ausreichen würden. Ein solcher sei vorhanden gewesen. Wie wird das VG entscheiden?

271

Fall 19:

Der Geschäftsführer der V GmbH zeigte bei der zuständigen Behörde die Tätigkeit „Vermittlung von Sportwetten an konzessionierte ausländische Wettanbieter (Primebet)“ an. Primebet International Ltd. ist ein von der Gaming Authority of Malta lizensiertes Unternehmen. Noch am selben Tag schickte die Behörde die Gewerbeanmeldung unbestätigt zurück und begründete dies im Begleitschreiben damit, dass es sich bei Primebet um keinen im Bereich des Landes zugelassenen Veranstalter handele. Veranstaltung und Vermittlung von Wetten ohne behördliche (Landes-)Erlaubnis seien verboten und nach § 284 StGB strafbar. Ausländische Genehmigungen entfalteten in Deutschland keine Legitimationswirkung für Sportwettangebote, weder zugunsten des ausländischen Veranstalters selbst noch der im Inland für diesen tätigen Vermittler. Kann V gerichtlich einen „Gewerbeschein“ erstreiten?

a) Umfang der Anzeigepflicht

272

Nach § 14 GewO muss derjenige, der den selbstständigen Betrieb eines stehenden Gewerbes oder den Betrieb einer Zweigniederlassung oder einer unselbstständigen Zweigstelle anfängt, diese der für den betreffenden Ort zuständigen Behörde anzeigen. Die Anzeigepflicht soll der zuständigen Behörde die Überwachung der Gewerbeausübung ermöglichen[253], sie dient aber auch statistischen Zwecken, vgl § 14 Abs. 6 GewO. Die anzeigepflichtigen Umstände ergeben sich aus § 14 Abs. 1 S. 2 Nr 1–3 GewO. Hierzu gehören insbes Beginn und Aufgabe des Betriebes[254]. Die Anzeigepflicht des § 14 betrifft nur das stehende Gewerbe (zum Begriff des Gewerbes s. Rn 213 ff; zur Abgrenzung von anderen Gewerbeformen s. Rn 344 f), ist aber unabhängig von der Genehmigungsbedürftigkeit, auch wenn sich diese aus Spezialgesetzen ergibt und erst recht unabhängig von der Genehmigungsfähigkeit[255]. Außerdem steht sie neben etwaigen Anzeigepflichten nach Spezialgesetzen, zB dem § 6 TKG (dazu unten Rn 536 ff).

Die aktuelle Fassung der Vorschrift geht im Wesentlichen zurück auf die Änderungen 2007, mit denen erstmals umfangreiche, 2019 an das europäische Datenschutzrecht angepasste Vorgaben zum Datenschutz eingeführt wurden[256]. Indem nach § 14 Abs. 5 S. 2 GewO der Zugang zu den Grunddaten (Name, betriebliche Anschrift und angezeigte Tätigkeit des Gewerbetreibenden) für jedermann eröffnet wird, wandelt sich insoweit das Gewerberegister in Richtung eines öffentlichen Registers. Im Übrigen dürfen die erhobenen Daten nur zum Zweck der Gewerbeüberwachung eingesetzt werden (Grundsatz der Zweckbindung, § 14 Abs. 5 S. 1 GewO); die Zulässigkeit der Datenübermittlung ist in den Absätzen 6 bis 14 geregelt. §§ 11, 150 GewO enthalten die Vorschriften zur Datenverarbeitung und zum datenschutzrechtlichen Auskunftsanspruch.

273

Die Gewerbeanzeige ist eine einseitig empfangsbedürftige Willenserklärung[257], die gem. § 130 Abs. 3 BGB mit Zugang bei der Behörde wirksam wird. Innerhalb von drei Tagen muss die zuständige Behörde nach § 15 Abs. 1 GewO den Empfang der Anzeige bestätigen. Diese Bestätigung („Gewerbeschein“) besteht lediglich aus einer Kopie der Anmeldung und macht keinerlei Aussagen über die Gewerbs- oder gar Rechtmäßigkeit der beantragten Gewerbeausübung. Mangels Regelungsgehalts handelt es sich daher nicht um einen Verwaltungsakt[258]. In der Praxis dient das Verfahren der Gewerbeanzeige vor allem der Klärung der Gewerbsmäßigkeit (insbes Selbstständigkeit[259]) der Tätigkeit. Typische Klausurkonstellationen sind die Aufforderung zur Abgabe einer Gewerbeanzeige (Fall 17 und dazu Rn 276 f) und sozusagen spiegelbildlich der Streit um eine Löschung von Amts wegen (Fall 18). In jüngster Zeit spielte aber auch die Frage eine Rolle, inwieweit die Behörde zur Verweigerung der Entgegennahme der Anzeige berechtigt ist, wenn sie die Gewerbsmäßigkeit verneint (Fall 19 und dazu Rn 279).

274

Im Zentrum steht die Prüfung der Gewerbsmäßigkeit. In Fall 18 (Rn 270) fehlt es dagegen an einer gewerblichen Betätigung. Die bloße Anbringung eines Briefkastens oder Schildes genügt hierfür nicht und ist demnach weder anzeigepflichtig noch anzeigetauglich[260]. Daher kann die zuständige Behörde das Gewerbe von Amts wegen abmelden. Ändert sich dagegen nur die rechtliche Beurteilung, etwa zur Gewerbsmäßigkeit von Photovoltaikanlagen (s. schon Rn 230), ist eine Gewerbeabmeldung nicht erforderlich[261]. Im Fall 19 (Rn 271) spielt es für die Anzeigepflicht keine Rolle, inwieweit die Vermittlung von Sportwetten für ausländische Anbieter überhaupt zulässig ist. Da es sich jedenfalls nicht um eine schlechthin verbotene Tätigkeit handelt (s. zu diesem Tatbestandsmerkmal bereits Rn 216), ist die Gewerbsmäßigkeit zu bejahen.

275

Sind juristische Personen Gewerbetreibende, sind sie selbst zur Anzeige verpflichtet, die Vorstände und Geschäftsführer handeln als Vertreter[262]. Auch Minderjährige können entsprechend § 12 Nr 2 VwVfG iVm § 107 BGB die Anzeige wirksam vornehmen[263].

b) Die Aufforderung zur Abgabe der Gewerbeanzeige

276

Die Behörde überwacht die Erfüllung der Anzeigepflicht, zB durch stichprobenweise Überprüfung von Werbeanzeigen oder Mitteilungen über Handelsregistereintragungen in den Tageszeitungen. Erlangt sie auf diese Weise Kenntnis von der Tätigkeit, entbindet dies den Gewerbetreibenden nicht von der Anzeigepflicht. In der Praxis fordert die Behörde den Gewerbetreibenden zur Abgabe der Anzeige auf. Nach hM handelt es sich bei dieser Aufforderung zur Gewerbeanzeige um einen Verwaltungsakt[264]. Der Regelungsgehalt wird darin gesehen, dass die Aufforderung verbindlich die Verpflichtung aus § 14 GewO konkretisiere. Dies scheint im Widerspruch zur allgemein anerkannten These zu stehen, dass es sich bei bloßen Hinweisen auf eine bestimmte Rechtslage nach allgemeinen Grundsätzen um Realakte handele[265]. Dennoch sieht die Praxis ein Bedürfnis für diese Konstruktion. Die Annahme eines Verwaltungsakts ermöglicht dessen anschließende Vollstreckung, insbesondere die Festsetzung von Zwangsgeldern auf der Grundlage des LVwVG[266]. Die für den Erlass eines Verwaltungsakts erforderliche Ermächtigungsgrundlage wird aus Sinn und Zweck des § 14 GewO abgeleitet[267]. Ein Verstoß gegen die Anzeigepflichten stellt außerdem eine Ordnungswidrigkeit dar[268].

277

Die Behörde hat in Fall 17 (Rn 269) ausdrücklich durch VA entschieden, so dass es auf die allgemeine Frage, ob eine solche Aufforderung Regelungscharakter hat, nicht ankommt. Um zu vermeiden, dass die behördliche Aufforderung in Bestandskraft erwächst und auch im Rahmen einer Feststellungsklage Tatbestandswirkung entfaltet[269], muss Scientology die Aufforderung anfechten. Andernfalls kann die Behörde Vollstreckungsmaßnahmen zur Durchsetzung der Anmeldepflicht einleiten. Weitere gewerberechtliche Folgen hat die Weigerung allerdings nicht. Da es sich bei § 14 GewO um eine bloße Ordnungsvorschrift handelt und die Ausübung des Gewerbes gerade nicht von der Anzeigeerstattung abhängig ist, berechtigt ein Verstoß gegen § 14 GewO die Behörde nicht dazu, die weitere Ausübung des Gewerbes zu verhindern[270]; damit scheidet auch eine Gewerbeuntersagung wegen Unzuverlässigkeit aus. Will Scientology die Genehmigungsfreiheit feststellen lassen, müsste sie uU neben der Anfechtungs- eine Feststellungsklage erheben[271].

c) Verweigerung der Bestätigung der Gewerbeanzeige

278

Nach § 15 Abs. 1 GewO ist der Empfang der Anzeige innerhalb von drei Tagen zu bescheinigen. Dieser „Gewerbeschein“ enthält also keine Aussage zur Rechtmäßigkeit der Tätigkeit oder gar eine Genehmigung. Es kann auch nicht Aufgabe der Behörde sein, innerhalb von 3 Tagen die für die Gewerbeausübung bestehenden Anforderungen zu prüfen. Ist die Anzeige allerdings unvollständig oder genügt sie den Erfordernissen des § 14 Abs. 4 GewO nicht, kann die Behörde sie zurückweisen und den Antragsteller zur Abgabe einer ordnungsgemäßen Anzeige auffordern[272]. Weitergehende „Versagungsgründe“ enthält das Gesetz nicht, so dass die Behörde die Anmeldung eigentlich auch nicht zurückweisen darf, wenn nach ihrer Ansicht die Gewerbsmäßigkeit fehlt[273].

279

Selbst wenn also in Fall 18 (Rn 270) der Sachverhalt bereits zum Zeitpunkt der Anzeige bekannt gewesen wäre, hätte die Behörde die Gewerbeanzeige nach zutreffender Ansicht nicht zurückweisen können. In Fall 19 (Rn 271) ist zu fragen, wie der Anspruch auf Erteilung eines „Gewerbescheins“ gerichtlich durchgesetzt werden kann. Da es sich nicht um einen VA handelt, ist die allgemeine Leistungsklage einschlägig[274]. Allerdings könnte das Rechtsschutzbedürfnis für eine solche Klage fehlen, weil angesichts der Rechtsauffassung der Behörde weder mit einem Ordnungswidrigkeiten- noch einem Verwaltungsverfahren auf Durchsetzung der Anzeigepflicht zu rechnen ist[275]. Begründet wäre die Klage, wenn V einen Anspruch auf die Bestätigung hat und dieser nicht bereits erfüllt worden ist. Der Anspruch ist gegeben, aber durch das Schreiben der Behörde bereits erfüllt, da – außer der Schriftform – keine weiteren Anforderungen an die Bestätigung gestellt werden. Das Schreiben lässt erkennen, dass eine Gewerbeanzeige eingegangen ist und auch, welchen Inhalt diese hatte. Damit ist den Anforderungen genügt[276]. Dies schließt selbstverständlich die Möglichkeit nicht aus, dass die Behörde den Gewerbetreibenden in demselben Schreiben auf ihre Rechtsansicht hinweisen kann[277]. Die rechtlich unzutreffende Würdigung des Sachverhalts durch die Behörde (vgl zu den Maßstäben Rn 277) spielt keine Rolle. Die Klage ist unbegründet.

2. Die Gewerbeuntersagung wegen Unzuverlässigkeit (§ 35 GewO)

280

Fall 20:

Nachdem ihrem Ehemann M bestandskräftig die Ausübung seines Gewerbes untersagt worden war, zeigte F ihrerseits ein entsprechendes Gewerbe an, das ihr anschließend ebenfalls untersagt wurde. Während des Prozesses stellte sich heraus, dass F sich überhaupt nicht um das Geschäft gekümmert hatte. Dieses wurde vielmehr weiterhin von M geführt, der gegenüber den Kunden, aber auch im Verhältnis zu Behörden und Finanzamt unter eigenem Namen auftrat[278]. Ändert sich etwas an der Beurteilung, wenn F den Geschäftsleiter G mit der Führung der Geschäfte beauftragt, sich dieser ebenfalls als unzuverlässig erweist, aber während des gerichtlichen Verfahrens von F wieder entlassen wird?

281

Fall 21:

T wird das Führen seiner Tankstelle in Mainz nach § 35 GewO untersagt.


a) Begründet wurde die Gewerbeuntersagung mit seinen kritischen Äußerungen zu den Zuständen im Mainzer Rathaus. Während des anschließenden gerichtlichen Verfahrens bringt die Stadt zutreffend vor, dass G bei der Ausübung seines Gewerbes seit vielen Jahren umfangreiche Betrügereien begangen hatte. Ist die Gewerbeuntersagung rechtmäßig?
b) Variante: Eine vorherige Anhörung des T zur Untersagungsverfügung fand nicht statt; auch die Gründe, wegen derer die zuständige Behörde – im Ergebnis zu Recht – von der Unzuverlässigkeit des T ausging, wurden ihm nicht mitgeteilt.
c) Variante: Ändert sich an der Beurteilung von Var. a) etwas, wenn sich die Betrugsfälle erst nach dem Abschluss des Verwaltungsverfahrens ereignet hätten?

282

Fall 22:

Das Gelände seiner Tankstelle hat sich zunehmend zu einem Treffpunkt für Jugendliche, aber leider auch zu einem Umschlagplatz für Drogen entwickelt. Als sich auch noch seine bisherige Lebensgefährtin von ihm getrennt hat, spricht T in zunehmendem Maße dem Alkohol zu und kümmert sich nicht um die „Geschäfte“, die auf seinem Tankstellengelände abgewickelt wurden und ihn seiner Meinung nach auch nicht zu interessieren brauchten. Daraufhin wurde ihm der weitere Betrieb seines Gewerbes gem. § 35 GewO untersagt.


a) Zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung hatte T seine privaten Probleme wieder im Griff, woran seine neue Freundin, aktives Mitglied im „Bund gegen Alkohol“ maßgeblichen Anteil hatte. Außerdem konnte T durch Überwachungskameras und regelmäßige Kontrollen den Drogenhandel unterbinden. Wie ist die Rechtslage?
b) Ändert sich an der Rechtslage etwas, wenn T schon vor der mündlichen Verhandlung beim VG, die 13 Monate nach dem Erlass der Untersagungsverfügung stattfand, bei der zuständigen Behörde beantragt hatte, ihm die Ausübung seines Gewerbes wieder zu gestatten?

283

Fall 23:

Gegen die Untersagung hat T keinen Widerspruch erhoben, er setzt allerdings seine Tätigkeit fort. Was kann die Behörde tun[279]?

284

Die Gewerbeuntersagung gem. § 35 GewO gehört zu den zentralen Vorschriften des Gewerberechts. Bei solchen Gewerben, die nach dem Grundmodell der GewO erlaubnisfrei ausgeübt werden dürfen und deswegen lediglich nach § 14 GewO angezeigt werden müssen, sieht § 35 GewO als Korrelat zur Gewerbefreiheit zwingend die Untersagung der weiteren Ausübung des Gewerbes vor, wenn der Gewerbetreibende unzuverlässig ist. Die Gewerbeuntersagung ist Verwaltungsakt. Die Voraussetzungen einer schlichten Gewerbeuntersagung sind also (a) die Ausübung eines bloß anzeigepflichtigen stehenden Gewerbes (zur Gewerbsmäßigkeit s. Rn 213 ff, zum Begriff des stehenden Gewerbes Rn 209, 272 ff, (b) die Unzuverlässigkeit des Gewerbetreibenden oder einer mit der Leitung des Betriebes beauftragten Person (dazu Rn 288 ff) und – selbstverständlich – (c) die Erforderlichkeit der Maßnahme. Obwohl die Gewerbeuntersagung dem Schutz der Allgemeinheit und der Beschäftigten dient, ist § 35 Abs. 1 S. 1 GewO nicht drittschützend[280]. Damit besteht weder ein Anspruch auf Einschreiten gegen den Gewerbetreibenden, noch kann eine Gewerbeuntersagung von Dritten angefochten werden.

a) Ausübung eines erlaubnisfreien, stehenden Gewerbes

285

§ 35 GewO ist immer anwendbar, wenn ein stehendes, nicht erlaubnispflichtiges Gewerbe ausgeübt wird.

Von entscheidender Bedeutung für den Anwendungsbereich der Vorschrift ist wie häufiger bei der GewO die Gesetzessystematik. § 35 GewO steht im Abschnitt über das stehende Gewerbe[281]. § 35 Abs. 8 S. 1 GewO macht ferner deutlich, dass sie zurücktritt, sofern besondere Untersagungs- und Rücknahmevorschriften bestehen. Verdrängt wird § 35 GewO daher durch die Vorschriften über Rücknahme und Widerruf[282], so dass ein genehmigtes Gewerbe nicht nach § 35 GewO untersagt werden kann (zum Verhältnis zu § 15 Abs. 2 GewO und § 16 Abs. 3 HwO s. Rn 315, 504; s. auch ▸ Klausurenkurs Fall Nr 7). Die Beachtung dieser Systematik ist klausurentscheidend!

286

Für die Gewerbeuntersagung genügt es, wenn das Gewerbe zum Zeitpunkt der Einleitung des Untersagungsverfahrens tatsächlich ausgeübt wird[283]. Nach § 35 Abs. 1 S. 3 GewO kann ein Untersagungsverfahren fortgesetzt werden, wenn der Gewerbebetrieb nach seiner Einleitung aufgegeben wird. Allerdings kann uU die Erforderlichkeit der Untersagungsverfügung zweifelhaft sein[284].

287

Fall 20 (Rn 280):

Diese Fragen werden gerade auch im Zusammenhang mit der sog. Strohmannproblematik relevant (dazu Rn 236). In einem solchen Fall kann eine Untersagungsverfügung auch an den Hintermann gerichtet werden, sofern dieser das Gewerbe tatsächlich betreibt. Die Maßnahme gegen den Strohmann setzt aber eine nach außen gerichtete Betätigung des Strohmanns voraus, namentlich dadurch, dass die Geschäfte in seinem Namen abgewickelt werden und ihn rechtlich binden sollen. Andernfalls liegt kein Strohmannverhältnis vor. In Fall 20 war deswegen die Gewerbeuntersagung gegenüber F, die nicht als „Strohfrau“ nach außen aufgetreten ist und deswegen kein Gewerbe betrieben hat, rechtswidrig; die Tatsache, dass sie eine entsprechende Gewerbeanmeldung abgegeben hatte, reicht nicht[285]. Die Untersagungsverfügung war nur gegen den tatsächlichen Inhaber zu richten. Demgegenüber ist sie in der Variante zu Fall 20 selbst Gewerbetreibende und muss sich das Verhalten ihres Betriebsleiters zurechnen lassen.

b) Tatsachen, die die Unzuverlässigkeit des Gewerbetreibenden oder eines Betriebsleiters begründen

288

§ 35 Abs. 1 S. 1 GewO setzt ferner voraus, dass Tatsachen vorliegen, aus denen sich die Unzuverlässigkeit des Gewerbetreibenden oder einer mit der Leitung des Gewerbebetriebes beauftragten Person ergibt. Eine Definition enthält § 35 GewO genauso wenig wie Regeltatbestände, bei denen von der Unzuverlässigkeit auszugehen ist. Unzuverlässig ist nach der bereits vorgestellten, allgemein anerkannten und auch für § 35 GewO geltenden Formel der Rechtsprechung derjenige Gewerbetreibende, der nach dem Gesamteindruck seines Verhaltens nicht die Gewähr dafür bietet, dass er sein Gewerbe künftig ordnungsgemäß betreiben wird (s. ausführlich Rn 250 ff). Die die Unzuverlässigkeit begründenden Umstände müssen entweder in der Person des Gewerbetreibenden[286] oder eines Betriebsleiters vorliegen. Betriebsleiter ist derjenige, der einen Betrieb aufgrund seiner Stellung im Betrieb tatsächlich leitet. Aus dem Verhalten Dritter kann nur dann auf die Unzuverlässigkeit geschlossen werden, wenn der Gewerbetreibende einem unzuverlässigen Dritten maßgeblichen Einfluss auf die Geschäftsführung einräumt oder jedenfalls nicht willens oder in der Lage ist, einen solchen Einfluss zu unterbinden, so dass er sich selbst als unzuverlässig erweist (s. schon Rn 264 f).

289

Bei der Unzuverlässigkeit handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der als solcher der vollen gerichtlichen Überprüfung unterliegt (s. Rn 250); die Behörde hat keinen Beurteilungsspielraum. Im Zusammenhang mit der gerichtlichen Überprüfung stellen sich zugleich viele verwaltungsprozessuale Standardprobleme, insbesondere des Nachschiebens von Gründen und des maßgeblichen Zeitpunkts.

290

Fall 21a (Rn 281)[287]:

Da die Kritik des Gewerbetreibenden an der Stadtverwaltung nicht die Unzuverlässigkeit begründet, war die ursprüngliche Gewerbeuntersagung rechtswidrig, da die Begründung den Tenor (Gewerbeuntersagung) nicht rechtfertigen konnte. Auf eine entsprechende Anfechtungsklage hin wäre sie aufzuheben. Allerdings hat die Behörde weitere Tatsachen nachgetragen, aus denen sich die Unzuverlässigkeit ergibt. Hier spricht man vom Nachschieben von Gründen[288]. Nach hM ist ein solches Nachschieben nur zulässig, solange es einen VA nicht „in seinem Wesen“ verändert oder die Rechtstellung des Betroffenen beeinträchtigt. Von einer solchen Wesensänderung wird allerdings ausgegangen, wenn die Gründe, auf die eine gewerberechtliche Untersagungsverfügung gestützt ist, nachträglich völlig ausgewechselt werden[289]. Dennoch steht bei gebundenen Entscheidungen der dolo agit-Grundsatz der Aufhebung eines Verwaltungsakts entgegen, bei dem feststeht, dass er im Ergebnis nicht zu beanstanden ist[290]. Im Beispielsfall wird es daher nicht zu einer gerichtlichen Aufhebung des Verwaltungsaktes kommen. Dies erscheint auch sachgerecht, da die Behörde jederzeit das Gewerbe wegen Unzuverlässigkeit untersagen könnte und somit G nicht schutzwürdig ist.

291

Fall 21b (Rn 281)[291]:

Davon zu unterscheiden ist das Nachholen einer fehlenden Begründung, das neben der unterlassenen Anhörung (§ 28 VwVfG) den wichtigsten Fall einer formell rechtswidrigen Untersagungsverfügung darstellt. Bei formellen Fehlern ist zunächst die Heilungsmöglichkeit nach § 45 VwVfG zu prüfen, die noch bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz erfolgen kann. Selbst dann, wenn es nicht zu einer Heilung gekommen ist, schließt § 46 VwVfG bei verfahrensfehlerhaften Verwaltungsakten den Beseitigungsanspruch aus[292]. Damit scheidet in Fall 21b eine Aufhebung der Gewerbeuntersagung aus, wenn T tatsächlich unzuverlässig war.

292

Die Zuverlässigkeitsprüfung stellt eine Prognoseentscheidung dar, die auf Tatsachen beruht, die sich während des Verfahrens ändern können. In fast allen Fällen, mit denen sich die Gerichte zu beschäftigen hatten[293], stellte sich daher die Frage, inwieweit eine dem Gewerbetreibenden günstige Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse im gerichtlichen Verfahren zu berücksichtigen ist. Die Beantwortung dieser Frage führt aus dem Gewerberecht heraus zu dem im verwaltungsprozessrechtlichen Kontext erörterten Problem des sog. maßgeblichen Zeitpunkts[294].

Folgt man der gefestigten Rechtsprechung des BVerwG, handelt es sich nicht um eine prozessrechtliche Frage, sondern um eine solche des materiellen Rechts[295]. Sofern das materielle Recht keine ausdrücklich abweichende Regelung enthält, ist das zum Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung geltende Recht maßgeblich[296]. Von diesem Grundsatz wird allerdings bei den sogenannten Verwaltungsakten mit Dauerwirkung, zu denen auch die Gewerbeuntersagung gehört[297], eine Ausnahme gemacht. Bei diesen sind spätere Veränderungen der Sach- und Rechtslage grundsätzlich zu berücksichtigen, können also zur Rechtswidrigkeit des ursprünglich rechtmäßig erlassenen Verwaltungsakts führen. Im vorliegenden Fall weicht § 35 Abs. 6 GewO von dieser Grundregel ab und macht die Wiedergestattung der Gewerbeausübung von einem an die Behörde zu richtenden, schriftlichen Antrag abhängig[298]; es handelt sich dabei um eine – deswegen auch nicht analogiefähige – Ausnahme[299]. Sofern die Gewerbeuntersagung nicht angegriffen wurde oder das entsprechende Verfahren bereits abgeschlossen ist, ist der Antrag auf Wiedergestattung mit der Verpflichtungsklage zu verfolgen[300]. Die (umstrittene) Auslegung des § 35 Abs. 6 GewO entscheidet aber auch über die Konsequenzen der Einführung des Wiedergestattungsverfahrens für den Rechtsschutz gegen die Gewerbeuntersagung.

293

Fall 22 (Rn 282)[301]:

Sofern der Gewerbetreibende ursprünglich unzuverlässig war und keinen Antrag nach § 35 Abs. 6 GewO gestellt hat, ist seine Anfechtungsklage abzuweisen, weil die materiellrechtlichen Voraussetzungen einer Wiedererteilung nicht gegeben sind (Fall 22a). Gerade dieser Fall bestätigt daher die Ausgangsthese, dass die Entscheidung vom materiellen Recht und nicht (abstrakt) vom Prozessrecht getroffen wird. Fraglich ist, ob dies auch dann gilt, wenn ein solcher Antrag vorliegt und der Gewerbetreibende tatsächlich mittlerweile wieder zuverlässig geworden ist. § 35 Abs. 6 GewO regelt diesen Fall nicht ausdrücklich[302]. Wenn man die Vorschrift als Regelung des maßgeblichen Zeitpunkts[303] oder als verfahrensrechtliche Regelung versteht, die neben dem Antrag auch die Durchführung eines Verwaltungsverfahrens zur Voraussetzung der Wiedergestattung macht, ist auch in Fall 22b die Anfechtungsklage abzuweisen[304]. Überzeugender ist es allerdings, in diesem Fall davon auszugehen, dass das Gesetz lediglich ein Antragserfordernis statuieren wollte, um der Behörde eine dauernde Überprüfung ihrer einmal ausgesprochenen Gewerbeuntersagung zu ersparen, wie dies bei Dauerverwaltungsakten eigentlich erforderlich ist[305]. Bei einer solchen Interpretation können die neu aufgetauchten Tatsachen entgegen der Rechtsprechung des BVerwG noch im Rahmen der Anfechtungsklage berücksichtigt werden[306]; nach dieser Auffassung ist die Anfechtungsklage also begründet. Dies ist insofern sachgerecht, als § 35 Abs. 6 GewO nicht das Gericht, sondern die Behörde entlasten soll, indem sie ihre Gewerbeuntersagung nicht von Amts wegen einer laufenden Überprüfung zu unterziehen hat. Der Entlastung dient es auch, wenn auf Antrag des Gewerbetreibenden nach der Jahresfrist des Abs. 6 das Gericht im Ausgangsverfahren über die Wiederaufnahme mitentscheiden kann. Hinzu kommt, dass aus verfassungsrechtlichen Gründen einem Antrag beim Vorliegen besonderer Gründe auch schon vor Ablauf der Jahresfrist stattzugeben ist[307]. Es stünde dazu in einem wertungsmäßigen Widerspruch, dem Gewerbetreibenden gleichwohl die Durchführung eines erneuten Verwaltungsverfahrens zuzumuten.

294

War die ursprüngliche Gewerbeuntersagung rechtswidrig, stellt sich die Frage, ob auch für den Gewerbetreibenden ungünstige Veränderungen noch nachträglich angeführt werden können.

295

Fall 21c (Rn 281):

Von der Rechtsprechung wurde dies bejaht[308]. Die Literatur kritisierte daran, dass der Grundsatz der Waffengleichheit verletzt werde, indem dem Betroffenen die Anführung der für ihn günstigen Tatsachen verwehrt, andererseits aber der Behörde die Beibringung weiterer ungünstiger Tatsachen erlaubt werde. Diese Kritik trifft die hier vertretene Auffassung (die die Berücksichtigung sämtlicher späterer Veränderungen erlaubt) nicht, ist aber auch vom gegenteiligen Standpunkt der Rechtsprechung aus nicht überzeugend. Genau wie in den Fällen des Nachschiebens von Gründen wird hier in Wahrheit ein neuer Verwaltungsakt erlassen, der unter erleichterten Voraussetzungen zum Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens wird, so dass der Gewerbetreibende nicht schutzwürdig ist[309]. Der Rechtsgedanke des § 35 Abs. 6 GewO greift hier nicht ein.

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1951 S. 2 Illustrationen
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9783811495876
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