Buch lesen: «Öffentliches Wirtschaftsrecht», Seite 26

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§ 3 Das Gewerberecht

§ 3 Das Gewerberecht

Inhaltsverzeichnis

I. Grundstrukturen und Grundbegriffe

II. Die Kontrolle des stehenden Gewerbes

III. Das Reisegewerbe (§§ 55 ff GewO)

IV. Die Zulassung von Märkten (§§ 64 ff GewO)

V. Gewerbeordnung und E-Commerce

§ 3 Das Gewerberecht › I. Grundstrukturen und Grundbegriffe

I. Grundstrukturen und Grundbegriffe

1. Gewerberecht als Grundmodell des öffentlichen Wirtschaftsrechts

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Das Gewerberecht ist genauso traditionsreich (zur historischen Entwicklung s. Rn 11 f) wie aktuell. § 1 Abs. 1 GewO stellt den Grundsatz der „Gewerbefreiheit“ an den Beginn des Gesetzes. Die Zielrichtung der GewO war aber schon immer eine doppelte. Sie verbürgt seit 150 Jahren die heute verfassungsrechtlich garantierte Berufsfreiheit für die erfassten Tätigkeiten und sogar die Gleichberechtigung von Mann und Frau[1], dient aber auch als rechtsstaatlicher Rahmen für die Gefahrenabwehr[2]. Das Gewerberecht übernimmt zugleich die Funktion eines „Allgemeinen Teils“ des öffentlichen Wirtschaftsrechts. Nicht nur im Gaststätten- und Handwerksrecht (dazu §§ 4–5), sondern auch im sog. Regulierungsrecht (§ 6) finden sich die aus der Gewerbeordnung vertrauten Grundstrukturen, etwa die Differenzierung zwischen anzeige- und genehmigungspflichtigem Gewerbe und gewerberechtliche Grundbegriffe wie Gewerbsmäßigkeit und Zuverlässigkeit. Auch im Gewerbenebenrecht werden dann die Ermächtigungsgrundlagen der GewO herangezogen, wenn es an spezialgesetzlichen Vorschriften fehlt (s. näher Rn 453). Zugleich werden die Einflüsse des Unions-, des Verfassungs- sowie des Allgemeinen Verwaltungsrechts auf das öffentliche Wirtschaftsrecht im Gewerberecht besonders anschaulich.

Dies betrifft zum einen die in § 2 des Lehrbuchs vor die Klammer gezogenen Fragen der Vereinbarkeit gewerberechtlicher Vorschriften mit Verfassungs- und Unionsrecht und nicht zuletzt die Anpassung an die Dienstleistungsrichtlinie: Für die grenzüberschreitende Erbringung von Dienstleistungen wurde in § 4 GewO[3] die Anwendbarkeit der gewerberechtlichen Anzeige- und Genehmigungserfordernisse eingeschränkt. Insoweit haben sich die früheren Klassiker zum Gewährleistungsgehalt der Grundfreiheiten bis auf wenige Ausnahmen ins einfache Recht verlagert (s. näher Rn 237 ff). Gleichwohl wird zu Recht die Frage aufgeworfen, inwieweit die GewO nach 150 Jahren „fit für die digitale Zukunft“ ist[4]. Gerade die Vorschriften zum Reisegewerbe, mit denen der Gesetzgeber im 19. Jahrhundert auf das „fahrende Volk“ reagierte, erweisen sich nicht zuletzt vor dem Hintergrund des zivilrechtlichen Schutzes bei Haustür- und Fernabsatzgeschäften als problematisch.

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Das Gewerberecht liefert aber nicht nur in den universitären Schwerpunkten auch plastische Fälle für die juristische Ausbildung. Wichtiger als Detailwissen ist dabei die Kenntnis dieser Grundstrukturen, die – neben dem Prozessrecht – den „Einstieg“ in die Fallbearbeitung liefern. Der Erfolg einer Klausur hängt maßgeblich davon ab, dass gewerberechtliche Grundbegriffe (insbes der Gewerbebegriff und die Unzuverlässigkeit) und die einschlägigen Ermächtigungsgrundlagen erkannt und die Schnittstellen zum allgemeinen Verwaltungsrecht (s. Rn 313 f, 355 f, 443 f), zum Verwaltungsvollstreckungsrecht (s. Rn 324 ff), aber auch zum Polizei- und Ordnungsrecht (s. Rn 320 ff) gesehen werden.

2. Das Regelungskonzept der GewO

a) Gewerbearten

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Systematisch unterscheidet die GewO drei Gewerbearten. Die Einteilung in stehendes-, Reise- und Marktgewerbe (Titel II – IV) knüpft an die Art und Weise der Ausübung des Gewerbes an. Nach der Systematik der GewO enthält jeder Titel eine in sich abgeschlossene Regelung, so dass Vorschriften in einem Titel nur für das entsprechende Gewerbe anwendbar sind, sofern das Gesetz nicht ausdrücklich etwas anderes bestimmt. So ist beispielsweise der Rückgriff auf die für den Titel II geltenden zentralen Vorschriften der §§ 14, 35 GewO bei einem erlaubnisfreien Reisegewerbe nicht möglich; es bedurfte paralleler Regelungen in §§ 55c, 59 GewO. Auch das – eigentlich in die Kompetenz der Landesgesetzgeber abgewanderte – Marktgewerbe „dispensiert“ von den meisten Vorschriften der Titel II und III. Regelungslücken sind dadurch ausgeschlossen, dass zum stehenden Gewerbe alle gewerblichen Tätigkeiten zählen, die nicht Reise- oder Marktgewerbe sind.

b) Erlaubnisfreies und zulassungspflichtiges Gewerbe

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§ 1 GewO geht davon aus, dass Aufnahme und Fortsetzung der gewerblichen Betätigung grundsätzlich frei sind und keiner gesetzlichen Beschränkung unterliegen. Liegt also ein Gewerbe vor, ist dessen Ausübung ohne staatliche Genehmigung gestattet, solange nicht ausdrücklich etwas anderes bestimmt ist. Gewerberechtliche Erlaubnispflichten sind allerdings trotz dieses Leitbildes keineswegs die Ausnahme. Art. 12 GG (und der Grundsatz der Gewerbefreiheit nach § 1 GewO) verlangen jedoch, dass Erlaubnispflichten ausdrücklich normiert werden und beim Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen ein Anspruch auf die Erteilung einer Erlaubnis besteht (s. schon Rn 123).

Erlaubnispflichten bestehen für bestimmte Formen des stehenden Gewerbes (§§ 30–34i GewO) und das Reisegewerbe (§§ 55 ff GewO). Sie finden sich auch in Sondergesetzen. Vom erlaubnisbedürftigen zu unterscheiden ist das sog. überwachungsbedürftige Gewerbe nach § 38 GewO. Dort bleibt es bei der bloßen Anzeigepflicht nach § 14 GewO, allerdings prüft die Behörde unverzüglich nach Eingang der Anzeige die Zuverlässigkeit des Gewerbetreibenden, § 38 Abs. 1 S. 1 GewO. Die Gewerbefreiheit des § 1 GewO[5] beschränkt sich auf das „Ob“, dh die Aufnahme der Tätigkeit sowie die (Pflicht zur) Beendigung gewerberechtlicher Tätigkeit. Das „Wie“ also die Art und Weise der Betätigung, wird davon nicht erfasst (zu den Auswirkungen auf die Zulässigkeit polizeirechtlicher Maßnahmen bzw landesrechtlicher Regelungen s. unten Rn 320 f). Von vornherein nicht unter die Gewerbefreiheit fallen strafrechtlich verbotene Tätigkeiten (dazu unten Rn 323). Gegen diese kann daher auf polizeirechtlicher Grundlage eingeschritten werden.

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Für die praktische Lösung eines Falles liegt nicht nur in der Klausur die entscheidende Weichenstellung in der Zuordnung zum genehmigungsfreien oder genehmigungsbedürftigen Gewerbe, da von dieser das behördliche Handlungsinstrumentarium abhängt.

Beim erlaubnisfreien Gewerbe hat die Behörde – beim Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen – die Möglichkeit einer Untersagung der Ausübung des Gewerbes wegen Unzuverlässigkeit, zB gem. § 35 GewO. Diese Untersagung ergeht durch Verwaltungsakt, gegen den sich der Betroffene mit Widerspruch bzw Anfechtungsklage wehren kann. Als Verwaltungsakt kann sie nach dem LVwVG vollstreckt werden. Daneben kann auch die Pflicht zur Gewerbeanzeige durchgesetzt werden (s. unten Rn 276); diese Konstellation dient als „Aufhänger“ für die Frage, ob eine Tätigkeit überhaupt ein Gewerbe darstellt. Wird eine erforderliche Erlaubnis beantragt, besteht schon aus verfassungsrechtlichen Gründen ein Anspruch auf die Genehmigung, wenn die Voraussetzungen (bzw keine Versagungsgründe) vorliegen. Entscheidet die Behörde nicht rechtzeitig über eine beantragte Genehmigung, kann diese in den Fällen des § 6a GewO fingiert werden[6]. Wurde eine Erlaubnis erteilt, muss diese aufgehoben werden, bevor gegen die weitere Ausübung des Gewerbes vorgegangen werden kann. Teilweise bestehen Sondervorschriften für Rücknahme und Widerruf, die die allgemeinen Vorschriften der §§ 48, 49 LVwVfG ergänzen und tlw verdrängen. Eine Erlaubnis kann außerdem mit Nebenbestimmungen versehen werden, entweder aufgrund ausdrücklicher Regelung oder nach § 36 Abs. 1 LVwVfG[7]. Ohne Erlaubnis dürfen genehmigungspflichtige Gewerbe nicht ausgeübt werden, so dass die Behörde zum Einschreiten berechtigt ist, zB zur Untersagung der Fortsetzung des Betriebes nach § 15 Abs. 2 GewO. Dies gilt nicht nur, wenn überhaupt keine Erlaubnis beantragt wurde, sondern auch wenn diese seitens der Behörde aufgehoben worden ist.

c) Gewerberechtliche Schlüsselbegriffe

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Schon dieser kurze Überblick ließ erkennen, dass gewerberechtliche Schlüsselbegriffe dieses Rechtsgebiet prägen. Der Begriff des Gewerbes entscheidet über die Anwendbarkeit der Gewerbeordnung, aber zugleich auch über die Abgrenzung zwischen Gewerbe- und Polizeirecht. Gewerbetreibende sind in der Praxis überwiegend juristische Personen. Die Unzuverlässigkeit entscheidet über die Zulässigkeit einer Gewerbeuntersagung (eben wegen mangelnder Zuverlässigkeit) zB nach § 35 GewO, ist aber auch der Hauptgrund für die Versagung einer Erlaubnis. Diese gewerberechtlichen Schlüsselbegriffe werden genauso wie zentrale Fragen des Verwaltungsverfahrens „vor die Klammer“ gezogen. Sowohl der Begriff des Gewerbes als auch der der Unzuverlässigkeit sind unbestimmte Rechtsbegriffe, die der vollen gerichtlichen Überprüfung unterliegen[8].

3. Der Begriff des Gewerbes

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Fall 15:

Handelt es sich in den folgenden Fällen um Gewerbe?


a) K betreibt einen sog. „Swingerclub“. Dieser soll grundsätzlich jedem interessierten Erwachsenen offen stehen. Auf die Altersgrenze und die Art des Clubs wird am Eingang deutlich hingewiesen.
b) Der gemeinnützige Touristenverein „Naturfreunde eV“ betreibt ein Naturfreundehaus. Die Angebote vor allem zur Kinder- und Jugenderholung richten sich primär an sozial schwache Bevölkerungsgruppen und kinderreiche Familien. Speisen und Getränke werden zwar über dem Einkaufspreis, aber sehr günstig angeboten. Trotz erheblicher Landeszuschüsse macht das Haus Verluste.
c) Studentin S versteigert auf den entsprechenden Online-Plattformen Flohmarktartikel, die sie bei Eltern und Verwandten auf dem Dachboden findet.
d)
e) K betreibt einen Hofladen, in dem er überwiegend ökologisch erzeugte landwirtschaftliche Produkte aus der Eigenproduktion verkauft. Sein Laden ist täglich 4 Stunden geöffnet.
f) K bietet eine Schülerbetreuung mit Hausaufgabenhilfe an. Die Eltern zahlen dafür pro Nachmittag 20 EUR.
g) S ist Diplom-Sozialpädagoge und betreibt ein Büro für soziale Dienstleistungen. In diesem Rahmen ist er hauptberuflich als sog. Berufsbetreuer für über 20 Personen aus allen Amtsgerichtsbezirken des Landkreises selbstständig tätig (zu den Aufgaben eines Betreuers vgl § 1901 BGB). Hierfür wird er nach dem Vormunds- und Betreuervergütungsgesetz vergütet (§ 1836 Abs. 1 S. 2, 3 BGB). Die zuständige Gewerbeaufsichtsbehörde ist der Auffassung, er müsse ein Gewerbe anmelden. Ist dies zutreffend? Ändert sich an der Beurteilung etwas, wenn es sich um den zugelassenen Rechtsanwalt R handelt?
h) M vermietet ein Zimmer seiner schön gelegenen Wohnung regelmäßig über verschiedene Online-Vermittlungsportale an Gäste, die hierin eine günstige Alternative zu traditionellen Hotels und Ferienwohnungen sehen. Er orientiert sich an den von den Vermittlungsportalen aufgrund der lokalen Erfahrungswerte vorgeschlagenen Preisen und erzielt so monatlich ein Zusatzeinkommen von ca 500 EUR. Um das Frühstück müssen sich die Gäste selber kümmern, sie dürfen dazu aber seine Küche nutzen.

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Die Anwendbarkeit des Gewerberechts setzt voraus, dass die entsprechende Tätigkeit gewerbsmäßig ausgeübt wird. Die Definition dieses gewerberechtlichen Schlüsselbegriffs wurde von der Rechtsprechung entwickelt. Gewerbe ist jede erlaubte, auf Gewinnerzielung gerichtete, selbstständige und auf Dauer angelegte Tätigkeit, die nicht Urproduktion, freier Beruf oder die Verwaltung eigenen Vermögens ist[10]. Es lassen sich also neben den vier „positiven“ Elementen der Gewerbsmäßigkeit (Erlaubtheit, Gewinnerzielungsabsicht, Selbstständigkeit, Dauerhaftigkeit) drei „negative“ Merkmale der sog. Gewerbsfähigkeit (Ausschluss von Urproduktion, freien Berufen und der Verwaltung eigenen Vermögens) unterscheiden[11]. Diese Merkmale müssen kumulativ vorliegen. Anders als im Handels- und Steuerrecht führt im Gewerberecht deswegen auch nicht allein die Größe oder die Rechtsform eines Unternehmens zur Bejahung der Gewerbsmäßigkeit[12]. Angesichts der Konkretisierungen durch die Rechtsprechung geht man einhellig davon aus, dass der Begriff den Anforderungen des Bestimmtheitsgrundsatzes genügt[13]. Verständlich wird die anhand einer Vielzahl von Fällen konkretisierte Definition des Gewerbebegriffes vor allem aus ihrer Funktion heraus, über die Anwendung des Gewerberechts zu entscheiden.

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Als unbestimmter (aber voll justitiabler) Rechtsbegriff passt er sich dynamisch den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen an. Der Begriff muss offen genug sein, um „die Vielgestaltigkeit der gewerblichen Entwicklung“[14] auch für die Zukunft zu erfassen und andererseits bestimmt genug, um – freilich aus ganz unterschiedlichen Gründen – bestimmte Tätigkeiten aus dem Anwendungsbereich des Gewerberechts herauszunehmen. Diese unterfallen entweder – wie die freien Berufe – einem eigenen Rechtsregime oder unterliegen – wie vor allem sämtliche als nicht erlaubt aus dem Gewerbebegriff ausgesonderten Tätigkeiten – der Kontrolle der allgemeinen Polizei- und Ordnungsbehörden (s. unten Rn 323 f). Gleichzeitig ist er flexibel genug, um den Besonderheiten des Einzelfalles Rechnung zu tragen, so dass vor einer allzu schematischen Anwendung der im Folgenden gelieferten Beispiele zu warnen ist. Gleichermaßen sind pauschale Hinweise auf den vermeintlichen „Typus“ des Gewerbetreibenden abzulehnen. Vor allem beim Ausscheiden von Bagatellfällen, für den diese sog. Gesamtbildlehre entwickelt wurde[15], ist Vorsicht geboten: dafür sind die Einzelmerkmale maßgeblich. Vor allem Dauerhaftigkeit und Gewinnerzielungsabsicht werden sich in solchen Fällen regelmäßig verneinen lassen. Der Gewerbebegriff gilt nicht nur für die GewO und die gewerberechtlichen Nebengesetze (vor allem GastG und HwO)[16], sondern insbesondere auch für TKG und KWG (dazu unten Rn 537, 544); die handels- und steuerrechtlichen Begriffe sind teilweise weiter.

Über die Anwendbarkeit der Gewerbeordnung entscheidet allerdings nicht allein diese Definition des Gewerbes. In § 6 GewO hat der Gesetzgeber für eine Vielzahl äußerst heterogener Tätigkeiten ausdrücklich die (Nicht)Anwendbarkeit der GewO vorgeschrieben. Die Vorschrift ist zwar teilweise deklaratorisch[17], kann aber nicht pauschal zur Konturierung des Gewerbebegriffes herangezogen werden[18]. So wird die Anwendbarkeit der GewO ausdrücklich auf die Tätigkeit von (eigentlich zu den freien Berufen gehörenden) Apothekern erstreckt. Umgekehrt wurde die Tätigkeit von Prostituierten ausdrücklich vom Anwendungsbereich der GewO ausgenommen, so dass sich insoweit die Diskussion um die Gewerbsmäßigkeit des „ältesten Gewerbes der Welt“ erledigt hat (s. ausf unten Rn 217 f).

a) Erlaubtheit des Gewerbes

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Erlaubt und damit grundsätzlich auch als Gewerbe ausübbar ist eine Tätigkeit, die nicht generell gegen geltendes Verfassungsrecht oder Strafgesetze verstößt[19]. Dieses Merkmal soll also bestimmte Verhaltensweisen aus dem Gewerberecht verbannen und gleichzeitig die Anwendbarkeit des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts eröffnen; schon wegen dieser Funktion ist es unverzichtbar[20]. Es ist gleichzeitig von Verboten in der GewO, etwa der Durchführung bestimmter Tätigkeiten als Reisegewerbe (dazu Rn 337 ff), zu unterscheiden. Während sich mittels dieses Kriteriums eindeutig strafbares Verhalten wie die „gewerbsmäßige“ Hehlerei, aber auch die Ausübung verbotenen Glücksspiels (§ 284 StGB)[21] ohne Probleme aus dem Gewerbebegriff ausklammern und damit der Kontrolle der allgemeinen Gefahrenabwehrbehörden überstellen lassen, stellt sich immer wieder die Frage, inwieweit Tätigkeiten, die nicht ausdrücklich verboten sind, als sozial unwertig aus dem Gewerbebegriff herausfallen können. Dies soll dann der Fall sein, wenn sie „den allgemein anerkannten sittlichen und moralischen Wertvorstellungen zuwiderlaufen“[22]. Da diese nach Ansicht des BVerfG dem Schutz des Art. 12 GG unterfallen (s. bereits Rn 116) und die verfassungsrechtlichen Wertungen das Gewerberecht prägen, erscheint dies problematisch[23]. Weil viele ursprünglich als sozial unwertig qualifizierte Tätigkeiten seit langem als Gewerbe anerkannt sind, wie etwa Astrologie, Wahrsagerei und ähnliche gegen Entgelt angebotene Tätigkeiten[24], ist die praktische Relevanz dieser Frage eher gering (s. zur Kommerzialisierung der Sexualität Rn 218 f). Es verbleiben lediglich die Verstöße gegen die Menschenwürde des Art. 1 Abs. 1 GG. Solche Betätigungen, die insgesamt gegen die Menschenwürde verstoßen[25], fallen bereits aus dem Gewerbebegriff heraus, so dass ein Einschreiten auf der Grundlage des Polizei- und Ordnungsrechts möglich ist. Dogmatisch überzeugt der Ansatz, allerdings begegnet die Subsumtion der konkreten Fälle unter die Menschenwürde erheblichen Bedenken (zu Laserdromen Rn 116 und zu den Peep-Shows Rn 218)[26]. Es ist primär die Aufgabe des Gesetzgebers über Zulässigkeit oder Unzulässigkeit bestimmter Gewerbe zu entscheiden; der schillernde Begriff der sozialen Unwertigkeit kann dies nicht leisten, auch nicht, wenn man ihn mit zweifelhaften Menschenwürdeargumenten anreichert[27].

Hinsichtlich der kommerziellen Suizidbegleitung hatte der Gesetzgeber eine solche Regelung zu treffen versucht; allerdings ist § 217 StGB verfassungswidrig (s. oben Rn 116). Damit ist es nunmehr ausgeschlossen, diese als schlechthin verboten zu qualifizieren[28]. Der Gesetzgeber ist zu einer (differenzierten) Regelung aufgerufen; unabhängig davon ist aber nunmehr auch ein polizeirechtliches Einschreiten ausgeschlossen (zum Verhältnis zwischen Gewerbe- und Polizeirecht unten Rn 320).

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Besonders intensiv diskutiert wurde die Frage der „sozialen Unwertigkeit“ im Zusammenhang mit der Kommerzialisierung der Sexualität. Die Ausübung der Prostitution, aber auch der Betrieb eines Bordells fielen nach früher praktisch einhelliger Auffassung als „sozial unwertige Tätigkeit“ aus dem Gewerbebegriff und damit auch der Gewerbeaufsicht heraus. Allerdings handelt es sich beim Begriff der Gewerbsmäßigkeit nicht um eine moralische oder ethische Kategorie, sondern einen gefahrenabwehrrechtlichen Rechtsbegriff. Dieser ist, so auch das BVerwG[29], auszulegen vor dem Hintergrund grundrechtlicher Gewährleistungen sowie der gewandelten Moralvorstellungen der Allgemeinheit, wie sie sich insbesondere in Wertentscheidungen des Gesetzgebers widerspiegeln (zu den Prostitutionsgesetzen und ihren Konsequenzen für das öffentliche Recht auch Rn 116, 261, 436[30]). Die Grenze der Freiheitsausübung des Einzelnen sei erst erreicht, wenn „durch ein Verhalten, das nicht mit Strafe bedroht ist, schutzwürdige Belange der Allgemeinheit berührt werden, was insbesondere dann der Fall ist, wenn es nach außen in Erscheinung tritt“ und dadurch Jugendliche in ihrer Entwicklung gestört oder Dritte belästigt werden[31]. Sofern ein solcher Öffentlichkeitsbezug fehlt, ist es nicht Aufgabe des Gewerberechts, die Sittlichkeit zu fördern oder den Einzelnen zu einem herrschenden Moralvorstellungen entsprechenden Verhalten zu erziehen[32]. Aus systematischen Gründen ist zudem zu beachten, dass das Gesetz zwischen Gewerbsmäßigkeit und Unsittlichkeit differenziert und Letztere bei genehmigungsbedürftigen Gewerben als Versagungsgrund ausgestaltet ist (vgl zu § 33a Abs. 2 S. 1 GewO Rn 305; zu § 4 Abs. 1 Nr 1 GastG Rn 436; s. nunmehr auch die Konkretisierung der Zuverlässigkeit für das Prostitutionsgewerbe in § 15 ProstSchG)[33]. Grundsätzlich scheitert damit auch die Einstufung der Prostitution als Gewerbe also nicht am Merkmal der Erlaubtheit[34]. Für die persönliche Ausübung der Prostitution spielt diese Frage keine Rolle mehr, da diese gem. § 6 Abs. 1 S. 1 GewO nF ausdrücklich vom Anwendungsbereich der GewO ausgenommen wird (s. auch BT-Drucks. 18/8556 S. 104). Diese Freistellung erfasst aber gerade nicht das sog „Prostitutionsgewerbe“. Insoweit knüpft der Gesetzgeber an die tradierte Differenzierung zwischen Prostitution und „gewerblichen Nebenleistungen“[35] an, qualifiziert aber auch deren früher als „sozial unwertig“ eingestuften Formen wie den Betrieb eines Bordells als Gewerbe, für die in § 12 ProstSchG eine spezialgesetzliche Erlaubnispflicht besteht (s. aber zum Einschreiten nach § 15 Abs. 2 GewO gegen unerlaubte Prostitutionsstätten Rn 315), die jedoch das allgemeine Gewerberecht nicht verdrängt[36].

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Fall 15a (Rn 213)[37]:

Damit ist erst recht die kommerzielle Ausnutzung sexueller Bedürfnisse im Grundsatz nicht sozial verwerflich; auf die wenig überzeugende Abgrenzung von zulässigen „gewerblichen Nebenleistungen“[38] kann daher verzichtet werden. Im Betreiben eines Swingerclubs[39] liegt also ein Gewerbe, auf das die GewO und das GastG anwendbar sind; er unterliegt grundsätzlich nicht dem ProstSchG[40]. Die danach beim Ausschank alkoholischer Getränke (vgl Rn 419) erforderliche Erlaubnis kann nicht mit dem Argument verweigert werden, es werde der Unsittlichkeit Vorschub geleistet. Dies wäre allerdings dann der Fall, wenn Dritte gegen ihren Willen mit Erscheinungsformen der Sexualität in Kontakt geraten oder der Jugendschutz nicht gewährleistet ist, was im konkreten Fall aber durch die deutlichen Hinweise am Eingang und entsprechende Kontrollen ausgeschlossen wird.

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0+
Umfang:
1951 S. 2 Illustrationen
ISBN:
9783811495876
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