Buch lesen: «Soziale Arbeit», Seite 4

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2. die vorhandenen Ressourcen erhält und schützt, der Entstehung sozialer Problemlagen möglichst präventiv begegnet,

3. zufrieden stellende Lebenssituationen nach Möglichkeit mit wiederherstellen hilft, die sozialen und individuellen Probleme gemeinsam mit den KlientInnen bearbeitet,

4. wo Veränderungen nicht mehr möglich sind, eine Grundversorgung anbietet und sicherstellt.

Um diese Ziele zu erreichen, war für die Sozialreformerin Alice Salomon die Grundlage allen Helfens die Erstellung von sozialen Diagnosen. „Soziale Diagnose“ nennt sie deshalb auch ihr 1926 erschienenes erstes Lehrbuch für die Fürsorgeausbildung in Deutschland. Es ist somit das erste Fachbuch für die Profession überhaupt geworden. In sozialen Diagnosen sollen im Gegensatz zu medizinischen Diagnosen alle wichtigen psychosozialen Daten mit den KlientInnen zusammen erhoben werden.

Phasenmodell

Weiterhin entwickelte sie ein Phasenmodell professionellen Helfens, das sechs Schritte vorsieht:

■ Erkundigungen einziehen,

■ Ressourcenermittlung in der Lebenswelt,

■ stellvertretende Deutung,

■ Hilfeplan erstellen,

■ Interventionen,

■ Evaluation (Stimmer 2012, 273).

erste Soziale Frauenschule 1908

Entscheidend für diese Aufgaben der Wohlfahrtspflege waren für Salomon dafür ausgebildete soziale Fachkräfte. 1908 gründete Salomon im Berliner Pestalozzi-Fröbelhaus schließlich die erste zweijährige, überkonfessionelle Soziale Frauenschule in Deutschland und wurde bis 1927 deren erste Direktorin. Sie war aber nicht nur die Gründerin der ersten Ausbildungsstätte, sondern ab 1925 auch der ersten Weiterbildungsinstitution für die Fürsorgerinnen der „Deutschen Akademie für Soziale und Pädagogische Frauenarbeit“. 1929 gründete sie auch das wegweisende „Internationale Komitee Sozialer Frauenschulen“.


Das entscheidend Neue in der Wohlfahrtspflege war die Aufteilung in zwei öffentliche Funktionsbereiche: Sozialpolitik, die zuständig war für die „äußere“, materielle Not des Menschen und die Wohlfahrtspflege, die für die „innere“ Seite, die Not der Ansprechpartner war. Man ging nicht mehr davon aus, welche Schwierigkeiten eine Person machte, sondern welche sie hatte.

Alice Salomon hatte diese Überlegungen wissenschaftlich zusammengefasst und 1908 die erste zweijährige, überkonfessionelle „Soziale Frauenschule“ in Berlin und 1925 die „Deutsche Akademie für Soziale und Pädagogische Frauenarbeit“ als erste Fortbildungsinstitution für die Fürsorgerinnen gegründet. Sie ist mit dem „Internationalen Komitee Sozialer Frauenschulen“ dann auch die ersten Schritte hin zu einer Internationalisierung der Sozialen Arbeit gegangen.

1.5 Volkspflege im Nationalsozialismus (1933–1945)

NS-Volkswohlfahrt

Zum Ende der Weimarer Republik waren in Deutschland Millionen Menschen ohne Arbeit, mit den katastrophalen Folgen gesellschaftlicher Verelendung, die sich auch verheerend auf die Sozialpolitik und das Fürsorgesystem auswirkten. Die Stoßrichtung der einsetzenden Sozialpolitik der nationalsozialistischen Parteidiktatur zielte zunächst auf die Einrichtung von Arbeitsbeschaffungsprogrammen und der schrittweisen politischen Gleichschaltung, bzw. auch der Zerschlagung der öffentlichen und privaten Fürsorgestrukturen der Republik. Zu den ersten organisatorischen Schritten der nationalsozialistischen Wohlfahrtspflege gehörte bereits 1932 die Gründung einer eigenen Wohlfahrtsorganisation, die „Nationalsozialistische Volkswohlfahrt“ (NSV). Das gesamte Wohlfahrtswesen aus der Weimarer Republik wurde über einen enthumanisierenden „Paradigmenwechsel“ nach und nach von der NSV übernommen. Dies bedeutete, dass die „Für“Sorge durch staatlich organisierte „erb- und rassenbiologische“ Maßnahmenkataloge zur „Volks“Pflege, d. h. zur „Erb- und Rassenpflege“ wurde. Den kirchlichen Wohlfahrtsverbänden blieb lediglich die Sorge für die so genannten „Minderwertigen“ (Kriminelle, Obdachlose, Arbeitsscheue, Erbkranke, Anstaltsinsassen aller Art) (Mason 1977; Kramer 1983; Baron 1983/86; Vorländer 1988; Zeller 1994).

Die nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) verfolgte drei Hauptziele:

Ziele

1. Reduzierung von öffentlicher (materieller) Fürsorge: Die Fürsorge während der Weimarer Zeit sei zu großzügig gewesen und die Unterhaltsmittel falsch verteilt worden. Vorsorge müsse in den Vordergrund treten. Die „unwirtschaftliche“ Fürsorge für die „sozial Untüchtigen“ wurde radikal gekürzt.

2. Orientierung der Fürsorge am „Volksganzen“: Die Orientierung am Einzelschicksal wurde zugunsten einer Orientierung am „Volksganzen“ aufgegeben. Die „Befürsorgung minderwertiger“ Menschen wurde ganz aufgehoben. Die nationalsozialistische Volkswohlfahrt betreute nur aus ihrer Sicht förderungswürdige so genannte „erbgesunde und wertvolle“ Familien. Die Klientel der NSV wurden eingeteilt in „förderungsunwürdige“ und „förderungswürdige“ Menschen.

3. Schutz vor so genanntem „Kranken-Erbstrom“: Durch gezielte Maßnahmen, wie ab 1933 die Zwangssterilisierung und ab 1939 die Ermordung hilfloser behinderter Menschen, sollte die abendländische Kultur bzw. die „arische Rasse des deutschen Volkes“ künftig vor „ungesundem Erbgut“ und „kranken Erbströmen“ geschützt werden. Um diese Ziele zu erreichen, führte man zunächst nur wenige Gesetzesänderungen durch. Die aus der Weimarer Republik stammenden Gesetze mussten lediglich restriktiv ausgelegt werden. Dazu reichte eine entsprechende Personalpolitik. Dann änderten die Nationalsozialisten aber nach und nach die Sozialgesetzgebung bzw. gaben neue Verwaltungserlasse heraus, die aber häufig schon im vorauseilenden Gehorsam durch die Sozialverwaltungen befolgt wurden (Gruner 2002).

neue Ethik

Man muss festhalten, dass die in der Sozialen Arbeit (Volkspflege) Tätigen an der Umsetzung der Politik der Entartung und der Durchsetzung der dazu gehörenden neuen Ethik von der ungleichen Wertigkeit der Menschen in vielfältigen Formen beteiligt waren. Sie haben in der großen Mehrzahl das neue Konzept der ausgrenzenden Volkspflege mitgetragen (Kuhlmann 2012, 88, 92).


Man kann zusammenfassend sagen, dass die Entwicklung der Sozialen Arbeit nach der Machtübernahme Hitlers 1933 durch einen dramatischen und enthumanisierenden Paradigmenwechsel bestimmt wurde und dass man nach dem Kriegsende dort wieder ansetzen musste, wo man vor 1933 aufgehört hatte.

1.6 Nach dem Zweiten Weltkrieg: Bundesrepublik Deutschland (seit 1945)

Der Wiederaufbau des sozialen Netzes nach dem Zweiten Weltkrieg verknüpfte zwei Linien:

Neubeginn

1. Die sozialen Fachkräfte versuchten wieder dort anzusetzen, wo der Entwicklungsprozess der Fürsorge bzw. der Sozialen Arbeit als Ausbildungssystem und Profession durch den Nationalsozialismus auf dramatische und enthumanisierende Weise unterbrochen worden war. So hielt man in der 1949 entstandenen Bundesrepublik zunächst noch einige Jahre am bestehenden System der Weimarer Republik der Sozialversicherungen und Renten grundsätzlich fest. Es gab vorerst auch keinen Anlass zur Veränderung, zumal die Westalliierten das deutsche System der Sozialversicherung allgemein als fortschrittlich und vorbildlich ansahen. Im Wesentlichen galten die gesetzlichen Grundlagen der Weimarer Republik weiter.

2. Durch die Beeinflussung der Westalliierten wurde der Wiederaufbau der Sozialen Arbeit nach dem Muster des Sozialwesens in England und den USA geprägt. Man übernahm, zunächst recht unkritisch, die so genannten modernen „klassischen Methoden: Casework/Einzelhilfe, Groupwork/Gruppenarbeit und Community Work/Gemeinwesenarbeit.

Mit einer Reihe von gesetzlichen Grundlagen versuchte die damalige Bundesregierung die Probleme der Nachkriegszeit in den Griff zu bekommen. Hier sollen nur zwei exemplarisch genannt werden:

JWG (1961)

■ Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) von 1961 mit verschiedenen Neufassungen bis zur Neuformulierung im „Kinder- und Jugendhilfegesetz“ (KJHG) von 1991

BSHG (1961)

■ Das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) von 1961/62 und Vorläufer unseres heutigen neuen Sozialgesetzbuches (SGB). Das Gesetz sollte dazu beitragen:

- ein menschenwürdiges Dasein für alle BürgerInnen zu sichern,

- gleiche Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit zu schaffen,

- die Familien zu schützen und zu fördern,

- den Erwerb des Lebensunterhaltes durch eine frei gewählte Tätigkeit zu ermöglichen und

- besondere Belastungen des Lebens, auch durch Hilfe zur Selbsthilfe, abzuwenden oder auszugleichen.


Nach dem BSHG hat jede/r BürgerIn einen Rechtsanspruch auf Sozialhilfe. Das Gesetz verfolgt den Zweck, der/dem Hilfebedürftigen bei eigener Mitwirkung einen gegebenenfalls einklagbaren Zugang zu einem Leben der Selbstbestimmung zu schaffen, damit sie/er und ihre/seine Familie ein menschenwürdiges Dasein führen können. Das BSHG führte neue Begriffe ein: aus Fürsorge wurde Sozialhilfe, aus Jugendfürsorge und Jugendwohlfahrtspflege wurde Jugendhilfe, aus Wohlfahrtspflege als Sammelbegriff wurde die Bezeichnung Soziale Arbeit (Hering/Münchmeier 2014, 114).

1.7 Armut und Hilfe in der bundesrepublikanischen Sozialarbeit

1.7.1 Armut


Würden Sie der Formulierung zustimmen: „Wenn man von Armut spricht, meint man stets materielle Armut.“ Oder würden Sie Armut anders umschreiben?

Wenn man von Armut spricht, sollte man nicht nur an materielle Armut, sondern auch an andere gesellschaftliche Formen der Armut denken.

Im Folgenden soll nach dem Verständnis der Armut gefragt werden. Das Verständnis von Armut hat sich im Laufe der Geschichte gewandelt. Armut ist ein relativer, gesellschaftlicher Tatbestand.

Armut heute

„Was aber heißt relativ. Relativ ist z. B. das jeweilige Einkommen im Verhältnis zum durchschnittlichen Verdienst eines Erwerbstätigen; relativ sind die, für die Festsetzung des „Mindestbedarfs“ erforderlichen, Konsumtionsmittel im Verhältnis zum durchschnittlichen Wert der Ware Arbeitskraft; relativ ist die Kaufkraft der Menschen mit Bezug auf die Teuerungsrate der zum Lebensunterhalt erforderlichen Konsumtionsmittel; relativ ist schließlich auch die Wahrnehmung von Ansprüchen im Verhältnis zu den disponiblen Sozialleistungen. Relativ ist individuelle Armut somit im Vergleich zur Gesamtheit gesellschaftlich verteilter Konsummöglichkeiten, zu Umfang und Qualität der gesellschaftlich verteilten Geld-, Dienst- und Sachleistungen. Armut ist mithin nicht bloß ein Problem ökonomischer Mangel- und Abhängigkeitssituationen. Sondern Armut ist immer gleichzeitig ein Problem ökonomischer sowie auch sozialer Ungleichheit, damit also als relativ anzusehen.“ (Zander 1987, 138)

Paradigmenwechsel

Man kann von einem sozialpolitischen Paradigmenwechsel sprechen, einer feststellbaren qualitativen Veränderung von Erscheinungsformen der Armut. Nicht mehr nur der materielle Aspekt, sondern immer gleichzeitig auch der psycho-soziale Aspekt von Armut steht im Blickpunkt. Damit beschränkt sich Soziale Arbeit nicht mehr nur auf bestimmte Gruppen, Schichten und Einkommensverhältnisse, sondern auf alle Menschen. Diese Entwicklung wurde eingeleitet mit der Übernahme der materiellen Lebensversicherung durch sozialpolitische Maßnahmen und Institutionen. Dadurch nehmen Notstände und Lernprobleme im Ganzen keineswegs ab, sondern sie verlagern sich von materiellen auf psycho-soziale Notstände bzw. Problemlagen und Bedürfnisse.

psycho-soziale Armut

Man kann sagen, dass die relative Bedeutung wirtschaftlicher Notstände – stellt man einen genügend langen Zeitraum in Rechnung – tendenziell abgenommen, während die Bedeutung psycho-sozialer Probleme zugenommen hat. Die Suche nach einem akzeptierten und subjektiv zufriedenstellenden Lebensstil und einer Lebensqualität wird zu einem zunehmend relevanten Problem. Es geht um die grundlegende Frage, ob unsere postmodernen Gesellschaften einem Wertwandel oder Werteverlust unterliegen. Dieser Perspektivwandel zur psycho-sozialen Lebenshilfe übersieht nicht, dass es in Deutschland eine ‚neue Armut‘ gibt, dass etwa ein Drittel der Bevölkerung mit wachsender Tendenz v. a. auch bei Kindern/Jugendlichen, alten Menschen und Langzeitarbeitslosen als (materiell) arm zu bezeichnen ist.


Wenn man von Armut spricht, etwa in Bezug auf Familien, muss zwischen verschiedenen Aspekten unterschieden werden: liegt relative oder absolute Armut vor? Handelt es sich um Familien in einer armutsnahen Lebenssituation bzw. so genannte Familien in prekären Lebenslagen?

Armutsgefährdung

„Der aktuellen statistischen Bemessung von Armut liegt europaweit ein Verständnis von relativer Armut zugrunde, d. h. Armut wird definiert in Bezug zum Wohlstand der jeweiligen Gesellschaft. Der zentrale Begriff ist hier die Armutsgefährdungsquote: In Deutschland belief sich der Schwellenwert für Armutsgefährdung im Jahr 2009 für eine alleinlebende Person auf 11.278 Euro im Jahr, was einer Quote von etwa 15,6 % der Gesamtbevölkerung entspricht.“ (Uhlendorff et al. 2013, 75)

Die Armutsgefährdungs- bzw. Armutsrisikoquote liegt in Deutschland seit 2005 etwa auf dem gleichen Niveau, stagniert also trotz einer guten wirtschaftlichen Entwicklung in den letzten Jahren. Im Jahr 2015 lag sie bei 15,4 % der Bevölkerung, wobei allerdings relativ große regionale Unterschiede bestehen. Die Armutsrisikoquote ist in erster Linie ein Maß der Einkommensungleichheit. Sie misst den Anteil der Personen, deren bedarfsgewichtetes Nettoeinkommen weniger als 60 % des mittleren Äquivalenzeinkommens beträgt. Dabei bleiben die Wirkungen von Sach- und Dienstleistungen unbeachtet, und zwar auch dann, wenn sie das Leben betroffener Personen nachhaltig verbessern (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2017, VI–VII).

prekäre Lebenslage

„Der Begriff prekäre Lebenslage ist weiter gefasst und geht über die Beschreibung einer aktuellen ökonomischen Notlage einer Familie hinaus. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung sind auch hier die Teilhabechancen der Familien in prekären Lebenslagen eingeschränkt, obwohl Familien über ein Einkommen verfügen. In diesem Zusammenhang wird auch von Einkommensarmut gesprochen. Zu dieser Gruppe zählt auch die in Europa wachsende Zahl der sogenannten Niedriglohnbeschäftigten, die trotz Vollzeittätigkeit kaum in der Lage sind, für sich und ihre Familien ein Einkommen zu erzielen, das ein Leben oberhalb der Armutsgefährdungsquote ermöglicht (AWO 2010). Neben den Niedriglohnbeschäftigten sind v. a. Ein-Eltern-Haushalte, Familien mit drei oder mehr Kindern sowie Familien mit Migrationshintergrund betroffen.“ (Uhlendorff et al. 2013, 76)


„Soziale Ungleichheit verkörpert sich zwar nicht mehr so kollektiv wie früher in Gruppen und Milieus. Sie scheint in der Struktur abgewandelt zu sein. Soziale Benachteiligung äußert sich heute weniger als kollektive soziale Deklassierung, sondern eher als soziale Nichtberücksichtigung von Gruppen im gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß. Nichts anderes bedeutet die Formel von der Zweidrittelgesellschaft: Auf zwei Drittel der Gesellschaft richtet sich die Politik von Wachstum und Prosperität, das andere Drittel ist an dieser Entwicklung nicht beteiligt, wenn auch leidlich sozial versorgt. Zum modernen Sozialstaat ist also soziale Benachteiligung weniger über die traditionellen Muster sozialer Deklassierung und Randgruppenexistenz begreifbar, sondern eher über das Bild des Ausgeschlossenseins von der gesellschaftlichen Entwicklungsperspektive. Dazu kommt, daß die moderne Konsumgesellschaft Armut verschleiert. Auch die Armen können bei uns konsumieren, auch wenn es nur Billigware ist. Die Konsumgesellschaft suggeriert ökonomische und soziale Teilhabe. Die Menschen tun das ihre dazu, um ihre Armut und soziale Benachteiligung zu verbergen, sie fürchten noch mehr soziale Isolierung, haben Angst, den Anschluß endgültig zu verpassen, wollen zeigen, daß sie dabei sind. Und dies läuft wiederum über demonstratives Konsumverhalten.“ (Böhnisch 1992b, 121)

1.7.2 Soziale Hilfe


2. Praxis-Situation: Privates Problem – Soziales Problem

Familie Müller, ein Ehepaar mit zwei kleinen Kindern, hat, was wohl ganz normal ist, hin und wieder Kommunikationsprobleme, Erziehungsprobleme oder auch Eheprobleme. Welche Familie hat das nicht? Aber wann werden diese privaten Probleme zu sozialen Problemen? Zeigen Sie das am Beispiel der Familie Müller auf.

Will man die gegenwärtige Strukturierung des sozialen Systems in Deutschland verstehen, geht man von Artikel 20 des Grundgesetzes aus: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“ Bei der Strukturierung des Sozialwesens wird davon ausgegangen, dass jeder erwachsene Staatsbürger, jede Staatsbürgerin die Möglichkeit hat und darauf verwiesen ist, den Lebensunterhalt für sich und die Familie durch abhängige oder selbständige Arbeit zu verdienen. Bei Ausnahmen von dieser Regel besteht der Anspruch auf entsprechende Sozialleistungen einschließlich sozialer und erzieherischer Hilfen, wie es in § 1 des Allgemeinen Teils des Sozialgesetzbuches (SGB) heißt.

Die Grundsicherung für Arbeitssuchende umfasst nach § 1 Abs. 3 SGB II Leistungen

1. zur Beendigung oder Verringerung der Hilfebedürftigkeit, insbesondere durch Eingliederung in Arbeit, und

2. zur Sicherung des Lebensunterhaltes.

Die Sozialhilfe in der Bundesrepublik Deutschland umfasst nach § 8 SGB XII folgende Hilfen:

1. Hilfe zum Lebensunterhalt (§§ 27 bis 40 SGB XII),

2. Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (§§ 41 bis 46 SGB XII),

3. Hilfen zur Gesundheit (§§ 47 bis 52 SGB XII),

4. Eingliederungshilfe für behinderte Menschen (§§ 53 bis 60 SGB XII),

5. Hilfe zur Pflege (§§ 61 bis 66 SGB XII),

6. Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten (§§ 67 bis 69 SGB XII),

7. Hilfe in anderen Lebenslagen (§§ 70 bis 74 SGB XII)

sowie die jeweils gebotene Beratung und Unterstützung.

Hilfe, zentrales Strukturmerkmal

Es besteht weitgehend Konsens darüber, dass es in der Sozialen Arbeit im Wesentlichen um Hilfe(leistungen) geht. Hilfe ist das zentrale Strukturmerkmal der Profession Soziale Arbeit. Dabei muss man allerdings feststellen, dass sich der Hilfebegriff bei sich verändernden gesellschaftlichen Strukturen ebenfalls verändert hat. Er ist durch historische Entwicklungen zu einem komplexen Begriff geworden. Im Folgenden soll dieser komplexe Begriff ‚Hilfe‘ einer detaillierteren Betrachtung unterzogen werden.

Unter Hilfe versteht man ein öffentliches soziales Handeln, als Sorge für diejenigen Menschen in einer Gesellschaft, die während bestimmter Lebensphasen und/oder in bestimmten individuellen und sozialen Lebenslagen ihre Angelegenheiten nicht selbst und auch nicht mit Unterstützung der Menschen ihres unmittelbaren Lebensumfeldes regeln können. Die Beantwortung der Fragen

Wem wird geholfen? (Auswahl derjenigen, die Hilfe bekommen sollen)

Wann wird geholfen? (Anerkennung bestimmter Bedürfnisse)

Warum wird geholfen? (Motive der Hilfeleistung)

Wie wird geholfen? (Art und Weise des jeweiligen Vorgehens)

wird beeinflusst durch das in einer Gesellschaft geltende Menschenbild und der Vorstellung vom menschlichen Zusammenleben bzw. dem gesellschaftlichen Wertesystem. Um soziale Hilfe gewährleisten zu können, kann man aus geschichtlicher Sichtweise drei Formen unterscheiden:

Privat-lebensweltliche Form der Hilfe: Diese Form nimmt tendenziell immer mehr ab. Man kann davon ausgehen, dass privat geleistete, „barmherzige Liebesdienste“ endgültig zu verabschieden sind.

Sozialpolitik: Sie wird bestimmt durch Geldleistungen unter sozialrechtlichen Vorgaben und Begrenzungen.

Personenbezogene soziale Dienste: Soziale Arbeit und öffentliche Erziehung sind notwendig gewordene Institutionen, die Hilfeleistungen der privat-lebensweltlichen Form immer mehr übernehmen (Rauschenbach/Gängler 1992, 46).

Der Begriff soziale, d. h. öffentliche Hilfe ist heute vielfach vorbelastet (Schefold 2002, 875–881), z. B. dadurch, dass es für Menschen in manchen Fällen offenbar peinlich ist, Hilfsangebote anzunehmen. Man signalisiert durch das Ersuchen von Hilfe, dass man in einem bestimmten Bereich versagt hat, Probleme nicht selbständig bewältigen kann.

soziale Hilfe

Wer soziale Hilfe annimmt, muss über seine Probleme sprechen, sich und seine Lebenslage offen darlegen, möglichst nichts verschweigen. Alles wird sehr genau notiert und zu den Akten gelegt. Man wird zu einem Fall. Gegen solche Voraussetzungen des Hilfsangebotes wehrt man sich. Man versucht auch so zurechtzukommen. Über private Probleme möchte man nicht sprechen.

Ein weiterer Makel von Hilfe besteht darin, dass häufig diejenigen, die Hilfe benötigen, als „a-normal“ bezeichnet werden, weil sie nicht in der Lage zu sein scheinen, ihr Leben selbständig zu planen und zu gestalten. Dabei übersieht man, dass jeder Mensch viel Hilfe braucht und auch ständig in Anspruch nimmt, z. B. die Hilfe des Arztes, der Krankenkasse, Autowerkstatt, Versicherung, des Rechtsanwaltes, eines Verkäufers, des Polizisten, Pfarrers usw. Hilfe in Anspruch zu nehmen, ist normal. Wir brauchen in unserem ganzen Leben ständig Hilfe. Jeder Mensch ist bezüglich der Entwicklung seiner Persönlichkeit auf die Hilfe Anderer angewiesen.


Aus diesem Grunde sollte man den Begriff „soziale Hilfe“ differenzieren:

1. primäre Hilfe: Eigentliche Inanspruchnahme von Hilfeleistungen. Sie dient der ganzheitlichen Entfaltung der Persönlichkeit.

2. sekundäre Hilfe: Ersuchen von Hilfeleistungen im Vorfeld eines Problems. Beim Lösen und Bewältigen von Problemen bedarf es kompetenter Beratung, Hilfe und Unterstützung.

3. tertiäre Hilfe: Ersuchen von Hilfeleistungen im Nachhinein. Probleme eskalieren, entwickeln eine Eigendynamik, schaffen Situationen, die man ohne fremde Hilfe nicht mehr lösen kann.

Vielfach versteht man Hilfe Sozialer Arbeit immer noch als tertiäre Hilfe, d. h. als Maßnahmen, die dann zum Zuge kommen, wenn bereits Probleme bestehen. Dieses Verständnis hat sich jedoch inzwischen insofern geändert, als Soziale Arbeit primär im präventiven Bereich angesiedelt ist, d. h. primäre und sekundäre Hilfe leistet. Soziale Hilfe im Sinne von Orientierungshilfe braucht nicht nur derjenige, der von der Norm abweicht, sondern jeder, der Werte und Normen erfüllen will.


Abbildung 5: Hilfe-Modell

Man kann die Hilfesysteme in vier Grundtypen zusammenfassen (Abbildung 5): Anleitung, Beratung, Begleitung und quasi therapeutische oder Therapie vorbereitende Funktionen. Der Wunsch der Hilfesuchenden zielt auf die Zunahme von Bewältigungsstrategien und auch auf entsprechende Entscheidungskriterien für den adäquateren Umgang mit Problemlagen. Die zweite Achse zielt auf die Potentiale der helfenden Profession ab. Die unterstützenden sozialen Fachkräfte stellen Strukturen und den Aufbau von Vertrauensbeziehungen zur Verfügung (Konvergenz). Divergenz meint hingegen, dass die sozialen Fachkräfte ihre Strukturen analog bzw. gleichsam als Katalysatoren einsetzen. Dadurch werden bei den Hilfesuchenden eigene Prozesse anregt, um die Entstehung von Abhängigkeiten zu vermeiden (Ludewig 1992, 122–124).

1.8 Zusammenfassung

Erwachsenen-Fürsorge hat im Laufe der Geschichte viele Namen gehabt: bis 1900 Armenpflege oder Armenfürsorge, 1900–1918 Soziale Fürsorge, nach 1918 Wohlfahrtspflege, nach 1945 Fürsorge, seit 1960 Sozialarbeit, etwa seit den 1990er Jahren Soziale Arbeit. Es ging dabei um die materielle Hilfe für Erwachsene. Im nächsten Kapitel soll es um die Jugendfürsorge, die Geschichte der Sozialpädagogik gehen.


Sozialarbeit und Sozialpädagogik hatten im Mittelalter und zu Beginn der frühen Neuzeit noch die gleichen geschichtlichen Wurzeln. Denn im Mittelalter unterschied man noch nicht zwischen Hilfe für Erwachsene und Kinder bzw. Jugendliche. Seit der frühen Neuzeit konzentrierte man sich jedoch zunehmend gesondert auf Kinder und Jugendliche und versuchte sie vorbeugend vor Verwahrlosung zu schützen.

Diese beiden Linien, Erwachsenen- und Jugend-Fürsorge, haben sich eine Zeit lang auseinander entwickelt. Jeweils eigene Hilfe-Modelle wurden entworfen. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sie sich dann zunächst allmählich, mittlerweile jedoch wieder soweit aufeinanderzubewegt (sie konvergieren), dass man zwar immer noch vielfach von Sozialarbeit/Sozialpädagogik, aber zunehmend nur noch von Sozialer Arbeit spricht, in der beide historische Entwicklungslinien zusammengeflossen sind (Abbildung 6). Wie diese Entwicklung verlaufen ist, werden die weiteren Kapitel näher beleuchten.


Abbildung 6: Hilfeleistungen


Lösungsvorschlag zur 1. Praxis-Situation: Problem – Hilfe

Vielleicht kann man Frau Stark folgendermaßen helfen:

Zuerst könnte man ihr bestätigen, dass sie stolz auf sich sein kann. Wie gut sie ihre Familie organisiert hat und dass sie zu Recht unabhängig bleiben möchte. Als zweites könnte man ihr aufzeigen, dass sie nicht versagt hat. Hilfe in Anspruch zu nehmen, ist kein Eingeständnis, dass man die anstehenden Aufgaben nicht auch alleine meistern kann. Hilfe in Anspruch zu nehmen, ist keine Schande und kein Zeichen von Schwäche oder Versagen. Nach Hilfe zu bitten, gehört zu unserem Alltag, begleitet uns ständig. Ich bitte die Schuhverkäuferin oder den Versicherungsfachmann um Rat, frage in einer fremden Stadt einen Passanten nach einer Straße, suche im Internet nach Informationen über ein Medikament oder ein Krankheitsbild. Umso komplizierter unsere Gesellschaft wird, desto mehr benötige ich Informationen, d. h. Hilfe. Alle diese Beispiele sollen aufzeigen: Hilfe ist eine Urkategorie, sie gehört zum menschlichen Leben.

Drittens könnte man bei Frau Stark nachfragen, ob sie sich aus eigener Erfahrung oder nur vom Hörensagen ein Bild vom Jobcenter gemacht hat. Frau Stark sollte vermittelt werden, dass es am besten ist, wenn sie sich ein eigenes Urteil über das Jobcenter bildet. Vielleicht sind die MitarbeiterInnen des Jobcenters ja doch sehr kompetent, können zuhören und sind ehrlich bemüht, Hilfe anzubieten. Absagen könnte Frau Stark dann ja immer noch. Ihr kann deutlich gemacht werden, dass sie über ihr Leben selbstverständlich selbst entscheidet.

Diese aufgeführten Überlegungen helfen Frau Stark vielleicht. Eventuell haben Sie aber auch völlig andere Gedanken und würden das Gespräch ganz anders gestalten. Ein Richtig oder Falsch gibt es in der Beratung nicht. Wichtig ist, Frau Stark zu helfen, die Entscheidung zu finden und zu treffen, die für sie die nützlichste ist und die ihr Selbstbewusstsein stärkt.


Lösungsvorschlag zur 2. Praxis-Situation: Privates Problem – Soziales Problem

Solange Familie Müller ihre Probleme selbst zu lösen versucht, oder ihr Familienangehörige, Verwandte, FreundInnen oder NachbarInnen dabei helfen, bleiben es zunächst private Probleme. Ein soziales Problem liegt erst dann vor, wenn die Situation eine Form annimmt, die öffentlich bzw. gesellschaftlich als veränderungsbedürftig angesehen wird und hierfür entsprechende Hilfeangebote eingerichtet werden. Dies könnte z. B. bei Erziehungsproblemen der Fall sein, die Gewalt in der Familie nach sich ziehen. In diesem Fall könnte Familie Müller öffentliche Hilfe in Anspruch nehmen, z. B. zum Jugendamt gehen oder eine Beratungseinrichtung aufsuchen, um sich professionell helfen zu lassen. Wie die Hilfe bei sozialen Problemen konkret gestaltet wird, kommt darauf an, ob es sich um Hilfe im primären, sekundären oder tertiären Bereich handelt.


Hering, S., Münchmeier, R. (2014): Geschichte der Sozialen Arbeit. Eine Einführung. 5., überarb. Aufl. Beltz Juventa, Weinheim

Müller, C. W. (2013): Wie Helfen zum Beruf wurde. Eine Methodengeschichte der Sozialen Arbeit. 6. Aufl. Beltz Juventa, Weinheim

Niemeyer, C. (2010): Klassiker der Sozialpädagogik. 3., aktual. Aufl. Beltz Juventa, Weinheim

Zeller, S. (2006): Juan Luis Vives (1492–1540). (Wieder)Entdeckung eines Europäers, Humanisten und Sozialreformers jüdischer Herkunft im Schatten der spanischen Inquisition. Lambertus, Freiburg


1. Warum sollten sich SozialarbeiterInnen/SozialpädagogInnen mit der Geschichte ihres Berufsbildes beschäftigen?

2. Was besagt die Kernaussage: Hilfe ist eine Urkategorie des menschlichen Handelns?

3. Was war der Grund für die Entstehung der öffentlichen Fürsorge?

4. Wodurch unterscheidet sich die Erwachsenen-Fürsorge von der Jugend-Fürsorge?

5. Welche Einstellung hatten die Menschen im Mittelalter zum Betteln?

6. Wie bewertet Martin Luther das Betteln?

7. Welche zentralen Aussagen enthält das Modell der Armenpflege von Juan Luis Vives?

8. Worum ging es den Nürnberger Bettel- und Armenordnungen?

9. Worin unterscheidet sich das Straßburger System vom Elberfelder System?

10. Was beinhalten die Bismarckschen Sozialgesetze?

11. Welche Veränderung erfuhr die Fürsorge im Ersten Weltkrieg?

12. Wie wurde in der Weimarer Republik die Fürsorge/Wohlfahrtspflege geregelt?

13. Worum ging es Alice Salomon in ihrem theoretischen Modell?

14. Worin bestand im Nationalsozialismus der „Paradigmenwechsel“ der Wohlfahrtspflege?

15. Wie wird Armut definiert?

16. Was versteht man unter Armutsgefährdungsquote?

17. Durch welche gesetzlichen Grundlagen versuchte man nach dem zweiten Weltkrieg, die Probleme der Armut in den Griff zu bekommen?

18. Inwiefern hat sich der Begriff „Armut“ verändert?

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