Buch lesen: «Soziale Arbeit», Seite 3

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Die Höhe der Unterstützung richtete sich nach dem jeweiligen Personenstand. Wenn das Almosen wegen „unchristlichem“ Lebenswandel oder anderer Defizite verweigert werden musste, wirkten die Armenpfleger erzieherisch darauf hin, dass die Bedürftigen wieder auf die „rechte Bahn“ kamen. In der Nürnberger Armenordnung sind sogar schon Vorformen von Evaluation zu erkennen. So berichteten Armenpfleger beispielsweise, dass sie bei Hausbesuchen Erfolge feststellen konnten, wenn ehemalige Bettler und Müßiggänger wieder in ihren alten Handwerksberufen tätig waren und auch deren Kinder das Betteln aufgegeben hatten. Von einem beruflich „korrekt“ arbeitenden Armenpfleger erwartete die Stadtverwaltung ebenso den sorgfältigen Umgang mit öffentlichen Geldern (Zeller 2006, 133–139).

Konzept der Nürnberger Armenordnung von 1522 zur Durchsetzung der Bettelverbote

– Anstellung von Armenpflegern

– Gemeinsame Beratungen

– Hausbesuche/Bedürftigkeitsüberprüfung

– Verteilung von Bettelabzeichen

– Feststellung der Arbeitsfähigkeit bzw. -unfähigkeit

– Arbeitsbeschaffung

– Aktenführung

– Kassenverwaltung

– Genaue Festlegung der Höhe der Unterstützung

– Erziehungsmaßnahmen

– Besorgen von Arzneien

– Überprüfungen der geleisteten Maßnahmen

(Zeller 2006, 140)

1.3 Erwachsenenfürsorge im Zeitalter der Industrialisierung (18.–19. Jh.)

1.3.1 Industrielle Entwicklung – Pauperismus


Die rapide Umgestaltung Deutschlands zu einer Industriegesellschaft nach der Reichsgründung von 1871 hatte weitreichende soziale Folgen. Können Sie sich vorstellen, um welche es sich handelt?

Mit zunehmend sozialpolitisch ausgerichteten Konzepten und den im 19. Jahrhundert hinzukommenden neuhumanistischen Bildungs- und Erziehungsidealen auch für die unteren Schichten sowie im Zuge der Verweltlichung der Armenpflege wurde der alte polizeiliche Armenpflegebegriff schließlich immer mehr von dem Begriff Armenfürsorge, noch später Wohlfahrtspflege abgelöst. So wurden Sozialpolitisierung, Sozialdisziplinierung und im 19. Jahrhundert durch die Entstehung von freien Wohlfahrtsverbänden auch Konfessionalisierung wesentliche Meilensteine des Armen- und Fürsorgewesens in die europäische Moderne.

Der Pauperismus ist keine Folge der Industrialisierung, sondern bereits früher durch folgende Entwicklung entstanden: Mit der Bauernbefreiung (1807–1811) und der Einführung der Gewerbefreiheit (1810/11) wird den abhängigen Bevölkerungsschichten erstmals die Möglichkeit zu ungehinderter Familiengründung gegeben, was bei gleichzeitiger Abnahme der Sterblichkeit als Folge hygienischer Maßnahmen zu einem erheblichen Geburtenüberschuss und damit zu einer Überbevölkerung führte. Überbevölkerung und große Geldknappheit des Staates führten zu einem Mangel an Arbeitsplätzen und zu einer bis dahin nie gekannten Massenverarmung. Das bedeutete, dass nicht die Industrialisierung, sondern gerade ihre Verzögerung bei gleichzeitiger Überbevölkerung zum Pauperismus oder zur Verarmung ganzer Bevölkerungsschichten führte. Mit der Entstehung der Industriezentren kam es zu einer Binnenwanderung unbekannten Ausmaßes.

Seit etwa 1820 verläuft die industrielle Revolution in einem rasanten Tempo. Die rapide Umgestaltung Deutschlands zu einer Industriegesellschaft nach der Reichsgründung (1871) hatte weitreichende soziale Folgen. Gab es zu Beginn des Jahrhunderts etwa 300.000 Fabrikarbeiter, so waren es 1872 bereits sechs Millionen und um 1900 sogar zwölf Millionen.

sozioökonomischer Strukturwandel

Sachße und Tennstedt belegen den sozioökonomischen Strukturwandel dieses Jahrhunderts mit empirischen Daten:

1. Um 1750 lebten in Deutschland um 16–18 Millionen Einwohner, um 1900 waren es 56 Millionen.

2. Um 1800 lebte der größte Teil der Bevölkerung auf dem Lande. Von den 1016 Städten waren 998 noch typische Ackerbürgerstädte, d. h. Einwohner, die von landwirtschaftlichen Betrieben lebten. 1910 hatten 66 % der Bevölkerung ihren Wohnsitz in der Stadt (Sachße/Tennstedt 1980, 179–180).

3. „Die Anteile der Beschäftigten innerhalb der einzelnen Wirtschaftssektoren verschoben sich entscheidend vom primären Sektor (Landwirtschaft, Gartenbau, Forstwirtschaft, Fischerei) zum sekundären Sektor (Industrie, Handwerk, Verlag, Bergbau, …) und tertiären Sektor (Dienstleistung, Handel, Verkehr, Banken, …). 1800 waren von 10,5 Mio. Beschäftigten 62 v. H. im primären, 21 v. H. im sekundären und 17 v. H. im tertiären Wirtschaftssektor beschäftigt, 1914 waren von 31,3 Mio. Beschäftigten 34 v. H. im primären Sektor, 38 v. H. im sekundären und 28 v. H. im tertiären Sektor beschäftigt.“ (Sachße/Tennstedt 1980, 179 f.)

Die städtischen Ballungszentren boten ein Bild der Armut, des Elends und der Verwahrlosung. Industrie und Markt brachten nicht Harmonie und Wohlstand, sondern spalteten die Gesellschaft.

Das Bevölkerungswachstum war für den Übergang vom agrarisch-handwerklichen zum kapitalistisch-industriellen Wirtschaftssystem, für die Wandlungen im Bereich von Armut und Armenwesen deshalb von entscheidender Bedeutung, weil zunächst die Bevölkerung schneller wuchs als die Wirtschaft (Sachße/Tennstedt 1980, 181).

Einstellung zu den Armen

Bezüglich der Armenfürsorge handelte der Staat weniger im Interesse der Armen, als vielmehr in seinem eigenen Interesse. Die Einstellung zu den Armen fassen Christoph Sachße und Florian Tennstedt in drei Punkten zusammen:

1. Die Armen hatten keinen Rechtsanspruch auf Unterstützung. Die Unterstützung galt mehr im Sinne Polizeirecht vor Fürsorgerecht. Es ging um die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, um Gefahrenabwehr.

2. Die Armen, d. h. wer öffentliche Hilfe in Anspruch nahm, war von der Mitwirkung an den drei Gewalten des konstitutionellen Rechtsstaates (Legislative, Exekutive, Judikative) ausgeschlossen.

3. Neben diesen allgemeinen diskriminierenden Beschränkungen der Armen konnten die einzelnen Staaten des Deutschen Reiches weitere, ergänzende Eingriffe vornehmen. So durften z. B. in Bayern Ordnungskräfte die Wohnung der Armen jederzeit betreten, in Sachsen über Tun und Lassen im häuslichen Leben Rechenschaft fordern (Sachße/Tennstedt 1980, 212 f.). Arme mussten die ihnen zugewiesene Arbeit verrichten, im Weigerungsfall wurden Arbeitsscheu unterstellt und Haftstrafen verhängt.

Bettelvögte, Armenpfleger

Interessant ist aus heutiger Sicht, dass bis zu Beginn des 20. Jahrhundert die Versorgung wie auch die Disziplinierung und Kontrolle Hilfsbedürftiger durch öffentliche Armenverwaltungen nicht von Frauen, sondern ausschließlich von Bürgern mit Wahlrecht, also nur von ehrenamtlich tätigen Männern durchgeführt werden durften. In der Regel waren es ausgediente Soldaten oder Polizeidiener, welchen die Verteilung von Almosen übertragen wurde. Sie erhielten für ihre Tätigkeit etwa ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts von den Kommunen eine – mal mehr, mal weniger hohe – Aufwandsentschädigung. Man bezeichnete diese Tätigkeit regional unterschiedlich: Armen- und Bettelvögte, Gassendiener, Almosenknechte, Almosenpfleger, Kostendiener, Polizeidiener, Polizeisoldaten, Revierdeputierte, Armeninspektoren oder Armenpfleger. Ehrenwerte Bürger konnten nur dann ehrenamtlich in der Armenfürsorge tätig werden, wenn sie Mitglied eines städtischen Rates waren. Die Armenfürsorge galt dann als bürgerliches Ehrenamt.

1.3.2 Elberfelder Quartiersystem (1867)


Was halten Sie von folgendem Vorschlag, die Armenpflege in Quartieren bzw. Bezirken zu organisieren?

1. Man teilte eine Stadt in Bezirke auf und diese wiederum in Quartiere.

2. Jedem Bezirk stand ein ehrenamtlicher Vorsteher und jedem Quartier ein ehrenamtlicher Pfleger vor.

3. Jeder Pfleger hatte 2–4 Arme zu betreuen.

4. Den Armen sollte durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen geholfen werden.

Frage: Worin sehen Sie Chancen und Probleme bei dieser Form der Neuorganisation der Armenpflege?

Elberfeld (heute: Duisburg) war eine große Industriestadt. Um 1800 hatte sie etwa 12.000 Einwohner, 1852 bereits 50.364 und 1885 schon 106.492. Elberfeld gehörte damit zu den am raschesten wachsenden Fabrikstädten Deutschlands (Landwehr/Baron 1995, 22–26). Das Elberfelder System, von Daniel von der Heydt, Gustav Schieper und David Peters (Armenordnung vom 9. Juli 1852) konzipiert, war zu seiner Zeit das wirksamste und fand in weiten Teilen Deutschlands wie auch im Ausland große Anerkennung und Nachfolger. Es galt bis ins 21. Jahrhundert als Vorbild für die Organisation der Armenpflege. Ziel war es, die zu Armenzwecken verfügbaren Mittel mit größtmöglicher Sparsamkeit einzusetzen. Sachße und Tennstedt fassen die Grundsätze der Organisation und die materiellen Ziele in vier Punkten zusammen:


1. „Ehrenamtliche Arbeit in der öffentlichen Wohlfahrtspflege: Die verantwortliche Armenbehörde stellte eine große Anzahl freiwilliger Helfer und Helferinnen in ihren Dienst, die die Armen aufzusuchen, zu kontrollieren und nach Maßgabe ihres Befundes Unterstützung zu beantragen hatten;

2. Individualisierung der öffentlichen Wohlfahrtspflege: Keinem Armenpfleger sollten mehr als vier Familien oder alleinstehende Arme unterstellt werden, damit gründlich geprüft und kontrolliert werden konnte;

3. Dezentralisierung der öffentlichen Wohlfahrtspflege: Die Armenpfleger sollten nicht als ausführende Organe im Dienste der Stadtverwaltung tätig sein, sondern in den Bezirksversammlungen selbständig Unterstützung beschließen; die Armenverwaltung regelte die Tätigkeit der Pfleger durch genaue Instruktion;

4. Vermeidung von Dauerleistungen: Jede Unterstützung sollte möglichst nur auf 14 Tage bewilligt werden.“ (Sachße/Tennstedt 1980, 215 f.)

Bezirke und Quartiere

Um diese Ziele zu erreichen, war die Stadt Elberfeld in Bezirke eingeteilt, die wiederum in Quartiere unterteilt waren. Jedem Bezirk stand ein ehrenamtlicher Vorsteher, jedem Quartier ein ehrenamtlicher Pfleger vor. Die 60 Quartiere waren so organisiert, dass jeder Pfleger nur 2–4 Fälle pro Hausbesuch und nach vorgedrucktem Fragebogen zu bearbeiten hatte (Hering/Münchmeier 2014, 30–31). Es entstanden die ersten allgemeinen Richtlinien (Vorläufer heutiger Sozial- und Fürsorgegesetze), die von der Verwaltung festgelegt wurden. Die Armenpfleger hatten diese Richtlinien dann in die Praxis umzusetzen (Belardi 1980, 40). Es ging bei diesen Überlegungen nicht darum, die Ursachen der Armut zu ergründen und sie zu bekämpfen, sondern Menschen aus der Armut zu befreien.

Die Wahl der Armenpfleger erfolgte auf Vorschlag der Kirchen. Die Armenpfleger waren im Hauptberuf Handwerker oder Industrielle. Bei der Armenpflege handelte es sich um ein Ehrenamt, das jeder Bürger für drei Jahre übernehmen musste (Kühn 1994, 5 f.).

Die Industriearbeiterschaft hat sich an der bürgerlichen Armenpflege nur in geringem Umfang beteiligt, weil sie das System als ein Instrument der bürgerlichen Gesellschaft ansah, das die soziale Ungleichheit und ihre Folgen nur verschleierte und grundlegende soziale Reformen verhinderte.

Das Elberfelder System verfolgte seine Ziele v. a. durch zwei Methoden:

Arbeitsbeschaffung: Die Stadt Elberfeld versuchte Arbeiter zu vermitteln, indem sie den heimischen Unternehmern Aufträge erteilte. Wo dies nicht ausreichte, ordnete die Stadt eigene Tätigkeiten an (Straßenbau, Eisenbahnbau usw.).

Arbeitsanweisungen: Nach dem Motto „Arbeit ist besser als Almosen“ mussten Hilfsbedürftige jede ihnen zugewiesene Arbeit annehmen. Sollte eine Arbeitsvermittlung nicht so schnell gelingen, bekam der Hilfsbedürftige eine Unterstützung. Diese war aber so knapp bemessen, dass er den Antrieb zur Arbeitsaufnahme nicht verlieren würde.

Das Elberfelder System war bezüglich des Abbaus der „Armenlast“ sehr erfolgreich. Die Zahl der Armen in der Stadt Elberfeld sank von etwa 4.000 auf 1.460 (über 50 %). Die Bettelei nahm rapide ab. Ähnliches wurde auch von anderen Städten gemeldet (Bremen, Krefeld, Leipzig, Dresden, Gotha u. a.), die das Elberfelder System übernommen hatten (Kühn 1994, 6).

1.3.3 Straßburger Quartiersystem (1905)

Die rasante ökonomische Entwicklung und die in ihrem Gefolge sich immer dramatischer stellende soziale Frage überholte die im Elberfelder System angelegten Möglichkeiten der Wohlfahrtspflege. Bei den – gegen Ende des 19. Jahrhundert – erreichten Größen der Industriestädte musste das Quartiersystem versagen. Die hohe Mobilität der potenziellen Erwerbsbevölkerung und der verelendenden Schichten machten eine ehrenamtliche und individualisierende Wohlfahrtspflege unmöglich (Erler 2012, 68). 1905 entwarf der Straßburger Rudolf Schwander in seiner berühmten Denkschrift das Straßburger System, das einen wesentlichen Schritt in Richtung einer modernen Sozialpolitik darstellte. Ähnlich wie im Elberfelder System wurde auch in Straßburg das gesamte Stadtgebiet in Bezirke eingeteilt, eine weitere Quartiereinteilung aber entfiel. In einigen Punkten wurde das Elberfelder System entscheidend reformiert.


1. Es wurden hauptamtliche Berufsarmenpfleger eingesetzt.

2. Man wich von der Dezentralisierung ab und führte die Kompetenzen im Armenamt zusammen.

3. Eine klare Arbeitsteilung zwischen beruflichen und ehrenamtlichen Kräften wurde vorgenommen. „Die beruflichen Kräfte waren für die polizeilich-administrativen Aufgaben zuständig, die ehrenamtlichen dagegen für die pädagogische Beratung und Betreuung der Unterstützung.“ (Sachße/Tennstedt 1988, 26)

4. Die Armenpflege wurde in einen Innen- und Außendienst aufgeteilt. Dabei wurden die Entscheidungsbefugnisse auf die Innenbeamten der zentralisierten Armenverwaltung übertragen. Die Armenpflege vor Ort (Außendienst) wurde ab 1893/1899 allmählich durch in speziellen Kursen ausgebildete sozial engagierte Frauen ersetzt.

Durch die Verlagerung der Entscheidungsbefugnisse vom Außen- auf den Innendienst und den Einsatz von Berufsbeamten verlor das Fürsorgesystem seinen früheren Charakter. Und die Einteilung in Innen- und Außendienst wurde erst 1970 abgeschafft (Kühn 1994, 7). Mit dieser Neuregelung begann die moderne Sozialpolitik. Das klassische Prinzip der Bürokratie wurde auf die Bearbeitung der Armenfrage angewandt. Die Hilfesuchenden sollten nicht mehr auf Willkür und Wohlwollen ehrenamtlicher Armenpfleger angewiesen sein. Sondern sie trafen stattdessen auf ein – an zunehmend verrechtlichte Prinzipien gebundenes und für die Allgemeinheit zuständiges – öffentliches Fürsorgesystem (Hammerschmidt 2012, 851–861).

1.3.4 Sozialgesetzgebung Otto von Bismarcks (1815–1898)

Bismarck ging es in seiner berühmt gewordenen Sozialpolitik um zwei Fragenkomplexe:

1. Wie kann man verhindern, dass die parteipolitisch organisierte Arbeiterschaft die bestehende Gesellschaft umstürzt?

2. Wie kann man die Staatskasse von den hohen Kosten der Armenfürsorge entlasten?

Die Gefahren, die Bismarck in dem Zusammenschluss des „Allgemeinen Arbeitervereins“ (gegründet 1863 von Ferdinand Lasalle) mit der „Sozialdemokratischen Arbeiterpartei“ (gegründet 1869 von August Bebel) im Jahre 1875 in Gotha sieht, soll das Sozialistengesetz von 1878 bannen. Es verbot die Parteiorganisation und alle sozialpolitischen Vereine. Zur Bekämpfung der Not und der sozialistischen Gefahr wurde eine Reihe von Arbeiterversicherungsgesetzen erlassen, die später (1911) in der Reichsversicherungsordnung (RVO) zusammengestellt wurden. Die RVO ist seitdem das grundlegende Gesetz für die Sozialversicherung in Deutschland; sie wurde schrittweise in das neue Sozialgesetzbuch (SGB) integriert.


Zu den Bismarckschen Sozialgesetzen zählen:

1883 Einführung der Krankenversicherung

1884 Einführung der Unfallversicherung

1889 Einführung der Alters- und Invalidenversicherung

Vor- und Gegenleistung

Das Kernstück der Sozialgesetzgebung liegt auf der Verknüpfung des Versicherungszwanges mit einem Rechtsanspruch auf Unterstützung. Bei der Versicherung gilt das Prinzip der Vorleistung und Gegenleistung. Anstelle öffentlicher oder privater Armenfürsorge tritt jetzt das Recht auf Versorgung, das der Arbeiter durch seine Beitragszahlung erwirbt. Es ging Bismarck darum, dass die Arbeiter den Staat als eine wohltätige Einrichtung kennen lernten. Er dachte die Arbeiterklasse durch die Sozialgesetze für die gegebene gesellschaftliche Ordnung zu gewinnen oder wenigstens in sie einzubinden (Wendt 1985, 183).

zwei Hilfsprinzipien

Durch die Arbeiterversicherung hat Bismarck verhindert, dass die Arbeiter der öffentlichen Armenpflege zur Last fielen. Nur die Armen, die keinen Versicherungsschutz besaßen, hatten auch keinen Rechtsanspruch auf Unterstützung. Sie erhielten Hilfe nach dem Bedarfsprinzip. Somit gab es zwei Hilfsprinzipien: 1. die generelle Hilfe der Sozialpolitik und 2. die sich individuell orientierende Armenfürsorge.

Subsidiaritätsprinzip

Bis 1918 verstand sich der Staat als liberaler Rechtsstaat, der möglichst nicht in die sozialen und ökonomischen Prozesse eingreifen wollte, sondern nur für rechtliche Rahmenbedingungen zu sorgen hatte. Nach dem Subsidiaritätsprinzip überließ er die konkrete Ausgestaltung der Sozialfürsorge den privaten – meist kirchlichen – Wohlfahrtsorganisationen.


Von der Armenpflege zur Armenfürsorge

Armenpflege wurde im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert nach dem Elberfelder bzw. Straßburger System durch kommunale Verwaltungen organisiert. Zuerst kümmerten sich ehrenamtliche, dann hauptberuflich tätige Armenpfleger um die Hilfsbedürftigen und versuchten vor allem durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der Armut zu begegnen. Durch die Sozialgesetzgebung von Bismarck entstanden zwei neue Hilfsstrukturen: die staatliche Sozialpolitik und neben der privaten auch die öffentliche Armenfürsorge.

1.4 Wohlfahrtspflege für Erwachsene im 20. Jahrhundert

1.4.1 Kaiserreich und Weimarer Republik (bis 1933)

Nach der Entlassung Bismarcks durch Kaiser Wilhelm II. wurden in die Reform der Sozialpolitik viele Erwartungen gesteckt, doch sie blieb aus. Lediglich die Reichsversicherungsordnung wurde 1911 rechtlich neu organisiert. Ein Ausbau der kommunalen Armenversorgung fand statt. So wurden eigenständige Ämter organisiert, z. B.: Gesundheitsamt, Kinder- und Jugendwohlfahrtsamt, Arbeitsamt und Wohnungsamt.

Erster Weltkrieg

Der Erste Weltkrieg bedeutete einen zentralen Einschnitt in die Entwicklung der Fürsorge in Deutschland. Dies vor allem in zwei Bereichen:

■ Versorgung der Familien, deren Ernährer in den Krieg eingezogen waren. Sie wurden durch eine Familienunterstützung und Wochenhilfe aus der Kriegsfürsorge unterstützt.

■ Versorgung durch Kriegsbeschädigten- und Kriegshinterbliebenenfürsorge von 1919/1920. Damit veränderte sich die Zielgruppe der Fürsorge entscheidend.

Kriegsfürsorge, Kriegswohlfahrtspflege

Man musste nun zwischen Armenfürsorge und Kriegswohlfahrtspflege unterscheiden. Wer Kriegsfürsorge erhielt, brauchte nicht die Voraussetzungen einer Armenhilfe zu erfüllen. Die zum Militärdienst eingezogenen Männer hinterließen in der Regel Familien ohne angemessenen Unterhalt. Damit erweiterte sich der Kreis der Unterstützungsberechtigten. Der Kriegshinterbliebenenfürsorge sollte jedoch im Gegensatz zur Armenfürsorge nichts Diskriminierendes anhaften. Im Gegenteil, der Begriff „Fürsorge“ erhielt eine Veredelung der Klangfarbe durch die Kriegswohlfahrtspflege: Es galten besondere Maßstäbe, die dem Opfer, das die Kriegsteilnehmer dem Vaterland gebracht hatten, Rechnung tragen sollten. Begrifflich und sachlich wurde deutlich zwischen „Kriegsfürsorge“ und „Kriegswohlfahrtspflege“ unterschieden. Der Unterschied zwischen diesen beiden Einrichtungen bestand darin, dass Erstere einen versorgungsähnlichen Charakter hatte und Letztere eine freiwillige Unterstützungsleistung darstellte. Im Lauf des Krieges wurde eine Reihe von sozialpolitischen Forderungen der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie verwirklicht: Anerkennung der Gewerkschaften, Koalitionsfreiheit, Tarifvertragswesen, Schlichtungswesen. Die Organisation des Arbeitsmarktes wurde als Staatsaufgabe anerkannt, Arbeitsnachweis und Erwerbswesenunterstützung wurden eingerichtet, der Mieterschutz und eine Wohnungspolitik des Reiches aufgebaut. Insofern erwies sich der Krieg als Schrittmacher der Sozialpolitik (Sachße/Tennstedt 1988, 64).

Weimarer Republik

Nach dem Ersten Weltkrieg sollte der neue Volksstaat (Ausrufung der Republik am 9.11.1918) nicht mehr bloß ein Rechtsstaat sein, sondern ein Staat, dessen BürgerInnen Gleichheit vor dem Gesetz erhielten und dem es um die Volkswohlfahrt als Sozialpolitik ging. Man wollte nicht zu dem alten System der Armenpflege zurückkehren, sondern der Staat übernahm mit der 1919 erlassenen Verfassung die Zuständigkeit für die Regelung der gesamten Sozialpolitik und insbesondere der Fürsorge.

neue Sozialgesetze

Die Gesetzesinitiative der Nachkriegszeit ging zunächst vom Reichsarbeitsministerium aus, mit spezifischen Sonderfürsorgen für die verschiedenen Gruppen der Opfer von Krieg und Inflation. Es wurden eine Reihe von Gesetzen erlassen, z. B.:

■ Kriegsopferversorgung für Kriegshinterbliebene und Kriegsbeschädigte

■ Sozial- und Kleinrenten für Inflationsopfer

■ Regelung für den Erwerbslosen in der „Verordnung über Erwerbslosenfürsorge“ von 1918, Neuregelung 1923

■ Kinder- und Jugendfürsorge – „Reichsjugendwohlfahrtsgesetz“ (RJWG) 1922/1924

■ Regelungen der sozialen Hygiene und Gesundheitsfürsorge mit der Zielvorgabe der Prophylaxe und Früherkennung und Ausgestaltung der Wohnungsfürsorge – „Reichsfürsorgepflichtverordnung“ (RVO) 1924/25

Wohlfahrtspflege

Die Entwicklung der Wohlfahrtspflege in der Weimarer Zeit ist durch zwei Merkmale gekennzeichnet:

1. Zentralisierung der Wohlfahrtspflege, das Reich übernahm zunehmend die Aufgaben.

2. Statusanhebung der Fürsorgeempfänger, durch den Krieg wurden auch viele aus den gehobenen Schichten zu Empfängern von Unterstützung.

Jugend-, Wohlfahrts-, Gesundheitsamt

1918 entstand das Preußische Ministerium für Volkswohlfahrt als erste zentralisierende Ausführungs- und Verwaltungsbehörde der Länder auf dem Gebiet der Fürsorge. 1924 wurde die „Reichsverordnung über die Fürsorgepflicht“ erlassen, in der die Grundprinzipien der Fürsorge geregelt wurden. Diese Reichsverordnung fasste die Einzelregelungen zusammen und übertrug sie einem einheitlichen Träger. Die Armenhäuser wurden umbenannt in Fürsorge- bzw. Wohlfahrtsämter. Es wurden die klassischen Ämter geschaffen: Jugendamt, Wohlfahrtsamt und Gesundheitsamt.

fünf Entwicklungslinien

Die Reihe der Gesetzgebung schloss 1927 mit dem Gesetz der Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung. Nach Sachße und Tennstedt lassen sich fünf Entwicklungslinien der Wohlfahrtspflegeentwicklung erkennen:


1. Öffnung der Wohlfahrtspflege zur Mitte der Gesellschaft hin, eine neue Definition von Armut wurde notwendig; in der Notgemeinschaft des Krieges verloren die bisherigen Kriterien ihre Gültigkeit.

2. Konflikte zwischen Reich und Gemeinden. Das Reich wurde zur zentralstaatlichen Steuerungsinstanz in der Wohlfahrtspflege.

3. Duale Strukturen der Wohlfahrtspflege. Es entstand das für Deutschland charakteristische duale System der Wohlfahrtspflege, d. h. die Regelung des Verhältnisses öffentlicher und freier Wohlfahrtspflege nach dem Subsidiaritätsprinzip.

4. Politisierung der Wohlfahrtspflege. Über die Ausgestaltung des Wohlfahrtsstaates stritten sich die demokratischen Parteien mit je unterschiedlichen Positionen.

5. Wohlfahrtspflege und Arbeitsmarkt. Das Problem der Arbeitslosigkeit spielte in der Fürsorge eine große Rolle. Der Erfolg der Maßnahmen und Leistungen hing entschieden vom Funktionieren des Arbeitsmarktes ab (Sachße/Tennstedt 1988, 213–217).

Anzumerken ist noch, dass 1923 der Begriff „Armenpflege“ durch den der „Wohlfahrtspflege“ ersetzt wurde.

Der Prozess der Vergesellschaftung der Fürsorge unterscheidet sich deutlich von den vorausgegangenen Strukturmustern der Armut und Hilfe. Es war nach und nach etwas qualitativ Neues entstanden. Die alte polizeiliche Armenpflege, dann Fürsorge und Wohlfahrtspflege, sollte im 20. Jahrhundert schließlich die heutige Soziale Arbeit werden.

Wohlfahrtspflege statt Armenpflege

Die soziale Gesetzgebung der Bismarckschen Zeit war eine Arbeitergesetzgebung, die Sozialversicherung eine Arbeiterversicherung. In der Wohlfahrtspflege ging es nun darum, sich gegen diese Sozialpolitik des Staates abzugrenzen und nach der eigenen Legitimation zu fragen. In den zahlreichen theoretischen Bemühungen dieser Zeit geht es um eine begriffliche Klärung und Abgrenzung der beiden großen Arbeitsgebiete, der Sozialpolitik und der Wohlfahrtspflege der freien Verbände. Man suchte nach den wesensgemäßen Unterschieden. Das entscheidend Neue entwickelte sich aus der Sicht des Menschenbildes. Die alte Armen- und Wohlfahrtspflege berücksichtigte nur den „halben Menschen“, d. h. die äußere Seite der menschlichen Not: Nahrung, Kleidung, Obdach, Moral und Bildung. Der neue Prozess der Fürsorge richtete sich zunehmend auf die zweite, die innere Seite des Menschen, auf seine innere Natur. Armut wird begleitet von einem Armutsbewusstsein, einem seelischen Erleiden der Armut. Nicht die Armut als solche, sondern das Erleben der Armut wird zum Gegenstand der Fürsorge. Die alte Erziehung ging z. B. von den Schwierigkeiten aus, die das Kind machte, die neue von denen, die das Kind hatte.

neues Armutsbewusstsein

Die Verschiebung auf die Innenseite des Menschen besagt jedoch nicht, dass man der materiellen Not keine Beachtung schenkte, es fand vielmehr eine Umwertung hin zum ganzen Menschen statt.

„Erst als durch den Ausbau der Versicherungsanstalten für die gleichsam ‚normalen‘ Existenzrisiken von Krankheit, Invalidität, Verwaisung, Alter und Tod unabhängig vom Einzelfall und vom einzelnen Helferwillen ein prinzipielles Recht auf Hilfe institutionalisiert wurde, erhielt die Fürsorge die Möglichkeit einer prinzipiellen Abgrenzung von der Sozialpolitik wie sie durch den Rückgang auf das innere Leiden und die innere Not gefördert wurde: für die Bearbeitung der normalen Existenzrisiken, die ohne soziale Sicherung zur Armut führen, ist die Sozialpolitik zuständig; für die Bearbeitung der inneren Erlebnisweisen, die entweder zur Verarmung und Verwahrlosung führen oder deren Folge sind, qualifiziert sich eine pädagogisch orientierte Fürsorge.“ (Münchmeier 1981, 93)

1.4.2 Alice Salomon (1872–1948)

Alice Salomon hat mit ihrem umfangreichen wissenschaftlichen Werk und mit ihrem persönlichen Engagement die Soziale Arbeit als professionellen Berufszweig in Deutschland wie kaum jemand sonst beeinflusst. Zugleich gab sie für Praxis, Theorie und Ausbildung in der Sozialen Arbeit wegweisende Impulse, die im Professionalisierungsprozess der Sozialen Arbeit als Berufszweig bis heute ihre Spuren hinterlassen haben (vgl. Landwehr/Baron 1983; Wieler 1983/1987; Müller, C. W. 1985; Engelke et al. 2014; Feustel 1997/2000/2004; Kuhlmann 2000/2007). Sie ist die Pionierin der Sozialen Arbeit als gesellschaftliche Reformbewegung. Und sie gilt als Gründerin des sozialen Frauenberufes und Repräsentantin der Frauenbewegung. Ziel von Salomon war es, eine Einbindung der bürgerlichen Mädchen und Frauen in die soziale Hilfearbeit zu ermöglichen, um sie qualifiziert auf die verantwortungsvolle Tätigkeit in der Sozialen Arbeit vorzubereiten und sie gleichzeitig an gesellschaftlichen Reformen zu beteiligen.

Leitgedanke

Leitmotiv war die Erkenntnis, dass aus Lernenden Lehrende und Erziehende werden würden, um ihren Teil der Verantwortung für die Leistung der Gesamtheit zu übernehmen (Braches-Chyrek 2013, 213–246). Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist der Entwicklungsstand einer modernen Gesellschaft. Je entwickelter und vielseitiger die Kultur einer Gesellschaft ist, so Salomon, desto weniger werden alle seine Mitglieder imstande sein, mit den herrschenden Ideen, Vorstellungen und Anforderungen Schritt zu halten; desto größer wird die Zahl derer, die sich nicht anpassen können; desto geringer werden die Möglichkeiten natürlicher, familienhafter, nachbarschaftlicher Hilfe und Förderung.

In der Industriegesellschaft entsteht andauernd Not durch Ursachen, auf die der Einzelne kaum Einfluss hat, die durch gesellschaftliche Umstände bedingt sind. Die Not kann viele Gesichter haben: wirtschaftliche, geistig-sittliche, gesundheitliche und im einzelnen Menschen liegende Ursachen. Um Hilfe zu gewähren, sind Wohlfahrt und Wohlfahrtspflege notwendig. Wohlfahrt und Volkswohlfahrt werden durch politische Maßnahmen angestrebt.

Unter Wohlfahrtspflege versteht Salomon „die planmäßige Förderung der Wohlfahrt von Bevölkerungsgruppen in Bezug auf solche Bedürfnisse, die sie nicht selbst auf dem Weg der Wirtschaft befriedigen können, und für die auch nicht deren Familien oder der Staat durch allgemeine öffentliche Leistungen sorgt“ (Salomon zitiert nach Engelke et al. 2014, 244).

Ziele

Ziel der Wohlfahrtspflege ist die bestmögliche Entwicklung der ganzen Persönlichkeit durch bewusste Anpassung des Menschen an seine Umwelt, aber auch umgekehrt, Anpassung der Umwelt an die besonderen Bedürfnisse und Kräfte des betreffenden Menschen (Engelke et al. 2014, 247).


Salomon geht es darum, dass die Wohlfahrtspflege – etwas moderner ausgedrückt –:

1. die vorhandenen Kräfte der KlientInnen nach Möglichkeit fördert und entwickelt,

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