Maximen und Reflexionen

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Maximen und Reflexionen
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Johann Wolfgang Goethe

Maximen und Reflexionen

Herausgegeben und kommentiert von Benedikt Jeßing

Reclam

2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2021

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961885-2

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-018698-5

www.reclam.de

Inhalt

  Maximen und Reflexionen Aus den Wahlverwandtschaften. Aus Kunst und Alterthum. Aus Kunst und Alterthum. Aus Kunst und Alterthum. Aus Kunst und Alterthum. Aus Kunst und Alterthum. Aus Kunst und Alterthum. Aus Kunst und Alterthum. Aus Kunst und Alterthum. Aus den Heften zur Morphologie. Aus den Heften zur Naturwissenschaft. Aus Wilhelm Meisters Wanderjahren. Aus Wilhelm Meisters Wanderjahren. Aus dem Nachlaß. Aus dem Nachlaß. Aus dem Nachlaß. Aus dem Nachlaß. Nachlese aus dem Nachlaß.

  Anhang Aus den »Materialien zur Geschichte der Farbenlehre« Zu dieser Ausgabe Anmerkungen Datierung der Maximen und Reflexionen Literaturhinweise Nachwort Schlagwort-/Sachregister Namenregister Verzeichnis der Anfänge Inhalt

[5]Maximen und Reflexionen

[7]Aus den Wahlverwandtschaften.

1809.

(Ottiliens Tagebuch.)

1. Wir blicken so gern in die Zukunft, weil wir das Ungefähre, was sich in ihr hin und her bewegt, durch stille Wünsche so gern zu unsern Gunsten heranleiten möchten.

2. Wir befinden uns nicht leicht in großer Gesellschaft, ohne zu denken, der Zufall, der so viele zusammenbringt, solle uns auch unsre Freunde herbeiführen.

3. Man mag noch so eingezogen leben, so wird man, ehe man sich’s versieht, ein Schuldner oder ein Gläubiger.

4. Begegnet uns jemand, der uns Dank schuldig ist, gleich fällt es uns ein. Wie oft können wir jemand begegnen, dem wir Dank schuldig sind, ohne daran zu denken.

5. Sich mitzutheilen ist Natur; Mitgetheiltes aufzunehmen, wie es gegeben wird, ist Bildung.

6. Niemand würde viel in Gesellschaften sprechen, wenn er sich bewußt wäre, wie oft er die andern mißversteht.

7. Man verändert fremde Reden bei’m Wiederholen wohl nur darum so sehr, weil man sie nicht verstanden hat.

8. Wer vor andern lange allein spricht, ohne den Zuhörern zu schmeicheln, erregt Widerwillen.

9. Jedes ausgesprochene Wort erregt den Gegensinn.

10. Widerspruch und Schmeichelei machen beide ein schlechtes Gespräch.

11. Die angenehmsten Gesellschaften sind die, in welchen eine heitere Ehrerbietung der Glieder gegen einander obwaltet.

[8]12. Durch nichts bezeichnen die Menschen mehr ihren Charakter als durch das, was sie lächerlich finden.

13. Das Lächerliche entspringt aus einem sittlichen Contrast, der auf eine unschädliche Weise für die Sinne in Verbindung gebracht wird.

14. Der sinnliche Mensch lacht oft, wo nichts zu lachen ist. Was ihn auch anregt, sein inneres Behagen kommt zum Vorschein.

15. Der Verständige findet fast alles lächerlich, der Vernünftige fast nichts.

16. Einem bejahrten Manne verdachte man, daß er sich noch um junge Frauenzimmer bemühte. »Es ist das einzige Mittel«, versetzte er, »sich zu verjüngen, und das will doch jedermann.«

17. Man läßt sich seine Mängel vorhalten, man läßt sich strafen, man leidet manches um ihrer willen mit Geduld; aber ungeduldig wird man, wenn man sie ablegen soll.

18. Gewisse Mängel sind nothwendig zum Dasein des Einzelnen. Es würde uns unangenehm sein, wenn alte Freunde gewisse Eigenheiten ablegten.

19. Man sagt: »Er stirbt bald«, wenn einer etwas gegen seine Art und Weise thut.

20. Was für Mängel dürfen wir behalten, ja an uns cultiviren? Solche, die den andern eher schmeicheln als sie verletzen.

21. Die Leidenschaften sind Mängel oder Tugenden, nur gesteigerte.

22. Unsre Leidenschaften sind wahre Phönixe. Wie der alte verbrennt, steigt der neue sogleich wieder aus der Asche hervor.

[9]23. Große Leidenschaften sind Krankheiten ohne Hoffnung. Was sie heilen könnte, macht sie erst recht gefährlich.

24. Die Leidenschaft erhöht und mildert sich durch’s Bekennen. In nichts wäre die Mittelstraße vielleicht wünschenswerther als im Vertrauen und Verschweigen gegen die, die wir lieben.

25. Man nimmt in der Welt jeden, wofür er sich gibt; aber er muß sich auch für etwas geben. Man erträgt die Unbequemen lieber, als man die Unbedeutenden duldet.

26. Man kann der Gesellschaft alles aufdringen, nur nicht, was eine Folge hat.

27. Wir lernen die Menschen nicht kennen, wenn sie zu uns kommen; wir müssen zu ihnen gehen, um zu erfahren, wie es mit ihnen steht.

28. Ich finde es beinahe natürlich, daß wir an Besuchenden mancherlei auszusetzen haben, daß wir sogleich, wenn sie weg sind, über sie nicht zum liebevollsten urtheilen; denn wir haben so zu sagen ein Recht, sie nach unserm Maßstabe zu messen. Selbst verständige und billige Menschen enthalten sich in solchen Fällen kaum einer scharfen Censur.

29. Wenn man dagegen bei andern gewesen ist und hat sie mit ihren Umgebungen, Gewohnheiten, in ihren nothwendigen unausweichlichen Zuständen gesehen, wie sie um sich wirken oder wie sie sich fügen, so gehört schon Unverstand und böser Wille dazu, um das lächerlich zu finden, was uns in mehr als Einem Sinne ehrwürdig scheinen müßte.

30. Durch das, was wir Betragen und gute Sitten nennen, soll das erreicht werden, was außerdem nur durch [10]Gewalt, oder auch nicht einmal durch Gewalt zu erreichen ist.

31. Der Umgang mit Frauen ist das Element guter Sitten.

32. Wie kann der Charakter, die Eigenthümlichkeit des Menschen mit der Lebensart bestehen?

33. Das Eigenthümliche müßte durch die Lebensart erst recht hervorgehoben werden. Das Bedeutende will jedermann, nur soll es nicht unbequem sein.

34. Die größten Vortheile im Leben überhaupt wie in der Gesellschaft hat ein gebildeter Soldat.

35. Rohe Kriegsleute gehen wenigstens nicht aus ihrem Charakter, und weil doch meist hinter der Stärke eine Gutmüthigkeit verborgen liegt, so ist im Nothfall auch mit ihnen auszukommen.

36. Niemand ist lästiger als ein täppischer Mensch vom Civilstande. Von ihm könnte man die Feinheit fordern, da er sich mit nichts Rohem zu beschäftigen hat.

37. Zutraulichkeit an der Stelle der Ehrfurcht ist immer lächerlich. Es würde niemand den Hut ablegen, nachdem er kaum das Compliment gemacht hat, wenn er wüßte, wie komisch das aussieht.

38. Es gibt kein äußeres Zeichen der Höflichkeit, das nicht einen tiefen sittlichen Grund hätte. Die rechte Erziehung wäre, welche dieses Zeichen und den Grund zugleich überlieferte.

39. Das Betragen ist ein Spiegel, in welchem jeder sein Bild zeigt.

40. Es gibt eine Höflichkeit des Herzens; sie ist der Liebe verwandt. Aus ihr entspringt die bequemste Höflichkeit des äußern Betragens.

[11]41. Freiwillige Abhängigkeit ist der schönste Zustand, und wie wäre der möglich ohne Liebe!

42. Wir sind nie entfernter von unsern Wünschen, als wenn wir uns einbilden, das Gewünschte zu besitzen.

43. Niemand ist mehr Sklave, als der sich für frei hält, ohne es zu sein.

44. Es darf sich einer nur für frei erklären, so fühlt er sich den Augenblick als bedingt. Wagt er es, sich für bedingt zu erklären, so fühlt er sich frei.

 

45. Gegen große Vorzüge eines andern gibt es kein Rettungsmittel als die Liebe.

46. Es ist was Schreckliches um einen vorzüglichen Mann, auf den sich die Dummen was zu Gute thun.

47. Es gibt, sagt man, für den Kammerdiener keinen Helden. Das kommt aber bloß daher, weil der Held nur vom Helden anerkannt werden kann. Der Kammerdiener wird aber wahrscheinlich seines Gleichen zu schätzen wissen.

48. Es gibt keinen größern Trost für die Mittelmäßigkeit, als daß das Genie nicht unsterblich sei.

49. Die größten Menschen hängen immer mit ihrem Jahrhundert durch eine Schwachheit zusammen.

50. Man hält die Menschen gewöhnlich für gefährlicher, als sie sind.

51. Thoren und gescheidte Leute sind gleich unschädlich. Nur die Halbnarren und Halbweisen, das sind die gefährlichsten.

52. Man weicht der Welt nicht sicherer aus als durch die Kunst, und man verknüpft sich nicht sicherer mit ihr als durch die Kunst.

53. Selbst im Augenblick des höchsten Glücks und der höchsten Noth bedürfen wir des Künstlers.

[12]54. Die Kunst beschäftigt sich mit dem Schweren und Guten.

55. Das Schwierige leicht behandelt zu sehen, gibt uns das Anschauen des Unmöglichen.

56. Die Schwierigkeiten wachsen, je näher man dem Ziele kommt.

57. Säen ist nicht so beschwerlich als ernten.

[13]Aus Kunst und Alterthum.

Ersten Bandes drittes Heft.

1818.

(Naivität und Humor.)

58. Die Kunst ist ein ernsthaftes Geschäft, am ernsthaftesten, wenn sie sich mit edlen heiligen Gegenständen beschäftigt; der Künstler aber steht über der Kunst und dem Gegenstande: über jener, da er sie zu seinen Zwecken braucht, über diesem, weil er ihn nach eigner Weise behandelt.

59. Die bildende Kunst ist auf das Sichtbare angewiesen, auf die äußere Erscheinung des Natürlichen. Das rein Natürliche, in so fern es sittlich gefällig ist, nennen wir naiv. Naive Gegenstände sind also das Gebiet der Kunst, die ein sittlicher Ausdruck des Natürlichen sein soll. Gegenstände, die nach beiden Seiten hinweisen, sind die günstigsten.

60. Das Naive als natürlich ist mit dem Wirklichen verschwistert. Das Wirkliche ohne sittlichen Bezug nennen wir gemein.

61. Die Kunst an und für sich selbst ist edel; deßhalb fürchtet sich der Künstler nicht vor dem Gemeinen. Ja indem er es aufnimmt, ist es schon geadelt, und so sehen wir die größten Künstler mit Kühnheit ihr Majestätsrecht ausüben.

62. In jedem Künstler liegt ein Keim von Verwegenheit, ohne den kein Talent denkbar ist, und dieser wird besonders rege, wenn man den Fähigen einschränken und zu einseitigen Zwecken dingen und brauchen will.

[14]63. Raphael ist unter den neuern Künstlern auch hier wohl der reinste. Er ist durchaus naiv, das Wirkliche kommt bei ihm nicht zum Streit mit dem Sittlichen oder gar Heiligen. Der Teppich, worauf die Anbetung der Könige abgebildet ist, eine überschwänglich herrliche Composition, zeigt von dem ältesten anbetenden Fürsten bis zu den Mohren und Affen, die sich auf den Kamelen mit Äpfeln ergötzen, eine ganze Welt. Hier durfte der heilige Joseph auch ganz naiv charakterisirt werden als Pflegevater, der sich über die eingekommenen Geschenke freut.

64. Auf den heiligen Joseph überhaupt haben es die Künstler abgesehen. Die Byzantiner, denen man nicht nachsagen kann, daß sie überflüssigen Humor anbrächten, stellen doch bei der Geburt den Heiligen immer verdrießlich vor. Das Kind liegt in der Krippe, die Thiere schauen hinein, verwundert, statt ihres trockenen Futters ein lebendiges, himmlisch-anmuthiges Geschöpf zu finden. Engel verehren den Ankömmling, die Mutter sitzt still dabei; St. Joseph aber sitzt abgewendet und kehrt unmuthig den Kopf nach der sonderbaren Scene.

65. Der Humor ist eins der Elemente des Genies, aber sobald er vorwaltet, nur ein Surrogat desselben; er begleitet die abnehmende Kunst, zerstört, vernichtet sie zuletzt.

66. Hierüber kann eine Arbeit anmuthig aufklären, die wir vorbereiten: sämmtliche Künstler nämlich, die uns schon von so manchen Seiten bekannt sind, ausschließlich von der ethischen zu betrachten, aus den Gegenständen und der Behandlung ihrer Werke zu entwickeln, was Zeit und Ort, Nation und Lehrmeister, was eigne unzerstörliche Individualität beigetragen, sie zu dem zu bilden, was sie wurden, sie bei dem zu erhalten, was sie waren.

[15]Aus Kunst und Alterthum.

Zweiten Bandes drittes Heft.

1820.

(Bedenklichstes.)

67. Gar oft im Laufe des Lebens, mitten in der größten Sicherheit des Wandels bemerken wir auf einmal, daß wir in einem Irrthum befangen sind, daß wir uns für Personen, für Gegenstände einnehmen ließen, ein Verhältniß zu ihnen erträumten, das dem erwachten Auge sogleich verschwindet; und doch können wir uns nicht losreißen, eine Macht hält uns fest, die uns unbegreiflich scheint. Manchmal jedoch kommen wir zum völligen Bewußtsein und begreifen, daß ein Irrthum so gut als ein Wahres zur Thätigkeit bewegen und antreiben kann. Weil nun die That überall entscheidend ist, so kann aus einem thätigen Irrthum etwas Treffliches entstehen, weil die Wirkung jedes Gethanen in’s Unendliche reicht. So ist das Hervorbringen freilich immer das Beste, aber auch das Zerstören ist nicht ohne glückliche Folge.

68. Der wunderbarste Irrthum aber ist derjenige, der sich auf uns selbst und unsere Kräfte bezieht, daß wir uns einem würdigen Geschäft, einem ehrsamen Unternehmen widmen, dem wir nicht gewachsen sind, daß wir nach einem Ziel streben, das wir nie erreichen können. Die daraus entspringende Tantalisch-Sisyphische Qual empfindet jeder nur um desto bitterer, je redlicher er es meinte. Und doch sehr oft, wenn wir uns von dem Beabsichtigten für [16]ewig getrennt sehen, haben wir schon auf unserm Wege irgend ein anderes Wünschenswerthe gefunden, etwas uns Gemäßes, mit dem uns zu begnügen wir eigentlich geboren sind.

[17]Aus Kunst und Alterthum.

Dritten Bandes erstes Heft.

1821.

(Eigenes und Angeeignetes in Sprüchen.)

69. Wenn der Mensch alles leisten soll, was man von ihm fordert, so muß er sich für mehr halten als er ist.

70. So lange das nicht in’s Absurde geht, erträgt man’s auch gern.

71. Die Arbeit macht den Gesellen.

72. Gewisse Bücher scheinen geschrieben zu sein, nicht damit man daraus lerne, sondern damit man wisse, daß der Verfasser etwas gewußt hat.

73. Sie peitschen den Quark, ob nicht etwa Crême daraus werden wolle.

74. Es ist weit eher möglich, sich in den Zustand eines Gehirns zu versetzen, das im entschiedensten Irrthum befangen ist, als eines, das Halbwahrheiten sich vorspiegelt.

75. Die Lust der Deutschen am Unsichern in den Künsten kommt aus der Pfuscherei her; denn wer pfuscht, darf das Rechte nicht gelten lassen, sonst wäre er gar nichts.

76. Es ist traurig anzusehen, wie ein außerordentlicher Mensch sich gar oft mit sich selbst, seinen Umständen, seiner Zeit herumwürgt, ohne auf einen grünen Zweig zu kommen. Trauriges Beispiel: Bürger.

77. Die größte Achtung, die ein Autor für sein Publicum haben kann, ist, daß er niemals bringt, was man erwartet, [18]sondern was er selbst auf der jedesmaligen Stufe eigner und fremder Bildung für recht und nützlich hält.

78. Die Weisheit ist nur in der Wahrheit.

79. Wenn ich irre, kann es jeder bemerken, wenn ich lüge, nicht.

80. Der Deutsche hat Freiheit der Gesinnung, und daher merkt er nicht, wenn es ihm an Geschmacks- und Geistesfreiheit fehlt.

81. Ist denn die Welt nicht schon voller Räthsel genug, daß man die einfachsten Erscheinungen auch noch zu Räthseln machen soll?

82. Das kleinste Haar wirft seinen Schatten.

83. Was ich in meinem Leben durch falsche Tendenzen versucht habe zu thun, hab’ ich denn doch zuletzt gelernt begreifen.

84. Die Freigebigkeit erwirbt einem jeden Gunst, vorzüglich wenn sie von Demuth begleitet wird.

85. Vor dem Gewitter erhebt sich zum letztenmale der Staub gewaltsam, der nun bald für lange getilgt sein soll.

86. Die Menschen kennen einander nicht leicht, selbst mit dem besten Willen und Vorsatz; nun tritt noch der böse Wille hinzu, der alles entstellt.

87. Man würde einander besser kennen, wenn sich nicht immer einer dem andern gleichstellen wollte.

88. Ausgezeichnete Personen sind daher übler dran als andere: da man sich mit ihnen nicht vergleicht, paßt man ihnen auf.

89. In der Welt kommt’s nicht drauf an, daß man die Menschen kenne, sondern daß man im Augenblick klüger sei als der vor uns Stehende. Alle Jahrmärkte und Marktschreier geben Zeugniß.

[19]90. Nicht überall, wo Wasser ist, sind Frösche; aber wo man Frösche hört, ist Wasser.

91. Wer fremde Sprachen nicht kennt, weiß nichts von seiner eigenen.

92. Der Irrthum ist recht gut, so lange wir jung sind; man muß ihn nur nicht mit in’s Alter schleppen.

93. Alle travers, die veralten, sind unnützes ranziges Zeug.

94. Durch die despotische Unvernunft des Cardinal Richelieu war Corneille an sich selbst irre geworden.

95. Die Natur geräth auf Specificationen wie in eine Sackgasse: sie kann nicht durch und mag nicht wieder zurück; daher die Hartnäckigkeit der Nationalbildung.

96. Metamorphose im höhern Sinn durch Nehmen und Geben, Gewinnen und Verlieren hat schon Dante trefflich geschildert.

97. Jeder hat etwas in seiner Natur, das, wenn er es öffentlich ausspräche, Mißfallen erregen müßte.

98. Wenn der Mensch über sein Physisches oder Moralisches nachdenkt, findet er sich gewöhnlich krank.

99. Es ist eine Forderung der Natur, daß der Mensch mitunter betäubt werde, ohne zu schlafen; daher der Genuß im Tabakrauchen, Branntweintrinken, Opiaten.

100. Dem thätigen Menschen kommt es darauf an, daß er das Rechte thue; ob das Rechte geschehe, soll ihn nicht kümmern.

101. Mancher klopft mit dem Hammer an der Wand herum und glaubt, er treffe jedesmal den Nagel auf den Kopf.

102. Die französischen Worte sind nicht aus geschriebenen lateinischen Worten entstanden, sondern aus gesprochenen.

[20]103. Das Zufällig-Wirkliche, an dem wir weder ein Gesetz der Natur noch der Freiheit für den Augenblick entdecken, nennen wir das Gemeine.

104. Bemahlung und Punctirung der Körper ist eine Rückkehr zur Thierheit.

105. Geschichte schreiben ist eine Art, sich das Vergangene vom Halse zu schaffen.

106. Was man nicht versteht, besitzt man nicht.

107. Nicht jeder, dem man Prägnantes überliefert, wird productiv; es fällt ihm wohl etwas ganz Bekanntes dabei ein.

108. Gunst, als Symbol der Souveränität, von schwachen Menschen ausgeübt.

109. Es gibt nichts Gemeines, was, fratzenhaft ausgedruckt, nicht humoristisch aussähe.

110. Es bleibt einem jeden immer noch soviel Kraft, das auszuführen, wovon er überzeugt ist.

111. Das Gedächtniß mag immer schwinden, wenn das Urtheil im Augenblick nicht fehlt.

112. Die sogenannten Naturdichter sind frisch und neu aufgeforderte, aus einer überbildeten, stockenden, manierirten Kunstepoche zurückgewiesene Talente. Dem Platten können sie nicht ausweichen, man kann sie daher als rückschreitend ansehen; sie sind aber regenerirend und veranlassen neue Vorschritte.

113. Keine Nation gewinnt ein Urtheil, als wenn sie über sich selbst urtheilen kann. Zu diesem großen Vortheil gelangt sie aber sehr spät.

114. Anstatt meinen Worten zu widersprechen, sollten sie nach meinem Sinne handeln.

115. Die Natur verstummt auf der Folter; ihre treue [21]Antwort auf redliche Frage ist: Ja! ja! Nein! nein! Alles Übrige ist vom Übel.

116. Die Menschen verdrießt’s, daß das Wahre so einfach ist; sie sollten bedenken, daß sie noch Mühe genug haben, es praktisch zu ihrem Nutzen anzuwenden.

117. Ich verwünsche die, die aus dem Irrthum eine eigene Welt machen und doch unablässig fordern, daß der Mensch nützlich sein müsse.

118. Eine Schule ist als ein einziger Mensch anzusehen, der hundert Jahre mit sich selbst spricht und sich in seinem eignen Wesen, und wenn es auch noch so albern wäre, ganz außerordentlich gefällt.

119. Eine falsche Lehre läßt sich nicht widerlegen, denn sie ruht ja auf der Überzeugung, daß das Falsche wahr sei. Aber das Gegentheil kann, darf und muß man wiederholt aussprechen.

 

120. Man streiche zwei Stäbchen, einen roth an, den andern blau, man bringe sie neben einander in’s Wasser, und einer wird gebrochen erscheinen wie der andere. Jeder kann dieses einfache Experiment mit den Augen des Leibes erblicken; wer es mit Geistesaugen beschaut, wird von tausend und aber tausend irrthümlichen Paragraphen befreit sein.

121. Alle Gegner einer geistreichen Sache schlagen nur in die Kohlen, diese springen umher und zünden da, wo sie sonst nicht gewirkt hätten.

122. Der Mensch wäre nicht der Vornehmste auf der Erde, wenn er nicht zu vornehm für sie wäre.

123. Das längst Gefundene wird wieder verscharrt; wie bemühte sich Tycho, die Cometen zu regelmäßigen Körpern zu machen, wofür sie Seneca längst anerkannt!

[22]124. Wie lange hat man über die Antipoden hin und her gestritten!

125. Gewissen Geistern muß man ihre Idiotismen lassen.

126. Es werden jetzt Productionen möglich, die Null sind, ohne schlecht zu sein, Null, weil sie keinen Gehalt haben, nicht schlecht, weil eine allgemeine Form guter Muster den Verfassern vorschwebt.

127. Der Schnee ist eine erlogene Reinlichkeit.

128. Wer sich vor der Idee scheut, hat auch zuletzt den Begriff nicht mehr.

129. Unsere Meister nennen wir billig die, von denen wir immer lernen. Nicht ein jeder, von dem wir lernen, verdient diesen Titel.

130. Alles Lyrische muß im Ganzen sehr vernünftig, im Einzelnen ein bißchen unvernünftig sein.

131. Es hat mit euch eine Beschaffenheit wie mit dem Meer, dem man unterschiedentliche Namen gibt, und es ist doch endlich alles gesalzen Wasser.

132. Man sagt: »Eitles Eigenlob stinket«. Das mag sein; was aber fremder und ungerechter Tadel für einen Geruch habe, dafür hat das Publicum keine Nase.

133. Der Roman ist eine subjective Epopee, in welcher der Verfasser sich die Erlaubniß ausbittet, die Welt nach seiner Weise zu behandeln. Es fragt sich also nur, ob er eine Weise habe; das andere wird sich schon finden.

134. Es gibt problematische Naturen, die keiner Lage gewachsen sind, in der sie sich befinden, und denen keine genug thut. Daraus entsteht der ungeheure Widerstreit, der das Leben ohne Genuß verzehrt.

135. Das eigentlich wahrhaft Gute, was wir thun, geschieht größtentheils clam, vi et precario.

[23]136. Ein lustiger Gefährte ist ein Rollwagen auf der Wanderschaft.

137. Der Schmutz ist glänzend, wenn die Sonne scheinen mag.

138. Der Müller denkt, es wachse kein Weizen, als damit seine Mühle gehe.

139. Es ist schwer, gegen den Augenblick gerecht sein: der gleichgültige macht uns lange Weile, am guten hat man zu tragen und am bösen zu schleppen.

140. Der ist der glücklichste Mensch, der das Ende seines Lebens mit dem Anfang in Verbindung setzen kann.

141. So eigensinnig widersprechend ist der Mensch: zu seinem Vortheil will er keine Nöthigung, zu seinem Schaden leidet er jeden Zwang.

142. Die Vorsicht ist einfach, die Hinterdreinsicht vielfach.

143. Ein Zustand, der alle Tage neuen Verdruß zuzieht, ist nicht der rechte.

144. Bei Unvorsichtigkeiten ist nichts gewöhnlicher, als Aussichten auf die Möglichkeit eines Auswegs zu suchen.

145. Die Hindus der Wüste geloben, keine Fische zu essen.

146. Ein unzulängliches Wahre wirkt eine Zeitlang fort, statt völliger Aufklärung aber tritt auf einmal ein blendendes Falsche herein; das genügt der Welt, und so sind Jahrhunderte bethört.

147. In den Wissenschaften ist es höchst verdienstlich, das unzulängliche Wahre, was die Alten schon besessen, aufzusuchen und weiter zu führen.

148. Es ist mit Meinungen, die man wagt, wie mit Steinen, die man voran im Brette bewegt: sie können [24]geschlagen werden, aber sie haben ein Spiel eingeleitet, das gewonnen wird.

149. Es ist so gewiß als wunderbar, daß Wahrheit und Irrthum aus Einer Quelle entstehen; deßwegen man oft dem Irrthum nicht schaden darf, weil man zugleich der Wahrheit schadet.

150. Die Wahrheit gehört dem Menschen, der Irrthum der Zeit an. Deßwegen sagte man von einem außerordentlichen Manne: »Le malheur des temps a causé son erreur, mais la force de son âme l’en a fait sortir avec gloire«.

151. Jedermann hat seine Eigenheiten und kann sie nicht los werden; und doch geht mancher an seinen Eigenheiten, oft an den unschuldigsten, zu Grunde.

152. Wer sich nicht zu viel dünkt, ist viel mehr, als er glaubt.

153. In Kunst und Wissenschaft so wie im Thun und Handeln kommt alles darauf an, daß die Objecte rein aufgefaßt und ihrer Natur gemäß behandelt werden.

154. Wenn verständige sinnige Personen im Alter die Wissenschaft gering schätzen, so kommt es nur daher, daß sie von ihr und von sich zu viel gefordert haben.

155. Ich bedauere die Menschen, welche von der Vergänglichkeit der Dinge viel Wesens machen und sich in Betrachtung irdischer Nichtigkeit verlieren. Sind wir ja eben deßhalb da, um das Vergängliche unvergänglich zu machen; das kann ja nur dadurch geschehen, wenn man beides zu schätzen weiß.

156. Ein Phänomen, Ein Versuch kann nichts beweisen, es ist das Glied einer großen Kette, das erst im Zusammenhange gilt. Wer eine Perlenschnur verdecken und nur die schönste einzelne vorzeigen wollte, verlangend, wir sollten [25]ihm glauben, die übrigen seien alle so: schwerlich würde sich jemand auf den Handel einlassen.

157. Abbildungen, Wortbeschreibung, Maß, Zahl und Zeichen stellen noch immer kein Phänomen dar. Darum bloß konnte sich die Newtonische Lehre so lange halten, daß der Irrthum in dem Quartbande der lateinischen Übersetzung für ein paar Jahrhunderte einbalsamirt war.

158. Man muß sein Glaubensbekenntniß von Zeit zu Zeit wiederholen, aussprechen, was man billigt, was man verdammt; der Gegentheil läßt’s ja auch nicht daran fehlen.

159. In der jetzigen Zeit soll niemand schweigen oder nachgeben; man muß reden und sich rühren, nicht um zu überwinden, sondern sich auf seinem Posten zu erhalten; ob bei der Majorität oder Minorität, ist ganz gleichgültig.

160. Was die Franzosen tournure nennen, ist eine zur Anmuth gemilderte Anmaßung. Man sieht daraus, daß die Deutschen keine tournure haben können; ihre Anmaßung ist hart und herb, ihre Anmuth mild und demüthig, das eine schließt das andere aus und sind nicht zu verbinden.

161. Einen Regenbogen, der eine Viertelstunde steht, sieht man nicht mehr an.

162. Es begegnete und geschieht mir noch, daß ein Werk bildender Kunst mir bei’m ersten Anblick mißfällt, weil ich ihm nicht gewachsen bin; ahnd’ ich aber ein Verdienst daran, so such’ ich ihm beizukommen, und dann fehlt es nicht an den erfreulichsten Entdeckungen: an den Dingen werd’ ich neue Eigenschaften und an mir neue Fähigkeiten gewahr.

163. Der Glaube ist ein häuslich heimlich Capital, wie es öffentliche Spar- und Hülfscassen gibt, woraus man in [26]Tagen der Noth einzelnen ihr Bedürfniß reicht; hier nimmt der Gläubige sich seine Zinsen im Stillen selbst.

164. Das Leben, so gemein es aussieht, so leicht es sich mit dem Gewöhnlichen, Alltäglichen zu befriedigen scheint, hegt und pflegt doch immer gewisse höhere Forderungen im Stillen fort und sieht sich nach Mitteln um, sie zu befriedigen.

165. Der eigentliche Obscurantismus ist nicht, daß man die Ausbreitung des Wahren, Klaren, Nützlichen hindert, sondern daß man das Falsche in Curs bringt.