Maximen und Reflexionen

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[27]Aus Kunst und Alterthum.

Vierten Bandes zweites Heft.

1823.

(Eigenes und Angeeignetes.)

166. Der Irrthum ist viel leichter zu erkennen, als die Wahrheit zu finden; jener liegt auf der Oberfläche, damit läßt sich wohl fertig werden; diese ruht in der Tiefe, danach zu forschen ist nicht jedermanns Sache.

167. Wir alle leben vom Vergangnen und gehen am Vergangenen zu Grunde.

168. Wie wir was Großes lernen sollen, flüchten wir uns gleich in unsre angeborne Armseligkeit und haben doch immer etwas gelernt.

169. Den Deutschen ist nichts daran gelegen, zusammen zu bleiben, aber doch, für sich zu bleiben. Jeder, sei er auch, welcher er wolle, hat so ein eignes Fürsich, das er sich nicht gern möchte nehmen lassen.

170. Die empirisch-sittliche Welt besteht größtentheils nur aus bösem Willen und Neid.

171. Der Aberglaube ist die Poesie des Lebens; deßwegen schadet’s dem Dichter nicht, abergläubisch zu sein.

172. Mit dem Vertrauen ist es eine wunderliche Sache. Hört man nur Einen: der kann sich irren oder sich betrügen; hört man viele: die sind in demselbigen Falle, und gewöhnlich findet man da die Wahrheit gar nicht heraus.

173. Unreine Lebensverhältnisse soll man niemand wünschen; sie sind aber für den, der zufällig hineingeräth, [28]Prüfsteine des Charakters und des Entschiedensten, was der Mensch vermag.

174. Ein beschränkter, ehrlicher Mensch sieht oft die Schelmerei der feinsten Mächler (faiseurs) durch und durch.

175. Wer keine Liebe fühlt, muß schmeicheln lernen, sonst kommt er nicht aus.

176. Gegen die Kritik kann man sich weder schützen noch wehren; man muß ihr zum Trutz handeln, und das läßt sie sich nach und nach gefallen.

177. Die Menge kann tüchtige Menschen nicht entbehren, und die Tüchtigen sind ihnen jederzeit zur Last.

178. Wer meine Fehler überträgt, ist mein Herr, und wenn’s mein Diener wäre.

179. Memoiren von oben herunter oder von unten hinauf: sie müssen sich immer begegnen.

180. Wenn man von den Leuten Pflichten fordert und ihnen keine Rechte zugestehen will, muß man sie gut bezahlen.

181. Das sogenannte Romantische einer Gegend ist ein stilles Gefühl des Erhabenen unter der Form der Vergangenheit oder, was gleich lautet, der Einsamkeit, Abwesenheit, Abgeschiedenheit.

182. Der herrliche Kirchengesang: Veni Creator Spiritus ist ganz eigentlich ein Appell an’s Genie; deßwegen er auch geist- und kraftreiche Menschen gewaltig anspricht.

183. Das Schöne ist eine Manifestation geheimer Naturgesetze, die uns ohne dessen Erscheinung ewig wären verborgen geblieben.

184. Aufrichtig zu sein, kann ich versprechen, unparteiisch zu sein, aber nicht.

185. Der Undank ist immer eine Art Schwäche. Ich habe [29]nie gesehen, daß tüchtige Menschen wären undankbar gewesen.

186. Wir alle sind so bornirt, daß wir immer glauben, Recht zu haben; und so läßt sich ein außerordentlicher Geist denken, der nicht allein irrt, sondern sogar Lust am Irrthum hat.

187. Reine mittlere Wirkung zur Vollendung des Guten und Rechten ist sehr selten; gewöhnlich sehen wir Pedanterie, welche zu retardiren, Frechheit, die zu übereilen strebt.

188. Wort und Bild sind Correlate, die sich immerfort suchen, wie wir an Tropen und Gleichnissen genugsam gewahr werden. So von je her, was dem Ohr nach innen gesagt oder gesungen war, sollte dem Auge gleichfalls entgegenkommen. Und so sehen wir in kindlicher Zeit in Gesetzbuch und Heilsordnung, in Bibel und Fibel sich Wort und Bild immerfort balanciren. Wenn man aussprach, was sich nicht bilden, bildete, was sich nicht aussprechen ließ, so war das ganz recht; aber man vergriff sich gar oft und sprach, statt zu bilden, und daraus entstanden die doppelt bösen symbolisch-mystischen Ungeheuer.

189. »Wer sich mit Wissenschaften abgibt, leidet erst durch Retardationen und dann durch Präoccupationen. Die erste Zeit wollen die Menschen dem keinen Werth zugestehen, was wir ihnen überliefern, und dann gebärden sie sich, als wenn ihnen alles schon bekannt wäre, was wir ihnen überliefern könnten.«

190. Eine Sammlung von Anekdoten und Maximen ist für den Weltmann der größte Schatz, wenn er die ersten an schicklichen Orten in’s Gespräch einzustreuen, der letzten im treffenden Falle sich zu erinnern weiß.

191. Man sagt: »Studire, Künstler, die Natur!« Es ist aber [30]keine Kleinigkeit, aus dem Gemeinen das Edle, aus der Unform das Schöne zu entwickeln.

192. Wo der Antheil sich verliert, verliert sich auch das Gedächtniß.

193. Die Welt ist eine Glocke, die einen Riß hat: sie klappert, aber klingt nicht.

194. Die Zudringlichkeiten junger Dilettanten muß man mit Wohlwollen ertragen: sie werden im Alter die wahrsten Verehrer der Kunst und des Meisters.

195. Wenn die Menschen recht schlecht werden, haben sie keinen Antheil mehr als die Schadenfreude.

196. Gescheute Leute sind immer das beste Conversationslexikon.

197. Es gibt Menschen, die gar nicht irren, weil sie sich nichts Vernünftiges vorsetzen.

198. Kenne ich mein Verhältniß zu mir selbst und zur Außenwelt, so heiß’ ich’s Wahrheit. Und so kann jeder seine eigene Wahrheit haben, und es ist doch immer dieselbige.

199. Das Besondere unterliegt ewig dem Allgemeinen; das Allgemeine hat ewig sich dem Besondern zu fügen.

200. Vom eigentlich Productiven ist niemand Herr, und sie müssen es alle nur so gewähren lassen.

201. Wem die Natur ihr offenbares Geheimniß zu enthüllen anfängt, der empfindet eine unwiderstehliche Sehnsucht nach ihrer würdigsten Auslegerin, der Kunst.

202. Die Zeit ist selbst ein Element.

203. Der Mensch begreift niemals, wie anthropomorphisch er ist.

204. Ein Unterschied, der dem Verstand nichts gibt, ist kein Unterschied.

[31]205. In der Phanerogamie ist noch soviel Kryptogamisches, daß Jahrhunderte es nicht entziffern werden.

206. Die Verwechselung eines Consonanten mit dem andern möchte wohl aus Unfähigkeit des Organs, die Verwandlung der Vocale in Diphthongen aus einem eingebildeten Pathos entstehen.

207. Wenn man alle Gesetze studiren sollte, so hätte man gar keine Zeit, sie zu übertreten.

208. Man kann nicht für jedermann leben, besonders für die nicht, mit denen man nicht leben möchte.

209. Der Appell an die Nachwelt entspringt aus dem reinen lebendigen Gefühl, daß es ein Unvergängliches gebe und, wenn auch nicht gleich anerkannt, doch zuletzt aus der Minorität sich der Majorität werde zu erfreuen haben.

210. Geheimnisse sind noch keine Wunder.

211. I convertiti stanno freschi appresso di me.

212. Leichtsinnige leidenschaftliche Begünstigung problematischer Talente war ein Fehler meiner frühern Jahre, den ich niemals ganz ablegen konnte.

213. Ich möchte gern ehrlich mit dir sein, ohne daß wir uns entzweiten; das geht aber nicht. Du benimmst dich falsch und setzest dich zwischen zwei Stühle, Anhänger gewinnst du nicht und verlierst deine Freunde. Was soll daraus werden!

214. Es ist ganz einerlei, vornehm oder gering sein: das Menschliche muß man immer ausbaden.

215. Die liberalen Schriftsteller spielen jetzt ein gutes Spiel, sie haben das ganze Publicum zu Suppleanten.

216. Wenn ich von liberalen Ideen reden höre, so verwundere ich mich immer, wie die Menschen sich gern mit leeren Wortschällen hinhalten: eine Idee darf nicht liberal [32]sein! Kräftig sei sie, tüchtig, in sich selbst abgeschlossen, damit sie den göttlichen Auftrag, productiv zu sein, erfülle. Noch weniger darf der Begriff liberal sein; denn der hat einen ganz andern Auftrag.

217. Wo man die Liberalität aber suchen muß, das ist in den Gesinnungen, und diese sind das lebendige Gemüth.

218. Gesinnungen aber sind selten liberal, weil die Gesinnung unmittelbar aus der Person, ihren nächsten Beziehungen und Bedürfnissen hervorgeht.

219. Weiter schreiben wir nicht; an diesem Maßstab halte man, was man tagtäglich hört!

220. Es sind immer nur unsere Augen, unsere Vorstellungsarten; die Natur weiß ganz allein, was sie will, was sie gewollt hat.

221. »Gib mir, wo ich stehe!«

Archimedes.

»Nimm dir, wo du stehest!«

Nose.

Behaupte, wo du stehst!

G.

222. Allgemeines Causalverhältniß, das der Beobachter aufsucht und ähnliche Erscheinungen einer allgemeinen Ursache zuschreibt; an die nächste wird selten gedacht.

223. Einem Klugen widerfährt keine geringe Thorheit.

224. Bei jedem Kunstwerk, groß oder klein, bis in’s Kleinste kommt alles auf die Conception an.

225. Es gibt eine Poesie ohne Tropen, die ein einziger Tropus ist.

226. Ein alter gutmüthiger Examinator sagt einem [33]Schüler in’s Ohr: »Etiam nihil didicisti« und läßt ihn für gut hingehen.

227. Das Fürtreffliche ist unergründlich, man mag damit anfangen, was man will.

228. Aemilium Paulum – virum in tantum laudandum, in quantum intelligi virtus potest.

229. Ich habe mich so lange um’s Allgemeine bemüht, bis ich einsehen lernte, was vorzügliche Menschen im Besondern leisten.

[34]Aus Kunst und Alterthum.

Fünften Bandes erstes Heft.

1824.

(Einzelnes.)

230. Indem ich mich zeither mit der Lebensgeschichte wenig und viel bedeutender Menschen anhaltender beschäftigte, kam ich auf den Gedanken: es möchten sich wohl die einen in dem Weltgewebe als Zettel, die andern als Einschlag betrachten lassen; jene gäben eigentlich die Breite des Gewebes an, diese dessen Halt, Festigkeit, vielleicht auch mit Zuthat irgend eines Gebildes. Die Schere der Parze hingegen bestimmt die Länge, dem sich denn das Übrige alles zusammen unterwerfen muß. Weiter wollen wir das Gleichniß nicht verfolgen.

 

231. Auch Bücher haben ihr Erlebtes, das ihnen nicht entzogen werden kann.

Wer nie sein Brot mit Thränen aß,

Wer nicht die kummervollen Nächte

Auf seinem Bette weinend saß,

Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte.

Diese tiefschmerzlichen Zeilen wiederholte sich eine höchst vollkommene angebetete Königin in der grausamsten Verbannung, zu gränzenlosem Elend verwiesen. Sie befreundete sich mit dem Buche, das diese Worte und noch manche schmerzliche Erfahrung überliefert, und zog [35]daraus einen peinlichen Trost; wer dürfte diese schon in die Ewigkeit sich erstreckende Wirkung wohl jemals verkümmern?

232. Mit dem größten Entzücken sieht man im Apollosaal der Villa Aldobrandini zu Frascati, auf welche glückliche Weise Domenichin die Ovidischen Metamorphosen mit der schicklichsten Örtlichkeit umgibt; dabei nun erinnert man sich gern, daß die glücklichsten Ereignisse doppelt selig empfunden werden, wenn sie uns in herrlicher Gegend gegönnt waren, ja daß gleichgültige Momente durch würdige Localität zu hoher Bedeutung gesteigert wurden.

233. Poesie wirkt am meisten im Anfang der Zustände, sie seien nun ganz roh, halbcultivirt oder bei Abänderung einer Cultur, bei’m Gewahrwerden einer fremden Cultur, daß man also sagen kann, die Wirkung der Neuheit findet durchaus statt.

234. Mannräuschlein nannte man im siebzehnten Jahrhundert gar ausdrucksvoll die Geliebte.

235. Liebes gewaschenes Seelchen ist der verliebteste Ausdruck auf Hiddensee.

236. Das Wahre ist eine Fackel, aber eine ungeheure; deßwegen suchen wir alle nur blinzend so daran vorbei zu kommen, in Furcht sogar, uns zu verbrennen.

237. »Die Klugen haben mit einander viel gemein.« Äschylus.

238. Das eigentlich Unverständige sonst verständiger Menschen ist, daß sie nicht zurecht zu legen wissen, was ein anderer sagt, aber nicht gerade trifft, wie er’s hätte sagen sollen.

239. Ein jeder, weil er spricht, glaubt, auch über die Sprache sprechen zu können.

[36]240. Man darf nur alt werden, um milder zu sein; ich sehe keinen Fehler begehen, den ich nicht auch begangen hätte.

241. Der Handelnde ist immer gewissenlos; es hat niemand Gewissen als der Betrachtende.

242. Ob denn die Glücklichen glauben, daß der Unglückliche wie ein Gladiator mit Anstand vor ihnen umkommen solle, wie der römische Pöbel zu fordern pflegte?

243. Den Timon fragte jemand wegen des Unterrichts seiner Kinder. »Laßt sie«, sagte der, »unterrichten in dem, was sie niemals begreifen werden.«

244. Es gibt Personen, denen ich wohl will und wünschte, ihnen besser wollen zu können.

245. Der eine Bruder brach Töpfe, der andere Krüge. Verderbliche Wirthschaft!

246. Wie man aus Gewohnheit nach einer abgelaufenen Uhr hinsieht, als wenn sie noch ginge, so blickt man auch wohl einer Schönen in’s Gesicht, als wenn sie noch liebte.

247. Der Haß ist ein actives Mißvergnügen, der Neid ein passives; deßhalb darf man sich nicht wundern, wenn der Neid so schnell in Haß übergeht.

248. Der Rhythmus hat etwas Zauberisches, sogar macht er uns glauben, das Erhabene gehöre uns an.

249. Dilettantismus, ernstlich behandelt, und Wissenschaft, mechanisch betrieben, werden Pedanterei.

250. Die Kunst kann niemand fördern als der Meister. Gönner fördern den Künstler, das ist recht und gut; aber dadurch wird nicht immer die Kunst gefördert.

251. »Deutlichkeit ist eine gehörige Vertheilung von Licht und Schatten.« Hamann. Hört!

252. Shakespeare ist reich an wundersamen Tropen, die [37]aus personificirten Begriffen entstehen und uns gar nicht kleiden würden, bei ihm aber völlig am Platze sind, weil zu seiner Zeit alle Kunst von der Allegorie beherrscht wurde.

Auch findet derselbe Gleichnisse, wo wir sie nicht hernehmen würden; zum Beispiel vom Buche. Die Druckerkunst war schon über hundert Jahre erfunden, demohngeachtet erschien ein Buch noch als ein Heiliges, wie wir aus dem damaligen Einbande sehen, und so war es dem edlen Dichter lieb und ehrenwerth; wir aber broschiren jetzt alles und haben nicht leicht vor dem Einbande noch seinem Inhalte Respect.

253. Herr von Schweinichen ist ein merkwürdiges Geschichts- und Sittenbuch; für die Mühe, die es kostet, es zu lesen, finden wir uns reichlich belohnt; es wird für gewisse Zustände eine Symbolik der vollkommensten Art. Es ist kein Lesebuch, aber man muß es gelesen haben.

254. Der thörigste von allen Irrthümern ist, wenn junge gute Köpfe glauben, ihre Originalität zu verlieren, indem sie das Wahre anerkennen, was von andern schon anerkannt worden.

255. Die Gelehrten sind meist gehässig, wenn sie widerlegen; einen Irrenden sehen sie gleich als ihren Todfeind an.

256. Die Schönheit kann nie über sich selbst deutlich werden.

257. Sobald man der subjectiven oder sogenannten sentimentalen Poesie mit der objectiven, darstellenden gleiche Rechte verlieh, wie es denn auch wohl nicht anders sein konnte, weil man sonst die moderne Poesie ganz hätte ablehnen müssen, so war voraus zu sehen, daß, wenn auch wahrhafte poetische Genies geboren werden sollten, sie [38]doch immer mehr das Gemüthliche des inneren Lebens als das Allgemeine des großen Weltlebens darstellen würden. Dieses ist nun in dem Grade eingetroffen, daß es eine Poesie ohne Tropen gibt, der man doch keineswegs allen Beifall versagen kann.

[39]Aus Kunst und Alterthum.

Fünften Bandes zweites Heft.

1825.

(Einzelnes.)

258. Madame Roland, auf dem Blutgerüste, verlangte Schreibzeug, um die ganz besondern Gedanken aufzuschreiben, die ihr auf dem letzten Wege vorgeschwebt. Schade, daß man ihr’s versagte; denn am Ende des Lebens gehen dem gefaßten Geiste Gedanken auf, bisher undenkbare; sie sind wie selige Dämonen, die sich auf den Gipfeln der Vergangenheit glänzend niederlassen.

259. Man sagt sich oft im Leben, daß man die Vielgeschäftigkeit, Polypragmosyne, vermeiden, besonders, je älter man wird, sich desto weniger in ein neues Geschäft einlassen solle. Aber man hat gut reden, gut sich und anderen rathen. Älter werden heißt selbst ein neues Geschäft antreten; alle Verhältnisse verändern sich, und man muß entweder zu handeln ganz aufhören oder mit Willen und Bewußtsein das neue Rollenfach übernehmen.

260. Große Talente sind selten, und selten ist es, daß sie sich selbst erkennen; nun aber hat kräftiges unbewußtes Handeln und Sinnen so höchst erfreuliche als unerfreuliche Folgen, und in solchem Conflict schwindet ein bedeutendes Leben vorüber. Hievon ergeben sich in Medwins Unterhaltungen so merkwürdige als traurige Beispiele.

261. Vom Absoluten in theoretischem Sinne wag’ ich nicht zu reden; behaupten aber darf ich, daß, wer es in der [40]Erscheinung anerkannt und immer im Auge behalten hat, sehr großen Gewinn davon erfahren wird.

262. In der Idee leben heißt das Unmögliche behandeln, als wenn es möglich wäre. Mit dem Charakter hat es dieselbe Bewandtniß: treffen beide zusammen, so entstehen Ereignisse, worüber die Welt vom Erstaunen sich Jahrtausende nicht erholen kann.

263. Napoleon, der ganz in der Idee lebte, konnte sie doch im Bewußtsein nicht erfassen; er läugnet alles Ideelle durchaus und spricht ihm jede Wirklichkeit ab, indessen er eifrig es zu verwirklichen trachtet. Einen solchen innern perpetuirlichen Widerspruch kann aber sein klarer unbestechlicher Verstand nicht ertragen, und es ist höchst wichtig, wenn er, gleichsam genöthigt, sich darüber gar eigen und anmuthig ausdrückt.

264. Er betrachtet die Idee als ein geistiges Wesen, das zwar keine Realität hat, aber, wenn es verfliegt, ein Residuum (caput mortuum) zurückläßt, dem wir die Wirklichkeit nicht ganz absprechen können. Wenn dieses uns auch starr und materiell genug scheinen mag, so spricht er sich ganz anders aus, wenn er von den unaufhaltsamen Folgen seines Lebens und Treibens mit Glauben und Zutrauen die Seinen unterhält. Da gesteht er wohl gern, daß Leben Lebendiges hervorbringe, daß eine gründliche Befruchtung auf alle Zeiten hinauswirke. Er gefällt sich zu bekennen, daß er dem Weltgange eine frische Anregung, eine neue Richtung gegeben habe.

265. Höchst bemerkenswerth bleibt es immer, daß Menschen, deren Persönlichkeit fast ganz Idee ist, sich so äußerst vor dem Phantastischen scheuen. So war Hamann, dem es unerträglich schien, wenn von Dingen einer [41]andern Welt gesprochen wurde. Er drückte sich gelegentlich darüber in einem gewissen Paragraphen aus, den er aber, weil er ihm unzulänglich schien, vierzehnmal variirte und sich doch immer wahrscheinlich nicht genug that. Zwei von diesen Versuchen sind uns übrig geblieben; einen dritten haben wir selbst gewagt, welchen hier abdrucken zu lassen, wir durch Obenstehendes veranlaßt sind.

266. Der Mensch ist als wirklich in die Mitte einer wirklichen Welt gesetzt und mit solchen Organen begabt, daß er das Wirkliche und nebenbei das Mögliche erkennen und hervorbringen kann. Alle gesunde Menschen haben die Überzeugung ihres Daseins und eines Daseienden um sie her. Indessen gibt es auch einen hohlen Fleck im Gehirn, das heißt eine Stelle, wo sich kein Gegenstand abspiegelt, wie denn auch im Auge selbst ein Fleckchen ist, das nicht sieht. Wird der Mensch auf diese Stelle besonders aufmerksam, vertieft er sich darin, so verfällt er in eine Geisteskrankheit, ahnet hier Dinge aus einer andern Welt, die aber eigentlich Undinge sind und weder Gestalt noch Begränzung haben, sondern als leere Nacht-Räumlichkeit ängstigen und den, der sich nicht losreißt, mehr als gespensterhaft verfolgen.

267. Wie wenig von dem Geschehenen ist geschrieben worden, wie wenig von dem Geschriebenen gerettet! Die Literatur ist von Haus aus fragmentarisch, sie enthält nur Denkmale des menschlichen Geistes, in so fern sie in Schriften verfaßt und zuletzt übrig geblieben sind.

268. Und doch bei aller Unvollständigkeit des Literarwesens finden wir tausendfältige Wiederholung, woraus hervorgeht, wie beschränkt des Menschen Geist und Schicksal sei.

[42]269. Da wir denn doch zu dieser allgemeinen Weltberathung als Assessoren, obgleich sine voto, berufen sind und wir uns von den Zeitungsschreibern tagtäglich referiren lassen, so ist es ein Glück, auch aus der Vorzeit tüchtig Referirende zu finden. Für mich sind von Raumer und Wachler in den neusten Tagen dergleichen geworden.

270. Die Frage, wer höher steht, der Historiker oder der Dichter, darf gar nicht aufgeworfen werden; sie concurriren nicht mit einander, so wenig als der Wettläufer und der Faustkämpfer. Jedem gebührt seine eigene Krone.

271. Die Pflicht des Historikers ist zwiefach: erst gegen sich selbst, dann gegen den Leser. Bei sich selbst muß er genau prüfen, was wohl geschehen sein könnte, und um des Lesers willen muß er festsetzen, was geschehen sei. Wie er mit sich selbst handelt, mag er mit seinen Collegen ausmachen; das Publicum muß aber nicht in’s Geheimniß hineinsehen, wie wenig in der Geschichte als entschieden ausgemacht kann angesprochen werden.

272. Es geht uns mit Büchern wie mit neuen Bekanntschaften. Die erste Zeit sind wir hoch vergnügt, wenn wir im Allgemeinen Übereinstimmung finden, wenn wir uns an irgend einer Hauptseite unserer Existenz freundlich berührt fühlen; bei näherer Bekanntschaft treten alsdann erst die Differenzen hervor, und da ist denn die Hauptsache eines vernünftigen Betragens, daß man nicht, wie etwa in der Jugend geschieht, sogleich zurückschaudere, sondern daß man gerade das Übereinstimmende recht festhalte und sich über die Differenzen vollkommen aufkläre, ohne sich deßhalb vereinigen zu wollen.

273. Eine solche freundlich-belehrende Unterhaltung ist mir durch Stiedenroths Psychologie geworden. [43]Alle Wirkung des Äußern auf’s Innere trägt er unvergleichlich vor, und wir sehen die Welt nochmals nach und nach in uns entstehen. Aber mit der Gegenwirkung des Innern nach außen gelingt es ihm nicht eben so. Der Entelechie, die nichts aufnimmt, ohne sich’s durch eigene Zuthat anzueignen, läßt er nicht Gerechtigkeit widerfahren, und mit dem Genie will es auf diesem Weg gar nicht fort; und wenn er das Ideal aus der Erfahrung abzuleiten denkt und sagt: das Kind idealisirt nicht, so mag man antworten: das Kind zeugt nicht; denn zum Gewahrwerden des Ideellen gehört auch eine Pubertät. Doch genug, er bleibt uns ein werther Gesell und Gefährte und soll nicht von unserer Seite kommen.

 

274. Wer viel mit Kindern lebt, wird finden, daß keine äußere Einwirkung auf sie ohne Gegenwirkung bleibt.

275. Die Gegenwirkung eines vorzüglich kindlichen Wesens ist sogar leidenschaftlich, das Eingreifen tüchtig.

276. Deßhalb leben Kinder in Schnellurtheilen, um nicht zu sagen in Vorurtheilen; denn bis das schnell, aber einseitig Gefaßte sich auslöscht, um einem Allgemeinern Platz zu machen, erfordert es Zeit. Hierauf zu achten, ist eine der größten Pflichten des Erziehers.

277. Ein zweijähriger Knabe hatte die Geburtstagsfeier begriffen, an der seinigen die bescherten Gaben mit Dank und Freude sich zugeeignet, nicht weniger dem Bruder die seinigen bei gleichem Feste gegönnt.

Hiedurch veranlaßt, fragte er am Weihnachtsabend, wo so viele Geschenke vorlagen, wann denn sein Weihnachten komme. Dieß allgemeine Fest zu begreifen, war noch ein ganzes Jahr nöthig.

278. Die große Schwierigkeit bei psychologischen [44]Reflexionen ist, daß man immer das Innere und Äußere parallel oder vielmehr verflochten betrachten muß. Es ist immerfort Systole und Diastole, Einathmen und Ausathmen des lebendigen Wesens; kann man es auch nicht aussprechen, so beobachte man es genau und merke darauf.

279. Mein Verhältniß zu Schiller gründete sich auf die entschiedene Richtung beider auf Einen Zweck, unsere gemeinsame Thätigkeit auf die Verschiedenheit der Mittel, wodurch wir jenen zu erreichen strebten.

Bei einer zarten Differenz, die einst zwischen uns zur Sprache kam, und woran ich durch eine Stelle seines Briefs wieder erinnert werde, macht’ ich folgende Betrachtungen.

Es ist ein großer Unterschied, ob der Dichter zum Allgemeinen das Besondere sucht oder im Besondern das Allgemeine schaut. Aus jener Art entsteht Allegorie, wo das Besondere nur als Beispiel, als Exempel des Allgemeinen gilt; die letztere aber ist eigentlich die Natur der Poesie, sie spricht ein Besonderes aus, ohne an’s Allgemeine zu denken oder darauf hinzuweisen. Wer nun dieses Besondere lebendig faßt, erhält zugleich das Allgemeine mit, ohne es gewahr zu werden, oder erst spät.

280. Den einzelnen Verkehrtheiten des Tags sollte man immer nur große weltgeschichtliche Massen entgegensetzen.