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Joe Schlosser

Für immer mein

Mechthild Kaysers erster Fall

FUEGO

- Über dieses Buch -

Die erste Frühlingssonne lockt die Bremer aus ihren Löchern. Nach dem nasskalten Schmuddelwetter tummeln sich die Bewohner überall auf den Straßen und in den Cafés des Steintorviertels. Kriminaloberrätin Mechthild Kayser genießt ihr Wochenende in vollen Zügen. Noch ahnt sie nichts von dem Serienmörder, der in Bremen sein Unwesen treibt und ihr schlaflose Nächte bereiten wird. Denn die Leiche einer Frau, die auf einem verlassenen Gewerbegelände gefunden wird, gibt der Kripo Rätsel auf. Warum trägt die Tote Original-Kleidung aus den sechziger Jahren, und was haben die schönheitschirurgischen Eingriffe zu bedeuten? Während Mechthild Kayser und ihr Team sich auf die Suche nach dem Täter begeben, bereitet dieser in seinem abgelegenen Bauernhaus nahe der Stadt den Übergriff auf sein nächstes Opfer vor, das seiner Mutter ähneln muss. An verschiedenen Plätzen der Stadt versteckt der Mörder die Leichen, um sich Wallfahrtsorte zu schaffen. Doch wird er sich von seiner Zwangsvorstellung befreien können, bevor Mechthild Kayser ihm auf die Schliche kommt?

Das Herz von Joe Schlosser schlägt für seine Hansestadt. „Für immer mein“ ist ein packender Polizei-Krimi und zugleich eine Liebeserklärung an die Bremer Originale und skurrilen Szenegestalten des Viertels.

Es zeichnete sich schon am gestrigen Freitagnachmittag ab, dass das Wochenende besonders schön werden könnte. Alle Menschen in Bremen warteten nach diesem unangenehmen Winter auf Frühling und hofften schon lange, dass er sich, wie in manch anderem Jahr, auch in diesem März von seiner besten Seite zeigen würde.

Das norddeutsche Schmuddelwetter brachte meistens keinen richtigen Winter mit viel Schnee und Eis und strahlendblauem Himmel zustande. Auch in diesem Jahr hatte es viel Regen gegeben, graue Wolken und höchstens mal überfrierende Nässe, die Fußgänger und Autofahrer nervte. Nur an einem oder zwei Tagen war so viel Schnee gefallen, dass die Kinder an den Hängen des Osterdeichs rodeln konnten.

Sehnsüchtig hatten alle dieses Wochenende erwartet und hofften inständig, dass der Wetterbericht sich nicht täuschen würde. Und er behielt recht. Das Ende der Winterdepression schien erreicht zu sein. Ein hellblauer Himmel und eine zwar noch tiefstehende, aber im Verhältnis zu den zurückliegenden tristen Tagen dennoch deutlich wärmende Sonne beglückte die Menschen und holte sie aus ihren Löchern.

Das Café Sand an der Weser hatte am Vorabend im Regionalfernsehen bekanntmachen lassen, dass es die Pforten am anderen Flussufer öffnen würde und den dazugehörigen Fährbetrieb wieder aufnahm. Die Aufnahme des Fährbetriebs wirkte wie ein geheimes Signal. Die zahlreichen Kneipen und Restaurants der Stadt erneuerten ihre Konzessionen für die Außengastronomie. Die Leute aus den angrenzenden Stadtteilen Ostertor und Steintor kramten nach ihren Sonnenbrillen, unter den dicken Jacken wurden T-Shirts angezogen, und die ersten türkischen Jugendlichen brausten mit ihren BMW-Cabrios den Ostertorsteinweg, Bremens heimliche Vergnügungsmeile, entlang und ließen ihre Motoren vor den Terrassen der Kneipen und Cafés aufheulen.

Die Menschen waren wie ausgewechselt. Überall sah man fröhliche Gesichter, übertrieben freudige Gesten bei sich begrüßenden Menschen, und Nachbarn, die, auf den Eingangsstufen ihrer Häuser sitzend, entspannte Unterhaltungen im Sonnenschein führten oder dort Zeitung lasen, allerdings noch mit einem vor den kalten Steinen schützenden Kissen unter dem Hintern.

Die Bremer brauchten nicht viel Sonne, um sich sommerlich zu geben. Als echte Norddeutsche waren sie Kälte und viel Niederschlag gewohnt. Wenn hier das Thermometer einmal die 16-Grad-Marke überstieg und die Sonne herauskam, glaubte man sich schon in einer mediterranen Umgebung zu befinden. Alle bewegten sich langsamer als sonst, Jacken wurden aus- und wieder angezogen, um die ersten Sonnenstrahlen auf die winterlich weiße Haut zu lassen, bis es einem wieder zu kühl wurde. Bei Pepe im Eiscafé herrschte Hochbetrieb, und sein Oberkellner Bruno tänzelte gekonnt wie eh und je mit einem vollen Tablett zwischen den fahrenden Autos auf dem Ostertorsteinweg hindurch, um die auf der anderen Straßenseite liegende Terrasse zu bedienen. Die wenigen Tische, die direkt auf dem Gehsteig vor dem Café standen und meistens im Schatten lagen, waren wie immer von Künstlern, Freaks und solchen, die es werden wollten oder sich dafür hielten, besetzt. Der alte Marco philosophierte laut mit seiner verlebten Stimme cora publico, und sein befreundeter Bildhauer sah den jungen Mädchen nach. Neben der Litfass-Kneipe hatte sich der Bio-Markt aufgebaut, und die Kunden nahmen sich wieder Zeit, um sich über die verschiedensten angebotenen Produkte auszutauschen. Olivenöl und Käse waren wie jedes Jahr Hauptgesprächsthema.

Auch Mechthild Kayser konnte diesem schönen Sonnabendvormittag nicht widerstehen und stand nun auf der Treppe vor ihrem Haus in der Humboldtstraße. Die ungewohnte Sonne blendete sie derartig stark, dass sie ihre Augen zusammenkneifen musste, bis sie endlich ihre Sonnenbrille in der Umhängetasche gefunden hatte. Das herrliche Wetter weckte in ihr die Lebensfreude, und so verharrte sie noch einige Zeit auf den Stufen, bis sie sie endlich mit einem Lächeln im Gesicht herunterschritt und sich auf den Weg zum Ziegenmarkt im Steintor machte. Einen besonderen Grund hatte sie eigentlich nicht, das Haus zu verlassen. Aber wenn bei den ersten warmen Sonnenstrahlen das ganze Viertel auf den Beinen war, durfte man einfach nicht fehlen. An einem Tag wie diesem brachte man seine Freude über das Ende der Depression damit zum Ausdruck, dass man herumschlenderte und sehen und gesehen werden wollte. Auch Mechthild blickte entspannt und gut gelaunt in die sonnige Welt. An einem solchen Tag war es schön zu leben. Sie schlenderte durch die Wielandstraße und erreichte den Markt. Überall standen von winterlichen Qualen befreite Menschen und plauschten miteinander. Beinahe sah es aus wie eine friedliche, dörfliche Idylle. Nur eine Handvoll abgemagerter und ungepflegter Junkies an der Gedenktafel für die Drogentoten des Viertels holte einen in die Realität dieses schwierigen Stadtteils zurück.

Früher war dies ein gut- bis spießbürgerliches Bremer Quartier gewesen. In den fünfziger und sechziger Jahren wohnten hier noch alteingesessene Ostertorianer, die ihr kleinbürgerliches Leben in aller Beschaulichkeit führten. Damals gab es noch keine Kneipen, nur sogenannte Gaststätten. Und deren Zahl war begrenzt. Am Sielwall, eine der Stichstraßen zu den größeren, ehemaligen Torwegen der Stadt, waren es nur zwei. Die eine am oberen Ende, die von dem blinden Eickmeyer geführt wurde und aus der Kinder für ihre Väter noch Bier in der Kanne holen konnten. Die andere am unteren Ende, hinter deren verbleiten Buntglasfenstern sich damals die Taxifahrer verköstigen ließen.

Als erstes störte die Lila Eule die vermeintliche Ruhe. Als Treffpunkt der Linken und progressiven Kräfte wurden hier wunderbare Jazzkonzerte und musikalische Experimente aufgeführt. Ende der sechziger Jahre kamen hier neben dem Revolutionär Rudi Dutschke auch viele, später populärere Künstler auf die Bühne. Der Komiker Otto Waalkes und die damals noch kaum bekannte Rockgruppe Scorpions gaben hier ihre Debüts.

Die alten Ostertorianer konnte man auf den Märkten im Viertel treffen, und ihre offene, herzliche Art führte oft zu einem ausgedehnten Plausch über die vergangenen Zeiten im Viertel. Schöne Geschichten aus dem ehemals ruhigen Stadtteil konnte man sich von ihnen erzählen lassen. Wie von der Krankenschwester Liesel, die die Huren in Bremens einziger, legalen Bordellstraße, der Helene, betreute. Liesel wohnte in einer der bürgerlichen Straßen. Und als sie ihr erstes Kind bekam, besuchten sie die Damen der Helenenstraße, um ihr Geschenke zur Geburt zu bringen. Im Gänsemarsch kamen die aufgetakelten Huren in ihren teuren Mänteln die Blücherstraße hereinspaziert und überbrachten ihre Glückwünsche. Oder von Paul, dem Seemann, der auch nach seinem Ruhestand seiner Gewerkschaft treu geblieben war und für sie als Kassierer die Monatsbeiträge persönlich abholte. So auch von einer Seemannswitwe, die ihm oben auf der Treppe stehend die Tür öffnete und dabei ihr Holzbein verlor, das Paul direkt vor die Füße purzelte. Wie selbstverständlich hob er es auf und befestigte es wieder an den Lederriemen, wobei er der Witwe unstrittig unter den Rock musste. Wie immer erweckten die alten Geschichten den Eindruck, als wenn früher alles ruhiger und einfacher war.

Das Ende der Beschaulichkeit wurde mit einer stadtplanerischen Fehlentscheidung eingeläutet. Quer durch das Viertel sollte eine Hochstraße, die sogenannte Mozarttrasse, gebaut werden, und um die dazu erforderlichen Aufkäufe von Häusern durch die Stadt nicht zusätzlich zu verteuern, wurde ein Sanierungsstop verhängt. Erforderliche Modernisierungen blieben somit aus, und der vorhandene Wohnraum verkam zusehends und wurde immer preiswerter. Anfang der siebziger Jahre wurde die Universität gegründet, und Tausende von Studenten suchten neben eingewanderten Ausländern, vornehmlich Türken, günstigen Wohnraum in der Stadt. Zeitgleich zu den großen gesellschaftlichen Umwälzungen etablierte sich in diesem Stadtteil neben dem hohen Anteil von Ausländern die intellektuelle Elite der sogenannten Roten Kaderschmiede Uni Bremen und bildete die Basis für die subkulturelle Entwicklung eines ganzen Stadtteils. Die kritischen Schülerbewegungen der voruniversitären Zeit trafen für sie gewinnbringend auf das große studentische Potential, das ihren Forderungen Nachdruck verlieh. Und umgekehrt. Demonstrationen und zunehmend gewalttätig verlaufende Auseinandersetzungen mit der Obrigkeit waren die Folge. Die von der Stadt ignorierte Forderung der Jugend nach einem Freizeitheim in ihrem Stadtteil führte zur Besetzung eines leerstehenden Gebäudes im Viertel. Obwohl die Stadt nachgab und eine erhebliche Summe für den Aufbau eines Jugendzentrums den Besetzern zur Verfügung stellte, scheiterte das Projekt. Statt das Geld für die Renovierung des Gebäudes zu nutzen, versoffen und verkifften einige der älteren Besetzer die Kohle. Anschließend, nachdem sich die für das Zentrum kämpfenden Jugendlichen enttäuscht zurückgezogen hatten, kam zwangsläufig die Räumung durch die Polizei.

 

Aus der Erfahrung mit dieser Entwicklung wurden klügere Versuche unternommen, kulturelle und politische Zentren zu entwickeln. Spätere Besetzungen führten nach harten Auseinandersetzungen mit Politik und Polizei zu der Etablierung heute nicht mehr wegzudenkender kultureller Einrichtungen, die mittlerweile zum guten Ruf Bremens beitragen und feste Bestandteile des überregionalen Stadtmarketings geworden sind. Die Stadt hatte beizeiten ihre Pläne für die Mozarttrasse aufgegeben und überließ den Stadtteil wieder sich selbst. Die Auseinandersetzungen nahmen ab. Erkämpftes konnte sich etablieren. Die von der Stadt eingangs aufgekauften und mittlerweile maroden Häuser wurden vergleichsweise zu Spottpreisen an die Menschen zurückgegeben. Günstige Modernisierungskredite halfen, sie wiederherzustellen und zu erhalten. Aus so manchem ehemaligen Hausbesetzer wurde ein frischgebackener Hausbesitzer.

Alternative Lebensformen wurden ausprobiert und wieder verworfen. Einige erinnerten sich noch an die Kommune am Osterdeich und die anlässlich einer Party in einer Badewanne voll Götterspeise sitzende, nackte Schöne. Kunst- und Kulturschaffende fanden in diesem Viertel nicht nur die geistige Freiheit, die sie zum Arbeiten benötigten, sie fanden auch die Räume, die sie brauchten. Mit dem Beginn des Sanierungsstopps war auch das Ende einer Vielzahl kleingewerblicher Betriebe im Stadtteil eingeleitet worden, und leerstehende Werkstätten und kleine Fabrikationshallen wurden einer neuen Nutzung durch Künstler und nach neuen Lebensformen Suchenden zugeführt. Politische Alternativen aus dem Spektrum der Linken und der Ökologiebewegung fanden hier ihr neues, akzeptiertes Zuhause und entwickelten sich zu wahrnehmbaren Instrumenten. Gepaart mit einem großen Maß an Toleranz und dem starken Willen, in einem aktiven Miteinander einen Stadtteil zu gestalten, wurde dieser Teil Bremens zusehends zu einem der politischen und kulturellen Herzen der Stadt. Vorbehalte gegenüber dem Staat und Feindschaft gegenüber den Vertretern der Obrigkeit gehörten hier ebenso zum guten Ton wie die Entwicklung von Hilfsprojekten für die Abhängigen der harten Drogenszene, die hier ebenfalls eine Heimat gefunden hatte.

In den heißen siebziger und achtziger Jahren eskalierte das Verhältnis zwischen Staat und politisch fortschrittlich Denkenden, und das Viertel wurde zum Unruheherd und Ausgangspunkt vieler immer wieder gewalttätig verlaufender Auseinandersetzungen mit dem Staat und dessen Polizei. Zeitweise war es Streifenwagen der Polizei untersagt, bestimmte Straßen zu durchfahren, in denen in besetzten Häusern schon die Pflastersteine gestapelt auf ihre „Empfänger“ warteten.

Die vermeidbar größte Provokation erfuhr die linke Szene durch eine Rekrutenvereidigung der Bundeswehr im angrenzenden Fußballstadion an der Weser. Zwei Tage dauerten die Kämpfe zwischen Polizei und den aus der ganzen Republik angereisten Demonstranten. Die Verluste waren auf beiden Seiten hoch. Hunderte von Verletzten waren das Ergebnis. Jahrelang wurde dieser Auseinandersetzung vom 6. Mai 1980 noch durch die Linke mit einer Besetzung der mitten im Viertel gelegenen Sielwallkreuzung gedacht. Jedesmal eskalierte die Situation, und alter Hass wurde neu ausgetragen.

Mittlerweile hatte sich das Viertel beruhigt. Die Bevölkerungsstruktur hatte sich enorm gewandelt. Aber ein Teil des unruhigen Geistes, der hier einmal herrschte, konnte sich halten. Immer noch gab man sich progressiv, fortschrittlich. Fast die Hälfte der Bevölkerung wählte hier Grün. Linke Gruppen waren hauptsächlich hier präsent. Alternatives fand noch immer ein akzeptierendes Umfeld. Vieles, was einmal am Rande der Gesellschaft entstanden war, hatte sich in den gesellschaftlichen Alltag integriert. Aus ehemaligen Krawallbrüdern waren etablierte Viertelbewohner geworden. Einige prahlten noch damit, wie sie in den wilden Zeiten in den vordersten Reihen der Kämpfer für Freiheit und soziale Gerechtigkeit gestanden hatten. Bei näherer Betrachtung war dem natürlich nicht immer so. Wer dabei war, weiß, wie viel davon wirklich wahr und was der Legendenbildung zuzuschreiben ist. Aber dabei gewesen zu sein, gehörte für viele zum guten Ton. Eine Romantisierung der wilden Zeit hatte sich breitgemacht. Jeder wollte ein bisschen mitgemischt haben, aber niemand würde heute so weit gehen und eingestehen, dass er Steine auf Polizisten geworfen oder Schaufenster demoliert und Auslagen geplündert hatte.

Diese Quartiersromantik hat in den zurückliegenden Jahren nicht nur mittlerweile finanzstark gewordene Vertreter der ehemaligen Studentenschaft im Viertel belassen, sondern auch viele Pseudo-Linke und angeblich Progressive angelockt, die ein bisschen vom Flair der vergangenen Zeiten an ihre Brust heften und sich mit der Aura des Revolutionären umgeben wollten. In vielen Fällen waren sie spießiger als die eingesessenen Bürgerlichen. Heute gilt es in manchen Kreisen eben als schick, in diesem lebhaften Viertel zu wohnen. Die Preise sind mit die höchsten in der Stadt. Die Nachfrage nach Häusern und Mietwohnungen ist ungebrochen hoch. Die zugezogene Schickeria hat gleich ihre teuren Boutiquen und nobel eingerichteten Bistros mitgebracht. Preiswerte Wohnungen sind so gut wie verschwunden, und ein Investment in Immobilien lohnt sich hier immer noch. Manch einer der klugen Revoluzzer hat rechtzeitig investiert, und Spekulationen dieser Art sind alle aufgegangen. In enger Zusammenarbeit zwischen Stadtteilpolitik und Bevölkerung ist es gelungen, die heruntergekommenen, dunklen Ecken aufzuhellen, Bars, Bordelle und illegales Glücksspiel in Hinterzimmern verrauchter Ganovenkneipen zu verdrängen und die Zahl der Spielhallen und gastronomischen Betriebe zu beschränken.

Mechthild Kayser ließ sich am Blumenstand gerade einen bunten Strauß mit gefüllten Rosen, ihren Lieblingsblumen, binden, als sie von der Seite angesprochen wurde. „Haste mal nen Euro für’n armen Säufer?“

Leicht erschrocken über die unerwartete Ansprache, drehte sie sich um und trat dabei einen halben Schritt zur Seite. Mit freundlich lächelndem Gesicht und die geäußerte Bitte mit geöffneten Händen unterstreichend, stand vor ihr ein viertelbekannter Penner, den alle nur den Ein-Euro-Mann nannten. Man sah ihm an, dass er ein weicher Mensch war. Er muss einmal ein wirklich gutaussehender Mann gewesen sein, dachte Mechthild Kayser beim Betrachten seiner Gesichtszüge und kramte in ihrem Portemonnaie nach der erbetenen Münze. Der Ein-Euro-Mann wohnte in einem Verschlag in einer billigen Absteige, in der hauptsächlich Drogenabhängige residierten. Niemand wusste, was ihn einst aus der Bahn geworfen und in den Alkoholismus getrieben hatte. Aber alle wussten, dass er gutmütig und zurückhaltend war. Trotz seines heruntergekommenen Aussehens schien er darauf zu achten, eine bestimmte Stufe des sozialen Abstiegs nicht zu unterschreiten. Nie sah man ihn völlig betrunken und besudelt irgendwo herumliegen. Nie fiel er durch Aggressivität auf. Der Ein-Euro-Mann bedankte sich höflich und schlenderte mit seinem Spruch auf den Lippen zum nächsten Passanten.

Mechthild Kayser bezahlte und verstaute ihre Rosen in ihrer Umhängetasche. Wohlwissend, dass sie damit die Lebenszeit ihrer Blumen erheblich verkürzen würde, ließ sie die Blüten vorne aus der Tasche in die Welt des Viertels blicken und wünschte, dass sich auch andere an ihrer Farbenpracht erfreuen würden. Das wohlige Gefühl und die fröhlichen Menschen um sie herum ließ in ihr den Wunsch wachsen, sich ebenfalls auf einer der Kneipenterrassen niederzulassen und einen leckeren Cappuccino zu schlürfen. Sie schlenderte weiter die Steintorstraße entlang, kam an einem Café vorbei, das zwar noch Plätze frei hatte, aber für sie nicht in Betracht kam. Es gehörte einer ehemaligen Bremer Unterweltgröße. Als diese Anfang der achtziger Jahre das Haus erwarb, kursierten in der Polizei die verrücktesten Annahmen, was hinter diesem Kauf wohl stecken könnte. Einige gingen sogar davon aus, dass von diesem Haus aus ein unterirdischer Tunnel bis zur nahegelegenen Sparkasse gegraben werden könnte, um sie auszurauben. In Wirklichkeit ging es dem älter werdenden Gauner aber nur darum, Investments zur Sicherung eines ruhigen Lebensabends zu tätigen.

Mechthild Kayser entschied sich für einen sonnigen Platz vor dem Piano, neben dem Litfass einer der ältesten Szenekneipen des Viertels. Die freundliche Bedienung brachte ihr den Cappuccino, und nun sah sie zwischen kleinen Schlucken auf das gegenüberliegende Italo-Eiscafé, an dessen Fenster für den Außerhausverkauf sich schon eine kleine Schlange gebildet hatte. Sie streckte ihre Arme nach oben und reckte sich. Als sie sich wieder nach vorne beugte, musste sie sich eingestehen, dass der Winter ihr ein paar Pfunde zuviel am Bauch beschert hatte. Obwohl ihr ein über die Terrasse schweifender Blick verriet, dass es anderen nicht besser ergangen war, beschloss sie dennoch, wieder häufiger für Bewegung zu sorgen und ihre Figur wieder auf Vorderfrau zu bringen.

Ein wenig hatte sie ein schlechtes Gewissen, dass sie ihr Mobiltelephon zu Hause gelassen hatte, denn als Leiterin der Bremer Mordkommission sollte sie eigentlich immer erreichbar sein. Sie dachte an ihre Kollegen des Kriminaldauerdienstes, die bei diesem Wetter in ihrer stickigen Einsatzzentrale hockten und nach Mitteln und Wegen suchten, wegen irgendeines Falles das Büro verlassen zu können. Aber dieser Gedanke verflog schnell wieder. Sie hatte dieses Wochenende frei und wollte es genießen. Bloß nicht an den Job denken. Sie wollte ein paar Pläne schmieden und sich überlegen, was sie unternehmen könnte. Ein Kinobesuch schien eine gute Möglichkeit zu sein, einem langweiligen Fernsehabend zu entkommen. Cinema und Schauburg lagen beide im Viertel und hatten als alternative Kinostätten immer etwas Interessantes zu bieten. Und bis zum Abend könnte sie ihre Balkonterrasse aufräumen und für den bevorstehenden Sommer herrichten. Das waren gute Ideen. Sie legte Geld auf den Tisch und machte sich auf den Weg nach Hause.

„Guten Morgen, mein Geburtstagskind!“

Eine gekünstelt erhobene Stimme drang in den Raum. Er war zwar schon einige Zeit wach, erwartete aber heute an seinem Geburtstag eine besonders hingebungsvolle Weise des Aufweckens. Doch sie blieb aus. Mit einem „Beeil dich!“ war seine Mutter schon wieder aus seinem Zimmer verschwunden. Sie war immer so hektisch, immer in Eile und hatte immer etwas vor. Allerdings nie mit ihm, ihrem Sohn. Er wusste schon, was ihn erwartete, wenn er von der Galerie im ersten Stock der Villa die breite Treppe in die Halle hinunterstieg und dann ins Esszimmer kam.

An einem Ende des massiven Esstisches für zwölf Personen stand sein Frühstücksgedeck. Wie immer der blaue Becher mit Kakao und eine Brötchenhälfte mit bitterer Orangenmarmelade, eine andere mit einer großen Scheibe Mettwurst. Oder genauer gesagt mit „Salami“, wie seine Mutter ihn bei jeder Gelegenheit verbesserte. Auf der anderen ihm abgewandten Seite des Tisches stapelten sich Geschenke.

Er fragte sich, warum die Geschenke nicht auf der vorderen, zuerst sichtbaren Seite des Tisches präsentiert wurden. Das ist doch an einem Geburtstag das Wichtigste − und nicht das Frühstück. Aber er erwartete sowieso keine Überraschungen. Seine Mutter vertrat die Ansicht, dass zum Geburtstag Wünsche genau erfüllt werden sollten, und Überraschungen, die am Ende nicht gewollt waren, nur unnütze Geldausgaben seien. So war sie mit ihm vor einer Woche in die Innenstadt von Essen gefahren und hatte alles gekauft, was er sich wünschte und von dem sie meinte, dass es an der Zeit sei, dass er es sich wünschte.

Langsam und freudige Erwartung vortäuschend, ging er ans andere Ende des Tisches. Seine Mutter stand etwas abseits des Geschehens und lächelte ihm ermunternd zu. Sie war schon jetzt zufrieden mit ihren Geschenken, die sie ausgesucht hatte. Jedem konnte sie bei nächster Gelegenheit voller Stolz aufzählen, was er dieses Jahr alles Wichtiges erhalten hatte.

Vor seinem Stapel Geschenke brannten auf einem hölzernen Ring zwölf Kerzen, die jeweils eines seiner erreichten Lebensjahre darstellen sollten. Am Rand des Ringes stand in Hellblau „Alles Gute zum Geburtstag“ geschrieben. Wahrscheinlich damit seine Mutter es nicht selber sagen musste. In der Mitte des Kerzenkreises stand eine dickere Kerze, das sogenannte Lebenslicht, wie seine Mutter ihm erklärt hatte. Und wie immer musste er, bevor er seine Geschenke in Augenschein nahm, alle Kerzen ausblasen und sich im Geheimen etwas wünschen. Ihm fiel nichts ein, aber er blies trotzdem. Die Erfahrungen mit den letzten Geburtstagen hatten ihm das Vertrauen in dieses Ritual genommen. Warum er beim Ausblasen auch immer sein Lebenslicht mit auslöschen musste, leuchtete ihm nicht ein. Aber er fragte nicht noch einmal. Im vergangenen Jahr hatte er auch keine Antwort erhalten und musste sich stattdessen von seiner Mutter als dummen Jungen bezeichnen lassen.

 

Als der wächserne Duft der erloschenen Kerzen verflogen war, wandte er sich seinen Präsenten zu. Eine Carrera Autorennbahn: die hatte er sich ausgesucht und galt unter seinen Mitschülern als unbedingt erforderlich. Ein echtes Statussymbol. Der Rest der Geschenke stellte die Entscheidungen seiner Mutter dar. Ein neuer Schultornister – den alten hatte er schon versteckt, weil er nicht wollte, dass er weggeworfen wurde –, eine kleine Dampfmaschine mit Geräten, die man an sie anschließen konnte – seine Mutter fand, dass es dafür an der Zeit war, weil sein Vater schließlich eine Fabrik hatte – und dann noch ein einreihiger Kinderanzug aus braunem Stoff mit kurzen Hosen. Dazu zwei Niltestoberhemden und eine schon fertiggebundene, schrecklich gemusterte Krawatte an einem Gummibandverschluss.

„Wer am gesellschaftlichen Leben teilnehmen will, hat bestimmte Formen einzuhalten!“ hatte seine Mutter ihn mit schriller Stimme ungeduldig angekeift, als er sein Unbehagen über diese Idee äußerte. Und der Verkäufer eines der bekanntesten Herrenausstatter der Stadt konnte das Ansinnen seiner Mutter ungehindert vollenden. Weiterer Widerstand war sinnlos. Er ließ diese Prozedur von Anprobieren, Verwerfen, wieder Anprobieren über sich ergehen und wartete auf das erlösende Signal seiner Mutter, in diesem Fall ein jubelndes „Das ist es!“

Keines der Geschenke war eingepackt. Wozu auch. Geldverschwendung, meinte seine Mutter. Er wüsste ja sowieso, was er bekommen würde. Trotzdem hätte er gern voll Wonne Geschenkpapier zerrissen und zerknüllt. Benommen stand er nun vor den Geschenken und wusste nicht so recht, was er tun sollte. Er drehte sich langsam um und ging auf seine Mutter zu, drückte sich an sie und bedankte sich. Immer, wenn er die seltene Gelegenheit bekam, mit seiner Mutter körperlich in Kontakt zu treten, hoffte er auf das Wunder, dass ihn endlich das Gefühl ihrer Liebe erreichte. Aber auch diesmal kam bei ihm nichts an.

„Alles Liebe und Gute zum Geburtstag“, sagte sie schnell und mit dem Tonfall eines Bilanzbuchhalters, der der Gesellschafterversammlung gerade die Notwendigkeit einer Konkursanmeldung mitteilt, und schob ihn schon wieder von sich. Der enge Kontakt mit ihm schien ihr unangenehm zu sein.

„Bevor du mit Spielen anfängst, wirst du aber erst mal frühstücken!“ Dann eilte sie schon zur Tür. Und mit den Worten „Ich muss zum Frisör. Ich weiß schon gar nicht mehr, wo mir der Sinn steht!“ dabei nervös mit den Armen wedelnd, war sie schon verschwunden.

Er setzte sich ans andere Ende des Tisches und blickte beim Verzehren des Marmeladenbrötchens auf seine Geschenke.

Eine Hand streichelte sein Haar, und er hörte hinter sich die Stimme von Berta, der Haushälterin. „Hier, mein Junge. Das ist für dich. Alles Gute zum Geburtstag“, sagte sie mit warmer Stimme. Sie beugte sich zu ihm herunter, küsste ihn zärtlich auf die Wange und reichte ihm ein kleines Paket. Es war in buntes Geschenkpapier mit Mickey-Maus-Figuren eingeschlagen und mit einer dicken, roten Schleife verziert.

Sein Herz begann zu rasen, und voller Aufregung schob er den Frühstücksteller beiseite, um Platz zu schaffen für das Paket. Langsam und genussvoll entfernte er die angeklebte Schleife und legte sie langsam und kontrolliert, wie ein Oberkellner Bestecke auf dem Tisch platziert, beiseite. Dann löste er vorsichtig die Klebefilmstreifen ab, bemüht, das schöne Papier nicht zu beschädigen, und zog dann einen kleinen Karton aus der halbgeöffneten Verpackung heraus.

Er konnte seine langsamen Bewegungen beim Öffnen des Kartons kaum aushalten, wollte aber unbedingt den Moment des Erkennens hinauszögern, um weiterfühlen zu können. Der Deckel war nun offen. Vor ihm lag eine kleine Taschenlampe, wie sie Höhlenforscher auf dem Kopf trugen. Sie war aus verchromten Metall und mit einem roten Plastikrand eingefasst. Am Gehäuse waren breite Gummiriemen angebracht, die dazu dienten, die Lampe wie eine Mütze auf dem Kopf zu tragen.

„Oh danke, Berta!“ rief er aus, sprang von seinem Stuhl hoch und drückte sich an ihren dicken Bauch. Seine in ihre Schürze vertiefte Nase nahm den Geruch von gekochtem Hühnerfleisch wahr, und ein Strahlen huschte über sein Gesicht.

Berta hielt, was sie versprach. Er hatte sich für heute sein Lieblingsessen, Hühnerfrikassee, gewünscht. Sie hielt den Jungen so lange im Arm, bis sie merkte, dass er dringend seine aufgestaute Energie in Bewegung umsetzen musste. Dann rannte er hinaus, und sie hörte, wie er die Tür zum Keller öffnete. Im dunklen Keller ließ sich die Lampe natürlich am besten ausprobieren. Berta räumte das Frühstücksgeschirr zusammen, wusste, dass der Junge die Salami nicht mehr aß, seit er sie nicht mehr Mettwurst nennen durfte, und brachte alles in die Küche. Dann ging sie zurück und lud sich die Geburtstagsgeschenke auf, um sie in sein Kinderzimmer zu bringen. Die gnädige Frau mochte es nicht, wenn das Esszimmer nicht einwandfrei aufgeräumt war, bis sie zurückkehrte. Sie legte die Autorennbahn und die Dampfmaschine auf das für den Jungen viel zu große Bett und hängte die neue Kleidung in seinen Schrank. Dann machte sie sich auf in die Küche, um ihm sein Lieblingsessen zu bereiten.

Berta war Putzfrau, Köchin, Kindermädchen und Haushälterin in einem. Sie war fest im Hause der Industriellenfamilie angestellt und bewohnte am Ende der Galerie in der ersten Etage eine kleine Zweizimmerwohnung. Kurz nach der Geburt des Jungen kam sie ins Haus. Sie war jetzt Ende vierzig und hatte in ihrem Leben bisher nichts anderes getan, als für Herrschaften den Haushalt zu führen. Und es ging ihr gut dabei. Sie verfügte über ausgezeichnete Referenzen, und die ließ sie sich anständig bezahlen. Dafür war sie rund um die Uhr verfügbar, verzichtete auf Urlaub und nahm den Herrschaften auf Reisen den Filius ab. Sie hatte kaum Ausgaben, und so verfügte sie mittlerweile über ein kleines, aber ansehnliches Vermögen, das ihr eines Tages den Lebensabend versüßen sollte. Sie war nicht verheiratet. Der richtige Mann tauchte in ihrem Leben nie auf. Freundschaften hatte sie keine. Sie bewegte sich seit ihrer Ausbildung ausschließlich im Kreis von Dienerschaften. Das war ein sehr eingeschränktes soziales Gefüge. Aber sie vermisste nichts. Auch keine Kinder. In allen Haushalten, in denen sie diente, waren Kinder. Das wollte sie so, und das reichte ihr. Mittlerweile liebte sie den kleinen Benjamin, den sie fast von Geburt an kannte, und kümmerte sich sorgsam um ihn. Und sie bekam von ihm das an Zuneigung und Nähe zurück, was ihr sonst im Leben fehlte.