Wille zur Macht

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Joe Schlosser

Wille zur Macht

Mechthild Kaysers zweiter Fall

FUEGO

- Über dieses Buch -

Nicaragua 1985. Die USA unterstützen die paramilitärische Terrorgruppe Contras bei ihrem Kampf gegen die als kommunistisch erachtete sandinistische Regierung. Um die Bevölkerung vor den Angriffen der Contras zu schützen und den gesellschaftlichen Wandel voranzutreiben, macht sich Christian Dunker als Brigadist auf den Weg in das Grenzgebiet Nicaraguas. Noch ahnt er die weitreichenden Folgen seines Handelns nicht ...

Zwanzig Jahre später wird in einer Bremer Mietwohnung eine grausam zugerichtete Leiche entdeckt – Dunker ist ermordet worden. Die Leiterin der Mordkommission, Mechthild Kayser, und ihr Team stehen vor einem undurchsichtigen Fall. Was zuerst wie ein Racheakt aussieht, nimmt schnell ungeahnte Ausmaße an. Die Ermittlungen führen bis in lokalpolitische Kreise. Sogar die russische Mafia und der Bremer Verfassungsschutz scheinen eine tragende Rolle zu spielen. Schnell wird Mechthild Kayser klar: Wenn sie diesen Fall lösen will, kann sie sich nur auf sich selbst und ihre Instinkte verlassen – denn trauen kann sie niemandem mehr …

Ein spannender und intelligenter Krimi über Politik und Macht, der eine Brücke schlägt zwischen den revolutionären Zeiten der achtziger Jahre und dem heutigen Bremen.

Frühjahr 1985

„Das ist hier kein pseudodemokratisches Gremium! Wir tragen die Verantwortung dafür, dass die Brigaden so zusammengestellt werden, dass sie vor Ort ihre Arbeit im Sinne der internationalen Solidarität erfolgreich durchführen können. Wir kennen die Verhältnisse vor Ort. Ihr nicht! Deshalb treffen wir die Entscheidung, wer fährt und wer nicht!“

Mit diesen markigen Worten beendete Thomas M. von seinem Podest aus eine gerade aufkeimende Diskussion. Die beiden Männer und die Frau, die neben ihm saßen, nickten zustimmend.

Ein Raunen ging durch den Raum. Autoritäres Gehabe war allen Anwesenden ein Gräuel. Viele der Frauen und Männer im Saal des alternativen Kulturzentrums im Hamburger Schanzenviertel hatten schon eine Reihe negativer Erfahrungen mit den sogenannten Autoritäten in Deutschland gemacht. Sie hatten schon immer und bei vielen Gelegenheiten grunddemokratische Strukturen in der politischen Auseinandersetzung in Deutschland eingefordert. Blinde Unterordnung war ihnen zuwider. Sie waren daran gewöhnt, dass Entscheidungen begründet und diskutiert wurden.

„Die Betroffenen an der Diskussion zu beteiligen, würde eine objektive Entscheidung im Sinne der Sache verhindern“, fuhr Thomas M. fort und wurde wieder ruhiger. „Darum haben wir uns entschlossen, eine demokratische Entscheidung nur in unserem Gremium herbeizuführen. So wird es auch von der Sandinistischen Befreiungsfront erwartet, um zu verhindern, dass über uns Konterrevolutionäre ins Land geschleust werden. Das habt ihr zu akzeptieren!“

Christian Dunker saß inmitten der Zuhörer und hatte nicht geraunt. Er fühlte sich nicht in der Lage, Entscheidungen darüber zu treffen, wer der Brigade angehören sollte oder nicht. Wenn sie ihn nicht auswählen sollten, wäre das auch nicht so schlimm für ihn. Dann machte er eben in Deutschland seine Solidaritätsarbeit weiter. Vielleicht klappte es dann ja später einmal. Er würde es auf jeden Fall wieder versuchen.

Denn hier wollte er nicht bleiben. Er hoffte in Nicaragua eine neue Aufgabe für sich zu finden. Schließlich war er Lehrer. Zumindest beinahe. Denn zum Referendariat war er nicht zugelassen worden. Die Bildungsbehörde zweifelte sein Eintreten für die freiheitlich-demokratische Grundordnung an.

Er, der seit Jahren dafür gekämpft hatte, dass die Buchstaben des Grundgesetzes in die Wirklichkeit umgesetzt wurden, war plötzlich zum Staatsfeind erklärt worden. Weil die Würde des Menschen für ihn weiter reichte, als nur bis an den Rand eines Stammtisches. Nur weil ihm die Verpflichtung des Eigentums mehr bedeutete, als Fabriken zu bauen und Arbeiter zu knechten. Der Gegensatz von Kapital und Arbeit war für ihn eine Erfahrung, kein intellektuelles Geschwafel. Als die milliardenschwer mit Steuergeldern subventionierte Atomindustrie ihren gefährlichen Dreck nicht anders loswerden konnte, als ihn in einem stillgelegten Salzbergwerk unter die Menschen zu bringen, da entschloss auch er sich zum aktiven Widerstand. In der Nähe von Gorleben blockierte er damals zusammen mit Dorfbewohnern und einem Heuwagen eine Straße. Die Menschen aus dem angrenzenden Dorf hatten darauf bestanden, dass die Straßenblockade unbedingt passiv und friedlich verlaufen sollte. Das war die Bedingung für ihre Beteiligung. Sie wollten keine Gewalt. Und das wurde absolut eingehalten.

Die Polizei war sowieso eindeutig in der Übermacht. Sie hätten jeden der wenigen Demonstranten mit drei oder vier Beamten gleichzeitig wegtragen können. Aber das taten sie nicht. Als sie mit erhobenen Knüppeln johlend losstürmten, erschreckten sich die Menschen so sehr, dass sie sofort aufsprangen und davonrannten. Auch Christian Dunker wollte sich schnellstens davonmachen, aber er hielt inne, als er sah, wie neben ihm eine alte Frau aus dem Dorf hinfiel. Er wollte ihr aufhelfen, aber als die Polizisten sie erreichten, legte er sich nur noch schützend über sie. Mehrere Beamte prügelten auf ihn ein. Trotz der Schmerzen war seine größte Sorge, dass die alte Frau unter ihm ersticken könnte.

Als sie von ihm abließen, rutschte er langsam von der zitternden Frau. Jetzt war sie es, die ihm aufhelfen musste. Seine Beine schmerzten so sehr, dass er kaum laufen konnte. Ihm rann Blut übers Gesicht.

„Erst die Nazis und jetzt das!“ sagte die alte Frau und schob ihn von der Straße herunter in einen Feldweg, während mit einem lauten Krachen ein Sonderwagen der Polizei gegen den Heuanhänger fuhr und ihn von der Straße in den Graben drückte.

Dunker schreckte auf. Im Saal ging es weiter. Das kleine Zentralkomitee auf dem Podium begann die Namen derer zu verlesen, die als Brigadisten ins Kriegsgebiet nach Nicaragua entsandt werden sollten. Sein Name war dabei. Ein Gefühl der Aufregung durchfuhr seinen Magen. Jetzt wurde es wirklich ernst. Einerseits fühlte er sich durch die Auswahl seiner Person in seiner jahrelangen Arbeit für Lateinamerika bestätigt. Aber andererseits war ihm auch ein wenig mulmig bei der Sache. Er hatte keine große Ahnung von dem, was ihn erwartete. Aber jetzt stand unwiederbringlich fest: Er flog nach Nicaragua und trat in eine bewaffnete, internationale Brigade ein. Zum Kampf gegen die Contra, diese vom Westen unterstützte Söldnerarmee, die die neue nicaraguanische Revolutionsregierung niederkämpfen sollte. Und zum Schutz eines Dorfes im Grenzgebiet zu Costa Rica.

Zwei Monate später hob die Maschine der Cubana Airlines vom Flughafen in Ostberlin ab und nahm Kurs auf Havanna. Nach vielen Stunden gab es einen Zwischenstopp in Gander auf Neufundland. Dann ging es direkt in die kubanische Hauptstadt, und die Maschine rollte nach der Landung auf dem Flughafen José Marti vor den Eingang für Transitreisende.

„Bienvenido“ stand in großen Lettern über der Tür.

Es dauerte einige Zeit bis das Bodenpersonal eine Gangway ans Flugzeug geschoben hatte. Aber dann ging es hinaus in die schwüle Luft Kubas. Es war kurz nach Mittag, und eine brennende Sonne stand hoch am Himmel. Zwei uniformierte Frauen mit überdimensionierten Revolvern an der Seite geleiteten die Brigadisten in einen Wartesaal und wiesen sie an zu warten. Und so wartete Dunker mit etwa zwanzig seiner Mitbrigadisten darauf, dass es weitergehen würde. Aber es ging nicht weiter. Stunde um Stunde verstrich, und in dem nicht klimatisierten Raum wurde die Luft heiß und stickig. Ab und zu schaute ein Uniformierter herein, aber alle an ihn gerichteten Fragen beantwortete er nur mit einem langgezogenen „tranquilo, tranquilo“.

Nach fast fünf Stunden wurden sie erlöst. Sie durften den Raum verlassen und in das Flughafenrestaurant wechseln. Hier gab es eine funktionierende Klimaanlage und jede Menge Getränke. Dunkers Durst war groß. Er orderte zwei eiskalte, kubanische Colas und versuchte, gegen die in seine Nase aufsteigende Kohlensäure ankämpfend, die erste mit einem Zug zu leeren. Es gelang ihm nicht.

Irgendwann sickerte durch, dass ihr Anschlussflug in Nicaraguas Hauptstadt Managua erst am kommenden Morgen abgehen würde. Das bedeutete für alle eine lange und ungemütliche Nacht auf dem Flughafen. Ihnen wurde erklärt, dass sie das Restaurant nicht verlassen durften, und so machten sie es sich so bequem wie möglich, um zu lesen, zu quatschen oder sich auszuruhen. Dunker versuchte, es sich auf einem harten Plastiksitz mit seiner Parkajacke gemütlich zu machen und zu schlafen. Im Sitzen. Es klappte nicht. Irgendwann schliefen seine Beine ein, und er musste sich bewegen, um wieder Blut in die abgedrückten Adern zu bekommen.

Spät am Abend wurde die Deckenbeleuchtung im Restaurant ausgeschaltet, und das Personal ging nach Hause. Die Nacht draußen vor den Panoramafenstern war schwarz. Nur einige Lampen an den Wänden warfen noch mattes Licht in den Raum. Da niemand die Klimaanlage regelte, wurde es am frühen Morgen ziemlich kühl im Restaurant, und die meisten der Brigadisten begannen zu frieren. Mitten in der Karibik. Keiner hatte wärmende Kleidungsstücke im Handgepäck, denn alle waren auf Hitze eingestellt. Und auf Regen. Denn in den Bergen an Nicaraguas Grenze zu Costa Rica sollte es zu dieser Jahreszeit viel regnen.

Irgendwann morgens, bevor es hell wurde, flackerte dann die Restaurantbeleuchtung wieder auf, und nach einiger Zeit gab es frischen und sehr heißen Kaffee am Tresen des Restaurants. Langsam erschien die Sonne am Horizont, und nach kurzer Zeit hatte der Raum wieder eine angenehme Temperatur. Zu essen gab es noch nichts, da die Lieferanten noch nicht eingetroffen waren, wie eine freundliche Bedienung erklärte. Aber darauf konnten sie auch nicht mehr warten. Eine kleine, dicke Afrokubanerin in einer zu eng sitzenden Uniform war erschienen und verkündete, dass in kurzer Zeit die Maschine nach Managua bereitstehen würde und alle Brigadisten ihr folgen sollten. Sie wurden wieder in einen engen Raum gebracht, dessen einzige verglaste Seite zum Rollfeld des Flughafens zeigte. In eine der großen Glasscheiben war eine Tür eingelassen, die allerdings verschlossen war. Auch hier mussten sie noch zwei Stunden ausharren, bis endlich eine Stewardess erschien, die Tür zum Rollfeld öffnete und nach der Sichtkontrolle der Tickets alle Brigadisten in einen alten Bus verfrachtete, der sie zu ihrer Maschine brachte.

 

Es war eine kleine Maschine der Cubana Airlines, aber dennoch so groß, dass es sich jeder der Brigadisten auf mehreren Sitzen bequem machen konnte. Denn weitere Mitreisende gab es nicht. Sie waren mit ihrer Brigade allein an Bord.

Der Flug sollte nicht lange dauern, aber die Zeit reichte, um allen noch ein Frühstück zu servieren. Dann gab der Flugkapitän bekannt, dass sie in den Landeanflug auf Nicaraguas Hauptstadt eintreten würden. Alle schnallten sich wieder an, und die, die einen Fensterplatz hatten, und das waren eigentlich alle, blickten nach draußen, gespannt, wie dieses Land, das sich in einem mörderischen Befreiungskampf von der schrecklichen Diktatur des amerikafreundlichen Präsidenten Somoza befreit hatte, eigentlich aussehen würde. Sie erblickten den Beginn des Festlandes. Breite Zonen trockenen Bodens zeigten sich. Vereinzelt unterbrochen durch kleine Dörfer, die von erschlossenen Feldern umgeben waren. Dann überflogen sie Managua, bevor sie mit einer weiten Kurve in die Richtung des außerhalb liegenden Flughafens abbogen.

Managua wirkte von oben wie eine zerstörte Stadt nach länger zurückliegenden, schweren Bombenangriffen. Überall waren große, freie Flächen, die auf den ersten Blick wie Grünzonen aussahen, auf den zweiten aber zeigten, dass es mitten in der Stadt befindliche Brachflächen waren. Es handelte sich nicht um Zeugnisse der zurückliegenden Befreiungskämpfe; vielmehr waren es die Resultate des großen Erdbebens von 1972, als große Teile der Hauptstadt zerstört worden waren. Obwohl es anschließend eine internationale Finanzhilfe für den Wiederaufbau gegeben hatte, erreichte dieses Geld nie seinen Bestimmungszweck. Vielmehr soll es sich der Diktator Somoza einfach in die eigene Tasche gesteckt haben. Beim Anflug auf die Landebahn konnte man rund um den Flughafen diverse Stellungen zur Flugabwehr entdecken. Und überall waren Soldaten postiert.

Nachdem das Flugzeug in seiner Halteposition angekommen war, gab der Pilot die aktuelle Zeit und die herrschenden Temperaturen durch und vergaß auch nicht darauf hinzuweisen, dass das Photographieren des Flughafens und insbesondere der militärischen Einrichtungen strengstens untersagt wäre.

Die Passkontrolle ging überraschend schnell voran. Auch das Gepäck erhielt jeder Brigadist prompt und ohne weitere Kontrollen. Das lag nicht an der laschen Überprüfungsmentalität der Nicaraguaner, sondern an der gut funktionierenden Zusammenarbeit der Behörden und Geheimdienste in Nicaragua und auf Kuba. Während ihrer langen Wartezeit in Havanna tauschten die Offiziellen und die weniger Offiziellen die Daten der Brigadisten untereinander aus, suchten auf Computern und in Karteien und fertigten ihre Notizen an. Auch das gesamte Gepäck der Brigade wurde in Havanna inspiziert und ordnungsgemäß wieder verschlossen.

Vor dem Flughafen wartete Renate, eine deutsche Genossin aus dem nicaraguanischen Koordinierungsbüro für internationale Brigaden, und eine camionetta, ein kleiner Lkw mit offener Pritsche. Renate erklärte, dass die Gruppe nun erst mal ihre Unterkunft in Managua beziehen würde, bevor es weitergehen könnte an ihren Bestimmungsort in den Bergen. Die Abfahrt wurde um zwei Tage verschoben, damit die Brigade die Gelegenheit erhielt, am nächsten Tag an den Feierlichkeiten zum Nationalfeiertag teilzunehmen, dem 19. Juli, dem Tag, als im Jahr 1979 die Sandinisten die Regierung übernahmen, nachdem der Diktator Somoza fünf Tage vorher geflüchtet war. Natürlich nicht ohne die Staatskasse mitzunehmen.

Gutgelaunt und ein bisschen aufgeregt verluden die Brigadisten ihr Gepäck auf den Wagen. Dann stiegen sie selbst hinten auf, und wenig später ging es los. Es war heiß, weit über dreißig Grad Celsius, und der Fahrtwind auf der Ladefläche eine willkommene Erfrischung.

Sie fuhren durch heruntergekommene Vororte, vorbei an maroden Fabriken und Siedlungen aus einfachen Holzhütten. Kleine Gewerbebetriebe tauchten am Straßenrand auf.

An fast allen Hauswänden prangten Parolen der FSLN, der Nationalen Befreiungsfront Nicaraguas. „Patria libre o morir“ war am häufigsten zu lesen. Daneben „Nicaragua victoriosa, ni se vende, ni se rinde“ und „Aqui, allá, el Yanque morirá“.

Das gefiel den meisten Brigadisten. Revolutionäre Parolen überall, für die sie zu Hause gleich als verdächtig eingestuft wurden.

Sie erreichten die Innenstadt von Managua. Die Straßen waren abseits der Hauptachsen in einem schlechten Zustand. Nicht nur einmal musste der Lkw langsam über abgesackte Fahrbahnteile oder um Stellen mit fehlenden Kanaldeckeln herum rangieren.

In einer kurzen Nebenstraße erreichten sie ihr vorläufiges Domizil. Ein einstöckiges, kleines Haus mit vertrocknetem Vorgarten und einem schmiedeeisernen Gitter vor einer Art Garage, dem größten Raum des Gebäudes. Renate erklärte, dass das Haus der Befreiungsfront in El Salvador gehören würde und sie es den Brigadisten in internationaler Solidarität zur Verfügung stellen würden. Möbel gab es so gut wie keine im Haus. Lediglich in der Küche befand sich ein Tisch mit ein paar Stühlen. Aber es gab ein Klo und eine kleine Dusche.

Renate hatte ein paar auf schlechtem Papier gedruckte Stadtpläne Managuas verteilt und markierte die Straße, in der sie wohnten. Lediglich die Hauptstraßen und einige besondere Orte waren darauf ausgewiesen. Die kleinen Straßen hatten keine Namen. Man orientierte sich am besten durch einfaches Abzählen von einem Fixpunkt aus in eine der vier Himmelsrichtungen. Entweder von einer der Hauptstraßen ausgehend oder aber von dem im Norden Managuas gelegenen Lago de Managua, dem zweitgrößten Binnensee des Landes. Relativ einfach war es auch, sich mit den Bussen in der Stadt zu bewegen. Sie hielten in der Regel auf ein Zeichen hin überall an. Man bezahlte nur ein paar Cordobas und konnte dann so lange fahren wie man wollte. Bei jedem Umsteigen musste neu gezahlt werden.

Dunker und zwei weitere Brigadisten machten sich am Nachmittag auf den Weg, um für die Gruppe Lebensmittel einzukaufen. Mit großer Aufmerksamkeit bewegten sie sich durch die Straßen dieser für sie völlig fremden Stadt und ungewohnten Atmosphäre. Zwischen oder direkt in den überwucherten Trümmerfeldern standen vereinzelt kleine Häuser. Eidechsen huschten bei ihrem Herannahen unter Geröllhaufen. Einige Männer gingen mit einem Jutesack in der Hand gebückt durch die Brachflächen. Sie sammelten giftige Schlangen ein, die sich hier unter diesen günstigen Bedingungen rapide vermehrten und eine Gefahr für die Bevölkerung darstellten. Dunker dachte bei diesem Anblick mit Sorge an das schmiedeeiserne Tor vor ihrer Schlafstätte, das Schlangen nicht aufhalten konnte.

An der Pista de la Resistencia fanden sie endlich einen supermercado.

Eigentlich sah er so aus wie jeder Supermarkt auf der Welt. Ein großer Parkplatz, ein eingeschossiger Betonklotz und Einkaufswagen vor dem Haupteingang. Aber die gähnende Leere auf dem Parkplatz, die fehlende Farbe und der bröckelnde Putz an den Wänden wiesen auf eine Mangelwirtschaft hin. Alle Einkaufswagen waren verrostet.

Nach ihrem Eintreten in den Markt waren die Brigadisten umso mehr überrascht, wie vielfältig das Warenangebot war. Es gab im Prinzip alles, was man zum Leben brauchte. Brot, Milch, Gemüse, Fleisch. Alles war reichlich vorhanden. Und die Preise waren so niedrig, dass auch jeder Nicaraguaner hier alles kaufen konnte, was er benötigte.

Die drei kauften Brot, Obst, Mineralwasser und Kaffee. Dazu noch ein paar Flaschen „Flor de Caña“, den nicaraguanischen Rum, den es in drei Qualitäten gab und der eine Auszeichnung durch die DDR erhalten hatte, wie man einer auf der Flasche klebenden Plakette entnehmen konnte.

Mit ihren Einkäufen bepackt, schlenderten sie zurück in ihr Haus. Sie verstauten die Lebensmittel in einem Schrank in der Küche und entschlossen sich dazu, das „Sarah’s“ aufzusuchen.

Das Sarah’s war ein kleines Lokal in der Innenstadt, unweit der Plaza España, in dem sich die internationalen Brigadisten trafen. Fälschlicherweise wurde es von einigen als das Migrantencafé bezeichnet. Falsch, weil die wenigsten Brigadisten in Nicaragua bleiben wollten. Trotzdem hatte es dieses Flair. Vor einem kleinen, heruntergekommenen Steinhaus war eine große, auf Holzstützen ruhende Wellblechüberdachung angebracht worden. Eine Terrasse also, auf der sich unterschiedlichste Holzstühle und Tische befanden. Zusammengesucht eben.

Als die drei das Sarah’s erreichten, war es bereits gut besucht. Nicaraguaner waren bis auf die Bedienungen nicht da. Die drei nahmen an einem Tisch Platz und bestellten Bier. Von allen Seiten schlugen ihnen Wortfetzen der unterschiedlichsten Sprachen entgegen. Hauptsächlich europäische Sprachen: Deutsche, Skandinavier, Engländer, Franzosen, aber auch eine Gruppe amerikanischer Aktivisten unterhielten sich hier.

Als die Bedienung die Bierflaschen auf den Tisch stellte, versuchte sie den dreien etwas auf Spanisch zu erklären, was sie aber nicht verstanden. Von einem anderen Tisch kam die Übersetzung. Ein großer, blonder Skandinavier erklärte ihnen, dass ab 18.00 Uhr kein Bier mehr ausgeschenkt werden dürfe. Wegen des morgigen Nationalfeiertags. Warum das so wäre, konnte er nicht genau erklären. Er mutmaßte, dass man entweder verhindern wollte, dass alle Nicas morgen zu besoffen sein könnten, um an den Feierlichkeiten teilzunehmen, oder die Regierung verhindern wollte, dass gerade am Nationalfeiertag ein Engpass beim Bierverkauf entstehen könnte. Dunker schaute auf seine Uhr. Es war kurz nach fünf. Allzu viele Biere könnten sie sich nicht einverleiben. Aber vom Nebentisch kam sogleich die rettende Botschaft: Nach nicaraguanischem Recht könne alles, was um sechs Uhr auf dem Tisch steht, noch ausgetrunken werden. Also brauchte man nur kurz vorher noch eine entsprechend große Menge zu ordern. Lediglich die Hitze würde dem kalten Bier auf Dauer nicht bekommen.

So beruhigt stießen die drei an. Schwitzwasser perlte in großen Tropfen die Flaschen hinunter, und nach der nächsten Runde hatte sich schon ein kleiner See auf dem wackeligen Tisch gebildet.

Es war halb sechs geworden, als sich plötzlich der Himmel verdunkelte. Innerhalb kürzester Zeit war alles grau geworden, die Sonne verschwunden, und mit einem Mal ergossen sich enorme Wassermassen aus den Wolken auf die Straße. Unmengen dicker Tropfen prasselten auf das Wellblechdach der Terrasse. So laut, dass man sich kaum noch unterhalten konnte. Genau über ihrem Tisch hatte das Dach ein Leck, und so rückten sie mit Tisch und Stühlen an eine andere Stelle. Von oben blieb es jetzt zwar trocken, aber unter ihnen weichte der lehmige Boden auf. Auf der Straße waren wahre Bäche entstanden. Jetzt erklärte sich auch, warum die Bordsteine vor den Gehwegen so hoch waren. Sie verhinderten das Überschwappen der Wassermassen in die Häuser.

Dunker war froh, jetzt einigermaßen geschützt im Sarah’s zu sitzen. Es war immer noch sehr warm und er stellte fest, dass es ein überaus beruhigendes Gefühl war, von hier aus den dicken Regentropfen zuzuschauen. Nach einer halben Stunde war alles vorbei. Wie jeden Tag im Sommer in Managua. Der Regen kam gegen sechs, heftig und massig, und hörte dann schlagartig wieder auf. Und wenige Zeit später war durch die wiedererschienene Sonne schon so viel Wasser verdunstet, dass man glauben konnte, es hätte nie geregnet. Fast hätten die drei vergessen, noch schnell mehrere Flaschen Bier zu bestellen. Die Sperrzeit stand bevor. Aber die Bestellungen an den anderen Tischen erinnerten sie rechtzeitig an das nahende Ende der Ausschankzeit.

Zwei Stunden später waren sie dann wieder zurück in ihrem Haus. Gerade rechtzeitig, denn Renate wollte sich just mit den anderen Brigadisten auf den Weg zur „Barricada“ machen. Die Barricada war eine Zeitung und das agitatorische Sprachrohr der sandinistischen Regierung. Sie erschien täglich und berichtete über die Errungenschaften der Revolution. Und die gab es unbestritten: kostenlose ärztliche Versorgung für jedermann, Bildungsmöglichkeiten für alle, eine Landreform, die kleinen Bauern endlich zu eigenem Boden verholfen hatte. Viele von ihnen hatten sich zu Kooperativen zusammengeschlossen und erhielten staatliche Hilfe, um große Maschinen gemeinsam kaufen zu können. Es gab Mindestlöhne für die Arbeiter, die ihnen einen menschengerechten Lebensstandard verschafften.

 

Auf der anderen Seite wurde aber auch viel über die immer noch anhaltenden Kämpfe der Regierung mit den von den USA finanzierten Contras berichtet. Gerade in den schwer zugänglichen Grenzgebieten zu Honduras und Costa Rica verübten sie Überfälle auf die dortigen Dörfer und Kooperativen und massakrierten die Bevölkerung. Ihr Ziel war es, hauptsächlich Lehrer, Ärzte, Ingenieure und Techniker zu töten, die der Bevölkerung beim Aufbau eines neuen Wirtschaftssystems halfen. Genau in ein solches Grenzdorf sollte die weitere Reise der Brigadisten gehen.

Das Photographieren war auch in den Räumen der Barricada verboten. Die Brigade sprach mit den Redakteuren und den Druckern. Sie besichtigten die Druckerei, in der auf ausrangierten Druckmaschinen aus der DDR die Zeitung hergestellt wurde. Da Nicaraguas einzige Papierfabrik nur Toilettenpapier und Servietten herstellen konnte, wurde das Zeitungspapier für die Barricada aus der Sowjetunion eingeführt. Die Setzer arbeiteten mit einem EDV-unterstützten System, das noch aus der Somoza-Zeit stammte und amerikanischen Ursprungs war. Da die USA ein Handelsembargo gegenüber Nicaragua verhängt hatten, war die Ersatzteilbeschaffung für diese Technik vollkommen von der Solidaritätsbewegung in den Vereinigten Staaten abhängig. Gleiche Schwierigkeiten gab es auch mit der Bearbeitung von Photos. Alle hierzu vorhandenen technischen Geräte waren auf ein System von Kodak ausgerichtet. Und zu allen Problemen kam noch hinzu, dass die noch vorhandenen US-Chemikalien nicht gut mit dem neuen Photopapier aus der UdSSR korrespondierten.

Die Barricada wurde mit etwa zwanzig Seiten täglich ausgegeben und kostete lediglich fünf Cordobas. Begründet mit der Erklärung des nationalen Notstandes als Folge der US-amerikanischen Interventionspolitik unterlag sie wie alle Zeitungen des Landes einer Zensur. Zensiert wurden Berichte über die Sicherheitslage und die Militärberichterstattung. Konterrevolutionäre Agitation war verboten. Trotzdem gab es sie. Zum Beispiel in der konservativen „Prensa“, einer anderen Zeitung in Managua, die keine Gelegenheit ausließ, die sandinistische Regierung subtil und in suggestiver Art und Weise zu kritisieren. So wurde immer wieder in Kreuzworträtseln des Blattes nach dem Namen des Mannes gefragt, der als Präsident Nicaraguas vor den sandinistischen Diktatoren flüchten musste. Verboten worden war sie deshalb bislang noch nicht.

Einige Brigadisten kritisierten die Redakteure dafür, dass sie sehr viel agitierten und wenig informierten. Der Chefredakteur gab das ohne Ausflüchte zu. Seiner Meinung nach machte das die derzeitige Bedrohung durch die USA erforderlich. Und früher wäre das anders gewesen, behauptete er. Einige sprachkundige Brigadisten ließen sich alte Zeitungen vorlegen und stellten fest, dass das zutraf. Die revolutionäre Diskussion geschah früher viel öffentlicher und unter Berücksichtigung verschiedener Strömungen. Bürger konnten ihre Fragen stellen, und die Verantwortlichen hatten prompt in der Barricada zu antworten. So wollten einige Lehrer aus Matagalpa wissen, warum ihre Gehälter immer verspätet kamen. Der zuständige Minister hatte ihnen gegenüber persönlich dazu Stellung genommen.

Der Vizedirektor der Barricada, Renaldo Reíz, verteidigte weiter die Agitation seiner Zeitung. Er betonte, dass andere Parteien in Nicaragua nicht verboten seien und die konservative Partei über ihre Zeitung Prensa ständig gegen die Regierung arbeite und sogar die kommunistische MAP-ML, die an der Seite der Sandinisten gegen Somoza gekämpft hatte, heute harte Kritik an der Regierung verübe, da sie ihr zu bürgerlich erschien. Trotzdem würde die Regierung an ihrem Kurs festhalten und Nicaragua in eine demokratische Struktur führen wollen. Jede der Parteien, die sich an Wahlen beteiligt hatte, säße mit Vertretern in der verfassungsgebenden Versammlung, die in den kommenden zwei Jahren eine neue Verfassung ausarbeiten sollte.

Dunker kamen diese Erklärungen nicht schlüssig vor. Sie waren in seinen Augen halbherzig. Wenn das Volk Nicaraguas es schon geschafft hatte, die schreckliche Diktatur siegreich zu beseitigen, dann durfte es während der Umgestaltung der Gesellschaft ihren Feinden keinen Raum geben. Es leuchtete ihm nicht ein, dass somozatreue Gegner des neuen Nicaragua ziemlich unbehelligt gegen die Regierung und damit gegen die Interessen des Volkes agitieren durften.

Er scheute sich aber, seine Haltung konsequent zu Ende zu denken. Ein aufkommendes Gefühl von Demokratiefeindlichkeit hielt ihn ab.

In der kommenden Nacht wurden die Brigadisten von Schüssen und Gewehrsalven in der Stadt aus dem Schlaf gerissen. Erschreckt zogen sich die meisten in die hintere Ecke der Garage zurück. Einige Mutige gingen vorsichtig vor das Haus auf die Straße. Immer wieder waren Schüsse zu hören, aber zu sehen war nichts. Es dauerte einige Zeit und Beratschlagung, wie man sich verhalten sollte, aber letztendlich war es der Hinweis eines herbeigeeilten Nachbarn, der sie beruhigte, als er erklärte, dass es sich nur um Freudensalven anlässlich des soeben begonnenen Nationalfeiertags handele, also keine Kämpfe in der Stadt stattfanden. So ganz konnte das die Brigadisten nicht beruhigen: Wild umherfliegende Geschosse von angetrunkenen Soldaten waren für sie ungewöhnlich und sehr beängstigend. Aber sie versuchten dennoch wieder einzuschlafen. Denn in wenigen Stunden wollten sie schon wieder aufstehen. Um fünf hatten sie sich mit anderen Internationalisten auf der Plaza España verabredet, von wo aus sie geschlossen zum Platz der Revolution marschieren wollten, auf dem die zentrale Kundgebung anlässlich des Nationalfeiertags stattfinden sollte. Und dort sollte auch Präsident Ortega eine Rede halten.

Dunker schätzte, dass sie bis zu tausend Brigadisten waren, die jetzt den Platz der Revolution erreichten. Alle Hauptstraßen waren mit rot-weißen Fahnen geschmückt. Militär und Polizei patrouillierten. Die Photoapparate der Brigadisten wurden überprüft, um auszuschließen, dass es sich um getarnte Schussapparate handelte.

Nach und nach füllte sich der Platz. An die fünfhunderttausend Menschen sollen es gewesen sein, wie der Eröffnungsredner in seiner Begrüßung sagte. Es wurde viel Musik gespielt, Märsche und Kampflieder. Die Brigaden aus den einzelnen Ländern wurden ebenso wie die internationalen Gäste begrüßt. Es war kochendheiß auf dem Platz, und die Luft wurde knapp. Vereinzelt waren schon einige Demonstranten ohnmächtig geworden und mussten aus der Menge abtransportiert werden. Und dann kam er endlich. Der, auf den alle gewartet hatten: der Präsident Nicaraguas, Daniel Ortega. Dunker verstand nicht viel von dem, was der Präsident sagte. Dazu reichten seine Spanischkenntnisse nicht aus. Aber er verstand, dass Ortega die Hetzkampagnen der USA gegen sein Land verurteilte. Und Ortega betonte, dass das revolutionäre Nicaragua keine internationalen Terroristen ausbilden würde, wie behauptet wurde.

Obwohl Ortega in der Uniform der Revolutionäre auftrat, hatte er bei weitem nicht die Ausstrahlung und das Charisma eines Fidel Castro. Er wirkte eher nüchtern und technokratisch. Darüber täuschten auch seine laut geschrienen, politischen Parolen nicht hinweg, aber das hier versammelte Volk jubelte ihm zu. Es war ein sehr junges Volk, das sich hier auf dem Platz der Revolution versammelt hatte. Über die Hälfte der Bevölkerung Nicaraguas war unter sechzehn Jahre alt. Diese jungen Leute erhofften sich eine bessere und gerechtere Zukunft von ihrem Präsidenten. Einen anderen hatten sie nicht, der sich auf ihre Seite gestellt hatte. Die Menschen waren zum ersten Mal verantwortlich eingebunden in ihre Gesellschaft. Sie kümmerten sich in ihren barrios, den Stadtteilen Managuas, um Hygiene und Gesundheitsvorsorge, um Bildung und die Bekämpfung von Kriminalität. Und in den Komitees zur Verteidigung der Revolution traten sie für den Erhalt ihres Einflusses ein. Hier war Jugend überall ernsthaft beteiligt und vertreten. Hier konnten sie mitwirken bei der Realisierung einer neuen und gerechteren Welt. Ganz anders als zu Hause in Deutschland, dachte sich Dunker, mit dem seiner Meinung nach elenden System der Volksvertreter, die sich immer weiter von diesem entfernten.