Für immer mein

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Als Mechthild auf dem Innenhof des Polizeihauses in ihren Dienst-Mercedes einstieg, hatte Ayse gerade das mobile Blaulicht mit dem Magnetfuß am Wagendach festgeklickt. Sie fuhr in zügiger Fahrt mit eingeschaltetem Blaulicht von der Buchtstraße links über die Straßenbahnschienen und versuchte so den Weg in die Neustadt abzukürzen. Mechthild hatte währenddessen ihr Funkgerät eingeschaltet und ihre Einsatzfahrt der Zentrale gemeldet. Ayse legte ein rasantes Tempo vor, und obwohl Mechthild wusste, dass ihre Freundin ein Auto wie ein Rallyemeister beherrschen konnte, war es ihr doch etwas zu riskant, so zu brausen.

„Ayse, bitte etwas langsamer! Wir wollen heil ankommen. Die Leiche kann uns nicht mehr weglaufen!“

Ayse reduzierte wie befohlen das Tempo und kam trotzdem überraschend gut durch den Verkehr. Sie überquerten die Weser auf der Wilhelm-Kaisen-Brücke und gelangten in die Friedrich-Ebert-Straße. Dann passierten sie bei roter Ampel vorsichtig die vielbefahrene Neuenlander Straße. Ein innerstädtisches Hinweisschild zeigte nach links in Richtung Flughafen. Rechts ab ging es hier zur Richard-Dunkel-Straße.

Ayse schaltete das Blaulicht aus. Beide Frauen hielten Ausschau nach Hausnummern an den größtenteils leerstehenden Gebäuden dieser ehemaligen Gewerbeansiedlung. So wie Siemer & Behrendt waren hier auch andere Betriebe weggezogen, und weitere Hallen moderten vor sich hin. Ayse kannte die Gegend. Sie hatte sich im zurückliegenden Herbst von einem Gotcha-Club überreden lassen, auf dieser Industriebrache an einem Häuserkampf teilzunehmen. Das war zwar nicht erlaubt, aber Spaß gemacht hatte es ihr trotzdem. Die vielen bunten Farbkleckse an den Wänden der Hallen zeugten noch davon.

„10a muss weiter hinten von der Straße weg liegen“, erinnerte Mechthild ihre Fahrerin. Langsam bewegten sie sich weiter vorwärts, und dann sahen sie etwa zweihundert Meter entfernt ein Blaulicht blitzen.

Ayse bog ab auf einen welligen, asphaltierten Weg, der zu beiden Seiten von Maschendrahtzaun begrenzt wurde. Ein Eingangstor hatte es mal gegeben, aber an den verrosteten Türangeln konnte man erkennen, dass es schon lange fehlte. Sie fuhren an einer ehemals weißen Halle vorüber, deren Putz an vielen Stellen von den Wänden gebrochen war und rote Backsteine zum Vorschein kommen ließ. Scheiben befanden sich nicht mehr in den Fenstern. Der Weg machte jetzt eine Rechtskurve, und sie gelangten auf einen grasüberwucherten Vorplatz, der mal als Parkplatz gedient haben musste. Ein Blechschild auf einem abgebrochenen Balken wies früher einmal den Stellplatz für die Geschäftsleitung aus. Vor der hier befindlichen Halle waren mehrere Einsatzfahrzeuge der Polizei abgestellt. Neben einem geöffneten Rolltor stand ein weißer Lkw mit heruntergelassener Hebebühne.

Als erstes dirigierte Mechthild Kayser einen Schutzpolizisten an die Straße, um die nachfolgenden Kräfte in die richtige Einfahrt zu weisen.

Ein uniformierter Polizeihauptkommissar, der bis zu ihrem Eintreffen den Einsatz am Tatort geleitet hatte, erstattete ihr seinen Bericht und fragte, ob er für weitere Unterstützung vor Ort bleiben sollte. Aus Erfahrung wusste Mechthild, dass verfügbare Kräfte nicht so schnell entlassen werden sollten. Wenn man sie nach geraumer Zeit gleich wieder anfordern musste, galt man als unfähig. Sie bat den Polizeihauptkommissar, der sich nun als Leo Jettner vorstellte und stellvertretender Leiter des Neustädter Polizeireviers war, mit seinen Leuten zu bleiben. Dann wollte sie sich den Fundort der Leiche ansehen.

Zuerst zeigte sie sich sehr verärgert darüber, dass Jettner die Absperrung um den Tatort auf die unmittelbare Umzäunung des Loches im Boden und den darin hängenden Tresen reduziert hatte. Aber nachdem er erklärt hatte, dass hier unmittelbar zuvor über tausend junge Leute gefeiert hatten und auch die Umgebung der Halle mit Dutzenden von Autos befahren worden war, nahm sie ihre Kritik zurück. Sehr zur Freude von Jettner übernahm nun die attraktive Ayse die weiteren Gespräche mit ihm.

Mechthild Kayser hatte aus dem Kofferraum ihres Mercedes ein Diktiergerät und eine starke Lampe mitgenommen. Als sie in die Halle trat, sprach sie eine kurze Beschreibung der Umgebung auf das Band, hielt den Weg vom Rolltor bis zum Loch im Boden fest und nickte dabei ernst den umstehenden Polizisten und anwesenden Zivilisten zu.

Sie trat an die Öffnung im Boden und leuchtete hinein. Alles, was sie sah und entdeckte, wurde von ihr verbal auf dem Diktiergerät festgehalten. Der Hohlraum unter dem Boden war mit Brettern und darauf einer dünnen Schicht Estrich verschlossen worden. Die Öffnung war rechteckig, circa 1,30 Meter breit und 2,50 Meter lang. Die Tiefe schätzte Mechthild auf etwas mehr als einen Meter. Am Boden liegend war ein Sack aus transparenter Folie zu erkennen, darin liegend eine bekleidete weibliche Leiche. Nach erstem Eindruck vollständig.

Mechthild drückte die Stopptaste des Diktiergerätes. Sie ging noch weiter in die Knie und senkte ihren Kopf in die vorhandene Öffnung. Im Schein der Lampe sah sie das Gesicht der toten Frau. Sie hatte blonde Haare und auffällig war − neben ihren aufgerissenen Augen −, dass die Verwesung noch nicht oder nur in geringem Ausmaß eingesetzt hatte. Verwesungsgeruch war nicht wahrnehmbar. Soweit Mechthild das beurteilen konnte, lag die Tote noch nicht lange hier.

Als KHK Roder mit dem Erkennungsdienst eintraf, richtete sich Mechthild Kayser auf und ging zur Seite. Nun mussten erst einmal die Spezialisten der Spurensicherung ran. Zufrieden registrierte sie, dass auch der leitende Gerichtsmediziner erschienen war.

Obwohl die Frau im Sack zweifellos tot war, war die Ausstellung eines Totenscheins mit der amtlichen Feststellung des Exitus durch einen Arzt zwingend erforderlich. Häufig waren damit eilig herbeigerufene Hausärzte oder völlig überforderte und unerfahrene Notärzte betraut. Sehr oft kam es vor, dass sie unbedacht vorgingen und wichtige Spuren zerstörten, verfälschten oder neue legten. Oder sie attestierten vorschnell einen natürlichen Tod oder einen tödlich verlaufenden Unfall. Während ihrer Ausbildung hatte Mechthild selber einmal erlebt, wie ein Notarzt einem aufgefundenen Toten in der Alexanderstraße einen Tod durch Treppensturz attestierte und später die Transporteure einer Bestattungsfirma hilfesuchend auf eine Wunde am Hinterkopf hinwiesen, die sich anschließend als Einschussloch herausstellte.

Aber jetzt war Prof. Dr. von Sülzen da. Der Pathologe und Gerichtsmediziner genoss bei der Bremer Polizei hohes Ansehen, das er sich mit genauesten und intensivsten Untersuchungen von Todesfällen erworben hatte. Zudem war er in keiner Weise abgehoben oder einem Standesdünkel verfallen, sondern gab den mit ihm zusammenarbeitenden Ermittlern das Gefühl, eine gemeinsame Jagd auf den Täter zu unternehmen. Sein kollegiales Auftreten wurde sehr geschätzt.

Wenn es für eine Ermittlung nötig war, verzichtete von Sülzen auf seine Freizeit, und Kraft seiner Autorität und seines Ansehens konnte er es sich erlauben, so manche hinderliche Dienstanweisung beizeiten zu ignorieren, um eine Untersuchung voranzubringen. Sehr zur Freude der bei solchen Ermittlungen enorm unter Druck stehenden Mordkommission.

Sorgsam und mit Bedacht arbeiteten sich Gerichtsmediziner und Erkennungsdienst an die Leiche heran. Zuerst wurde der große Tresen aus seiner misslichen Lage befreit und dann die Grube vollständig freigelegt. Sie war eindeutig nicht nachträglich angelegt worden. Bohrlöcher und Reste von eisernen Halterungen wiesen darauf hin, dass hier wahrscheinlich einmal eine Hebebühne der Maschinenfabrik eingelassen gewesen war.

Mechthild winkte Ayse zu sich. Sie sollte den Partyveranstalter genauestens befragen, wann er die Halle zum ersten Mal besichtigt hatte und ob die Grube dann schon verschlossen war. Im gleichen Moment schoss es ihr durch den Kopf, dass es nicht das erste Mal wäre, dass ein Mörder vorgab, sein eigenes Opfer zufällig gefunden zu haben, um den Verdacht von sich abzulenken. Auch darauf solle Ayse achten.

Dann brauchten sie noch den Immobilienmakler, der die Halle vermietet hatte. Roder sollte sich darum kümmern und versuchen, KK Heller über Funk zu erreichen, damit sich dieser gleich den Makler vornehmen konnte. Den verschwundenen Rentner sollte er erst einmal ausblenden.

Mechthild hoffte, auf diese Weise die Tatzeit enger eingrenzen zu können. Zumindest den Zeitpunkt, wann die Leiche hier abgelegt worden war.

Nach unzähligen Photos durch den Erkennungsdienst stieg von Sülzen in die Grube hinab. Mechthild Kayser und Kurt Roder traten an den Rand, nachdem sie sich bei den Beamten der Spurensicherung vergewissert hatten, ihre Arbeit damit nicht zu stören.

Von Sülzen sah in seinem weißen Overall mit den Schuhüberziehern und der Haube auf dem Kopf wie ein Vorarbeiter einer Großbäckerei aus, der gerade einen neuen Mehlsack mit einem Messer öffnen wollte. Aber nachdem er das relativ dicke Plastik des Sackes vorsichtig aufgeschlitzt hatte, ließ der ausströmende, leicht süßliche Leichengeruch dieses Bild sofort verblassen.

„Ein Vakuum!“ bemerkte von Sülzen. „Im Sack herrschte ein leichter Unterdruck. Man konnte es beim Öffnen hören.“

Eingeschweißt, dachte Mechthild. Wie bei einem Stück Fleisch im Gefrierschrank.

Von Sülzen stand nun einige Minuten über der Leiche und war offensichtlich am Nachdenken. „Gut! Soweit erst mal hier“, brach er sein andächtiges Schweigen und kündigte damit plötzlich das Ende seiner Arbeit am Tatort an. Er schob breite Kunststoffbänder unter den Sack mit der Leiche. Dann schloss er sie über ihm mit Ringen zusammen, und mit Hilfe der ED-Beamten wurde die Tote aus der Grube geborgen. Vorsichtig wurde sie in einen bereitstehenden weißen Kunststoffbehälter gelegt und dieser mit einem Deckel verschlossen. Zwei Mitarbeiter einer Transportfirma trugen den Behälter zu ihrem Fahrzeug.

 

Von Sülzen stieg aus der Grube und versprach Mechthild Kayser, noch heute mit der weiteren Untersuchung der Leiche fortzufahren.

„Und jetzt können Sie noch nichts sagen?“ fragte Mechthild erstaunt.

„Tut mir leid“, antwortete der Gerichtsmediziner. „Alles ein bisschen merkwürdig.“ Dann wandte er sich um und ging. Auf dem Weg zu seinem Fahrzeug entledigte er sich geübt der Schutzkleidung und verstaute sie in einem Beutel, bevor er losfuhr.

Mechthild blickte ihm fragend nach. Es gab natürlich auch ohne weitere Auskünfte des Gerichtsmediziners genug zu tun. KHK Roder erhielt von seiner Chefin den Auftrag, der Leichenöffnung als polizeilicher Zeuge beizuwohnen. Mechthild gab Ayse ein Zeichen, dass sie Roder den Schlüssel für ihren Dienstwagen geben sollte, und wies Roder weiter an, über die ersten verwertbaren Erkenntnisse noch heute auf einer Dienstbesprechung zu berichten.

Roder nickte wortkarg wie immer und machte sich auf den Weg zum Mercedes, blieb abrupt stehen und wandte sich Mechthild noch einmal zu. „Heller habe ich erreicht und instruiert. Er kommt anschließend, wenn er mit dem Makler gesprochen hat, hierher, um Sie und Ayse ins Präsidium zu fahren.“ Dann ging er eilig davon.

„Danke, Roder!“ rief ihm Mechthild noch hinterher. Er hat einen guten Überblick über die Abläufe, dachte sie. Und weiß immer, was wann zu tun ist. Wenn er nur nicht so mürrisch wäre, hätte man einen phantastischen Kollegen.

Ayse kehrte zu ihrer Chefin zurück und meldete, dass sie fürs Erste alles beisammen hätte und alle Anwesenden vorläufig entlassen wären. Sie warteten draußen vor dem Gebäude, da sie nach Abschluss der Tatortuntersuchung ihre Sachen weiter einladen wollten.

Mittlerweile hatte sich der Trupp des Erkennungsdienstes aufgeteilt. Zwei Beamte waren damit beschäftigt, Proben von Boden und Deckel der Grube und Vergleichsproben aus der Halle zu nehmen. Die anderen waren draußen rund um das Gebäude damit beschäftigt, das Areal nach möglicherweise doch noch vorhandenen Spuren oder Beweisstücken abzusuchen. Kollegialerweise halfen ihnen die verbliebenen Beamten der Schutzpolizei bei dieser undankbaren Aufgabe. Obwohl die Wahrscheinlichkeit gegen Null ging, etwas Relevantes für die Ermittlung zu finden, musste diese Arbeit gemacht werden. Schludrigkeit bei der Spurensicherung konnte für eine Ermittlung tödlich sein.

Mechthild Kayser hatte sich unterdessen auf einen Mauervorsprung in einer Ecke der Halle gesetzt und versuchte die ganze Szenerie auf sich wirken zu lassen. Die Halle, das Rolltor, die Grube.

Sie wollte sich eine Vorstellung vom Geschehen machen: Ein Fahrzeug fährt auf den Parkplatz vor der Halle oder gleich direkt hinein. Es ist ruhig hier, menschenleer bis auf den oder die Täter. Der Täter ... Halt! Es könnte auch eine Frau gewesen sein. Auszuschließen war das nicht. Also: Jemand dringt in die leere Halle ein, verbesserte sie sich. Das Rolltor ist vielleicht nie verschlossen. Kann sein, dass es dunkel war. Also brauchte der- oder diejenige Licht. Hatte er oder sie das Auto in die Halle gefahren und im Scheinwerferlicht sein Werk vollendet, oder hatte er oder sie Lampen mitgebracht? Der Sack mit der Leiche wird in die Grube gelegt. Die Grube wird mit Brettern verschlossen, und dann wird Zement zu einem Estrich angerührt und akkurat aufgetragen und glatt gestrichen. Waren es vielleicht doch eher mehrere Personen, die diese Arbeiten durchführten?

KK Heller kam in die Halle und holte Mechthild mit einem überflüssigen „Na, wie sieht’s aus?“ aus ihren Gedanken,.

„Schon fertig mit dem Makler?“ fragte sie.

Heller nickte. „Soll ich gleich oder später auf dem Meeting?“ fragte er.

„Wenn es nichts Außergewöhnliches ist, dann besser nachher mit allen anderen. Falls es aber eine heiße Spur gibt, dann bitte gleich“, antwortete Mechthild. Sie winkte Ayse zu sich, und zusammen mit Heller fuhren sie zurück ins Präsidium. Dort hielt jeder für sich seine bisherigen Ermittlungsergebnisse schriftlich fest, um sie auf der späteren Dienstbesprechung allen vorzutragen.

Mechthild setzte sich an ihren PC und ging die Vermisstenmeldungen der letzten Wochen durch. Das war eine Standardaufgabe bei unbekannten Toten. So gut wie möglich hatte sie sich das Gesicht der Toten eingeprägt und verglich ihre Erinnerung nun mit den in der bundesweit eingerichteten Vermisstendatei gespeicherten Photos. Blonde Frauen waren auch dabei, aber sie schienen ihr alle zu jung. Mechthild schätzte das Alter der Toten auf über vierzig. Aber sie konnte sich irren. Die Sicht durch den Plastiksack war nicht besonders gut gewesen. Sie würde die Suche noch einmal beginnen, wenn sie aus der Gerichtsmedizin weitere Identifizierungsmerkmale geliefert bekommen hatte. Jetzt brachte sie erst einmal ihre eigenen Notizen in einer geordneten Form zu Papier.

Zwischendurch rief sie die Staatsanwaltschaft an und teilte dem für Tötungsdelikte zuständigen Oberstaatsanwalt den Sachverhalt und den derzeitigen Stand der Ermittlungen mit. Der Oberstaatsanwalt kündigte an, dass er an der geplanten Dienstbesprechung teilzunehmen gedenke, und erwartete eine rechtzeitige Verständigung.

Dann schickte Mechthild dem Polizeipräsidenten, der, da die K-Leiter-stelle momentan unbesetzt war, im Augenblick auch kommissarischer Leiter der Kripo war, eine E-Mail über den Leichenfund und überließ es ihm, die anderen Kommissariate elektronisch per Hausnachrichten über den Fall zu informieren.

In der Pathologie war Prof. Dr. von Sülzen gerade mit der Beschreibung des ersten Eindrucks der unbekannten Toten fertig. Seine Helfer hatten begonnen, die Frau vorsichtig zu entkleiden und die einzelnen Kleidungsstücke zu archivieren. Roder hatte sich etwas abseits des Seziertisches aufgestellt und beobachtete von Sülzen. Die Frau trug sehr altmodische Unterwäsche und Strumpfhalter, fiel Roder auf. Wie früher seine Mutter, dachte er, die er einmal als Junge beim Ankleiden überrascht hatte.

Die nackte Leiche wurde jetzt hin- und hergewendet und in jeder Position abgelichtet. Der Rücken der Toten war unversehrt. Lediglich großflächige, dunkle Leichenflecken hatten sich durch das abgesunkene Blut gebildet. Vorne, auf dem Unterbauch, waren mehrere kreisrunde Wunden mit einem Durchmesser von circa einem Zentimeter zu erkennen, die sich durch einen dunklen Wundrand deutlich von der ansonsten hellen Haut abhoben. Die Brüste waren an der Unterseite mit Schnitten in Form eines auf dem Kopf stehenden T aufgeschnitten und die Wundränder anschließend mit weißem Gewebeklebeband wieder zusammengefügt worden.

KHK Roder steckte sich eine Zigarette an und inhalierte tief. Jetzt kam der unangenehmste Teil der Obduktion. Während in einigen anderen europäischen Ländern gezielt nur die Teile einer Leiche gerichtsmedizinisch untersucht wurden, deren Relevanz sich aus den davor liegenden Ermittlungen ergeben hatten, gab es in Deutschland nur die Totalobduktion. Die Deutschen waren eben besonders gründlich.

Von Sülzen sprach seine Ergebnisse, Feststellungen und Vermessungsdaten in das an seinem Kittelkragen befestigte Kehlkopfmikrophon und setzte zum V-Schnitt für die Öffnung des Oberkörpers der Leiche an.

Roder umgab sich mit einer Wolke aus Zigarettenqualm. Die Ansicht einer Leichenöffnung machte ihm nichts aus, aber er hasste den sich ausbreitenden Geruch. Besonders abstoßend empfand er den Gestank von Wasserleichen. Er hatte zwar noch nie gekotzt, aber wenn sich der Verwesungsgestank auf seine Geschmacksnerven legte, wurden seine Zunge und sein Gaumen trocken, und ein Würgereiz stellte sich ein. Eine instinktive Reaktion, die er nicht mit seinem Willen beherrschen konnte. Es gelang ihm lediglich, sich nicht zu übergeben. Von Sülzen schien das alles nichts auszumachen. Ein bis zwei Stunden würde es jetzt noch dauern. Dann würde Roder so viel Informationen zusammenhaben, dass er seine Kollegen auf den neuesten Stand bringen konnte und sie genügend Ansätze für ihre weitere Ermittlungsarbeit hätten.

Ab heute wusste Benjamin, dass das Leben für ihn zugleich schön und schrecklich sein würde.

Sein Vater hatte in den letzten zwei Jahren seinen Betrieb ausgebaut, und gestern Abend waren seine Eltern auf einen Empfang des Wirtschaftsministeriums für mittelständische Unternehmer eingeladen gewesen.

Die Schlaftabletten nahm er nicht mehr. Seine strikte Weigerung hatte mal wieder eine schlimme Auseinandersetzung mit seiner Mutter nach sich gezogen. Er merkte, dass er immer aggressiver gegen sie wurde, aber statt sich mehr um ihn zu kümmern, drohte sie ihm immer häufiger mit einem Internat. Berta hatte ihm erzählt, wie schlimm und erniedrigend die Verhältnisse dort für ihn sein würden, und da er die Drohung seiner Mutter sehr ernst nahm, versuchte er weitere Konflikte mit ihr zu vermeiden. Das funktionierte zwar, aber er zog sich auch viel stärker in sich zurück, und neben seiner unerfüllten Liebe zu seiner Mutter wuchs das Misstrauen.

Berta war vergangene Nacht unbemerkt in sein Zimmer gekommen, und er wurde davon geweckt, als sie an seinem Bettrand sitzend seinen Penis unter der Bettdecke massierte. Als er wach wurde, schlug sie seine Decke zurück und zog sich den Bademantel aus. Sie trug nur Strümpfe an Strumpfbändern, und dieser Anblick erregte ihn noch mehr.

Er mochte Strümpfe. Er wusste, dass seine Mutter auch solche trug. Wenn er allein zu Hause war, schlich er sich in ihr Badezimmer, verriegelte die Tür und suchte im Wäschekorb nach der Unterwäsche seiner Mutter. Dann saß er auf dem Klodeckel und sog genüsslich den Geruch ihrer getragenen Strümpfe ein. Sein einziger indirekter Körperkontakt mit ihr.

Berta hatte sich jetzt auf ihn gesetzt und bewegte ihren schweren Körper auf seinem steifen Penis auf und ab. Er konnte nichts mit ihrem Körper anfangen. Er schaute ihn an, sah, wie sich ihre Brüste im Takt ihrer Bewegungen auf und ab schwangen. Aber er traute sich nicht, sie zu berühren oder auch nur irgendetwas zu Berta zu sagen. Sie kam regelrecht über ihn, und er konnte nur stillhalten. Er sah und hörte diesen keuchenden Berg Fleisch über sich, als sich plötzlich sein Penis anspannte wie noch nie. Sein Körper wurde immer heißer, und er begann zu schwitzen. Denn in dieser Nacht geschah noch etwas Außergewöhnliches. Seine Knie wurden ihm weich, er begann zu zittern und immer schneller zu atmen. Er erlebte seinen ersten Orgasmus. Im gleichen Augenblick wälzte sich Berta von ihm herunter. „Geiles Schwein!“ sagte sie zu ihm und verließ einfach das Zimmer.

Benjamin war völlig durcheinander. Mit seinen verwirrten Gefühlen allein gelassen, fing er an zu weinen. Ganz leise natürlich. Damit bloß keiner etwas hören würde. Er schämte sich.

Seit dieser Nacht war auch Berta anders geworden. Sie schob ihm die Schuld dafür zu, dass sie nachts zu ihm kommen würde. Sie erzählte ihm ständig, dass er sie anmachen, sie absichtlich erregen würde und sie ihm nicht widerstehen könnte. Aber weil sie ihn gerne mochte, würde sie seinen Eltern nichts davon erzählen. Sie wollte nicht verantwortlich dafür sein, dass er ins Internat kommen würde.

Benjamin wurde immer verwirrter. Er konnte sich nicht erklären, dass er Berta dazu gebracht hatte, nachts zu ihm zu kommen. Und er die Schuld daran hätte. Er spürte aber auch, dass ihr Tun irgendwie nicht in Ordnung war. Er wusste sich nicht zu helfen. Wahrscheinlich hatte Berta recht, und irgendetwas war mit ihm nicht in Ordnung. Er kam mit der Situation nicht mehr zurecht. Auf der einen Seite sein Vater, den er kaum noch sah, und seine Mutter, der er nichts so recht machen konnte, dass sie ihn liebte − obwohl er sich das immer noch unbedingt wünschte. Auf der anderen Seite Berta, die ihn wenigstens mochte und sich um ihn kümmerte. Sie war sein letzter Halt, und er wollte sie nicht auch noch verlieren.

Immer häufiger griff er nun abends in das Barfach seiner Eltern und nahm sich vom Cognac oder Wodka. Die Bar war groß, und viele Flaschen galt es auszuprobieren. Am Anfang war er sich sicher, dass niemand etwas merken würde, aber als er begann, größere Mengen zu trinken, füllte er die Flaschen mit Leitungswasser wieder auf.

Berta erwischte ihn dabei, versprach aber, ihn nicht zu verraten. Geheimnisse verbanden. Seitdem hatte sie ein kleines Arsenal an Flaschen, aus denen sie die von ihm entnommenen Mengen nachfüllte. Doch kurze Zeit später kam sie abends mit einer Flasche im Arm in sein Zimmer und schenkte ihm ein. Manchmal war er an solchen Wochenenden so betrunken, dass er nicht mehr wusste, was alles in seinem Rausch passiert war. Nur manchmal ließ ihn am nächsten Morgen seine schmerzende Vorhaut erahnen, was alles noch geschehen war.

 

In der Schule wurde er jetzt schlechter. Seine Mutter machte ihn vor Berta nieder, als sie einen Brief des Klassenlehrers erhalten hatte, in dem er als aggressiv, provozierend und aufmüpfig angeklagt wurde. Das Erreichen des Klassenziels war gefährdet. Er wusste nicht, was er antworten sollte. Später kam Berta mit einer Flasche Wodka zu ihm und tröstete ihn.

Benjamin schaffte die Schule nicht mehr. Er lehnte sich immer mehr gegen alles auf und nahm jede Gelegenheit wahr, gegen die verhassten Lehrer zu opponieren und musste im Ergebnis das Gymnasium verlassen. Sehr zum Leidwesen seiner Mutter, die aus ihm gerne einen Stararchitekten oder wenigstens einen Arzt gemacht hätte. Nun hatte er eine Gärtnerlehre angefangen.

Jetzt, in diesen Jahren, wo seine eigene Sexualität in ihm lebendig wurde, ließ Berta plötzlich von ihm ab. Wieder etwas, das ihn verunsicherte, weil er es nicht verstand. Und obwohl er begann, den Zusammenhang zwischen ihr und seinem Leben im Suff zu verstehen und sich zeitweise Hass und Gewaltphantasien gegen Berta richteten, war sie für ihn doch immer auch eine feste, einschätzbare Instanz geblieben. Er hatte sogar manches Mal daran gedacht, mit ihr weiter zusammen zu leben und damit wenigstens etwas Sicherheit zu erhalten. Aber ihre Abkehr von ihm war so deutlich, dass ihm selbst dieses kleine Glück vorenthalten blieb. Das Verlangen, von seiner Mutter geliebt zu werden, war ungebrochen, wurde aber mit jedem Tag ausgeschlossener. Und sein Vater hatte nur noch den Betrieb im Kopf. Für ihn existierte er überhaupt nicht mehr. Besonders sein schulisches Versagen war der Grund, warum er ihn völlig fallengelassen hatte.

Benjamin sah seine Eltern nur noch selten. Dass von Anfang an schon sein Kinderzimmer mit eigenem Bad versehen war, unterstützte die Trennung einmal mehr. Man traf nicht einmal versehentlich bei der Morgentoilette zusammen.

Aber der große Knall kam noch. Eines Tages standen Beamte der Steuerfahndung vor der herrschaftlichen Villa. Benjamins Vater wurde von der Polizei abgeführt, und auch der eiligst herbeigerufene Staranwalt konnte nicht verhindern, dass das ganze Haus durchsucht wurde. Benjamins Mutter lief an diesem Tag nur noch hysterisch kreischend durchs Haus und beschimpfte den hilflosen Anwalt als unfähig und nutzlos. Steuerhinterziehung und Subventionsbetrug lauteten die Vorwürfe gegen Benjamins Vater. Im Laufe der Untersuchungshaft in Essen brach das Unternehmen seines Vaters zusammen. Die Villa wurde gepfändet. Die Fabrik ging in Konkurs. Das alles interessierte Benjamin aber nicht mehr. Er wusste längst, dass er für sich alleine auf der Welt war und selbst für sich sorgen musste. Sein Vater erhielt eine Bewährungsstrafe und wurde so vor einer Gefängnishaft bewahrt. Aber alles war verloren.

Da sie im Ruhrpott sehr bekannt waren und seine Mutter die Schande nicht aushielt, zogen sie nach Bremen und mieteten ein kleines Reihenhaus in der Bremer Vahr. Benjamins Vater war bemüht, konnte aber nicht wieder Fuß fassen. Wer wollte schon einen vorbestraften Steuerhinterzieher in eine verantworungsvolle Stellung in seine Firma holen? Aber als kleiner Angestellter zu arbeiten, konnte er nicht verkraften. Und seine neuen Arbeitgeber, die es mal mit ihm versuchen wollten, auch nicht. Seine Mutter erlebte den sozialen Abstieg nur als kurze Periode. Wie sich zeigte, hatte sie schon lange für sich vorgesorgt und einen Ausweichplan für sich vorbereitet. Aber nur für sich. Benjamin und sein Vater waren darin nicht vorgesehen.

Während Benjamin seine Lehre in einem Bremer Gartenbaubetrieb erfolgreich zu Ende brachte, verzog sich seine Mutter über Nacht mit einem reichen Verleger nach Amerika, von wo aus sie über Anwälte die Scheidung von ihrem Mann regelte. Obwohl er noch keine 18 Jahre alt war, ließ sie ihn einmal mehr im Stich.

Kurz darauf zog Benjamin aus und suchte sich eine günstige Bleibe. Einige Wochen, nachdem die Scheidung seiner Eltern vollzogen war, erhielt Benjamin Besuch von seinem Vater. Er wirkte alt und erschöpft und ein wenig ungepflegt. So schnell kann es kommen, wenn man kein Geld mehr hat für teure, gepflegte Kleidung und den wöchentlichen Frisörbesuch.

Das billige Appartement, das Benjamin jetzt im Aalto-Hochhaus bewohnte, war nur spärlich eingerichtet. Vor Jahren hätte sein Vater eine solche Wohnumgebung für seinen Sohn schwer missbilligt. Aber heute hatte er wahrscheinlich auch nicht mehr. Und Benjamin war das ziemlich gleichgültig. Dass Geld allein nicht glücklich machen konnte, hatte er zur Genüge gelernt.

Sein Vater machte nicht viele Worte. Und auch Benjamin wusste nicht, worüber er sich mit diesem ihm mittlerweile fast fremden Mann unterhalten sollte. Sein zermürbter Vater hatte einen Koffer dabei, den er Benjamin mit wenigen holprigen Worten übergab und ihm dann alles Gute wünschte, bevor er sich verabschiedete. Für einen Moment verharrte sein Vater steif vor ihm, und dann nahm er ihn seit Jahren zum erstenmal in den Arm. Er versuchte es zumindest. Für Benjamin war dies ein völlig ungewohntes Berühren, ein Gefühl durchzog ihn, das ihn mehr erstarren ließ als Wärme zu empfinden. Sein Vater quälte eine Entschuldigung zwischen seinen Lippen hervor, ließ ihn dann abrupt stehen und ging. Er konnte wohl selber mit dieser Geste nichts anfangen. Benjamin schob den Koffer seines Vaters unters Bett. Jetzt bloß nicht auch noch irgendwelche alten Liebesbriefe seiner Eltern oder Glückwunschkarten zu seiner Geburt lesen.

Zwei Tage später erhielt Benjamin überraschend Besuch von einem Polizisten, der ihm gelangweilt darüber informierte, dass sich sein Vater auf dem Autobahnparkplatz in Mahndorf erschossen hatte. Kein Verlust für die Gesellschaft, sagte der Polizist. Eben das Ende einer kriminellen Unternehmerkarriere. Dann ging er wieder. Da Benjamins Vater aufgrund seiner Fingerabdrücke zweifelsfrei identifiziert werden konnte, brauchte er ihn sich auch nicht in der Gerichtsmedizin anzusehen.

Anschließend saß Benjamin stundenlang am Fenster im zwölften Stock seines Hochhauses und starrte über die Stadt. Jetzt waren sie wirklich alle weg. Berta, die ihn nur benutzt hatte. Seine Mutter, die er innig geliebt und die ihn einfach im Stich gelassen hatte. Und nun sein Vater, der sich mit einem Schuss in den Kopf davongemacht hatte. Verluste war er sein ganzes Leben nun schon gewöhnt. Sie sollten ihn nicht mehr erschüttern. Sein Leben war nicht von Glück bestimmt; sein Wegbegleiter war das Leid. Das war ihm nun endgültig klargeworden. Und noch etwas anderes: Er wollte sein Leid nicht in sich hineinfressen. Er würde eines Tages davon etwas an alle zurückgeben. Er würde sich rächen.

Wut und die Lust zu töten stiegen zum ersten Mal in ihm hoch. Er fühlte sich stark, unglaublich stark, und war sicher, dass sich ihm niemand erfolgreich in den Weg stellen konnte. Wenn diese Wut losbrach, gab es für keinen ein Entrinnen. Mit einem aggressiven Ruck zog er den Koffer seines Vater unter dem Bett hervor. Sollte ihm doch ruhig noch etwas auf die geschundene Seele treten, dachte er aufgebracht. Er öffnete den Koffer und war völlig überrascht. Zu seinem Erstaunen lagen darin nicht irgendwelche Briefe und Ansichtskarten, sondern er war prall gefüllt mit Geldscheinen. Er klappte ungerührt den Koffer wieder zu. Dieses Geld wollte er nicht.

Am nächsten Tag mietete er ein großes Schließfach bei einer Bank auf dem Domshof und verstaute den Koffer dort.