Buch lesen: «Fälle und Lösungen zum Öffentlichen Recht», Seite 2

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III. Staat-Bürger-Verhältnis

Wird eine öffentlichrechtliche Streitigkeit dem Staat-Bürger-Verhältnis zugeordnet, ist bei der gesuchten Ermächtigungsgrundlage für das streitige staatliche Tätigwerden zwischen der Aufgabenermächtigung und der Eingriffsermächtigung zu unterscheiden. Für beide bestehen in der Regel unterschiedliche Verfassungs- und Gesetzesgrundlagen.

Aufgabenermächtigungen sind verfassungsrechtliche oder gesetzliche Regelungen, die eine Staatsaufgabe inhaltlich und umfänglich generell festlegen und mit einer Kompetenz (= generell ermächtigende und verpflichtende Rechtswirkungen für zuständige staatliche Stellen) verbinden.

Polizeigesetz (PolG) NRW

§ 1 Aufgaben der Polizei.

(1) Die Polizei hat die Aufgabe, Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren (Gefahrenabwehr). Sie hat im Rahmen dieser Aufgabe Straftaten zu verhüten sowie vorbeugend zu bekämpfen und die erforderlichen Vorbereitungen für die Hilfeleistung und das Handeln in Gefahrenfällen zu treffen.[3]

|7|Artikel 87a Grundgesetz

Aufstellung der Streitkräfte. (1) Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf. Ihre zahlenmäßige Stärke und die Grundzüge ihrer Organisation müssen sich aus dem Haushaltsplan ergeben.

Für die Antwort auf die von der Aufgabenermächtigung und -zuweisung zu unterscheidende weitergehende Frage, ob der Staat zur Durchsetzung dieser Aufgaben im Einzelfall beschränkend in Rechte von Bürgern eingreifen darf, müssen besondere Ermächtigungsgrundlagen herangezogen werden (Eingriffsermächtigungen).

Polizeigesetz (PolG) NRW

§ 8 Allgemeine Befugnisse.

(1) Die Polizei kann die notwendigen Maßnahmen treffen, um eine im einzelnen Falle bestehende konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung (Gefahr) abzuwehren, soweit nicht die §§ 9 bis 46 die Befugnisse der Polizei besonders regeln.[4]

Artikel 87a Abs. 2 Grundgesetz

(2) Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es zuläßt.

In „Kann“-Bestimmungen, wie beispielsweise § 8 Abs. 1 PolG NRW, kommt als weitere kompetenzrechtliche Besonderheit des öffentlichen Rechts die gesetzliche Ermächtigung zuständiger staatlicher Stellen zum Ausdruck, im Hinblick auf die Durchführung ihrer Aufgabe nach Maßgabe der konkreten Umstände des Falles – situationsabhängig – von der Behörde selbst gestaltete Rechtsfolgen zu setzen (Ermessensermächtigung).

Polizeigesetz (PolG) NRW

§ 3 Ermessen, Wahl der Mittel.

(1) Die Polizei trifft ihre Maßnahmen nach pflichtgemäßem Ermessen.[5]

(2) Kommen zur Abwehr einer Gefahr mehrere Mittel in Betracht, so genügt es, wenn eines davon bestimmt wird. Der betroffenen Person ist auf Antrag zu gestatten, ein anderes ebenso wirksames Mittel anzuwenden, sofern die Allgemeinheit dadurch nicht stärker beeinträchtigt wird.

Die Ausübung von Ermessensermächtigungen durch zuständige staatliche Stellen ist durchgängig an den rechtsstaatlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebunden (verfassungsrechtliches – mitunter einfachgesetzlich untermauertes – Gebot, nur mit Blick auf die einschlägige allgemeine Aufgabe geeignete und – situationsbedingt – erforderliche Maßnahmen zu ergreifen; pflichtgemäßes Ermessen).

|8|PolG NRW

§ 2 Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

(1) Von mehreren möglichen und geeigneten Maßnahmen hat die Polizei diejenige zu treffen, die den einzelnen und die Allgemeinheit voraussichtlich am wenigsten beeinträchtigt.[6]

(2) Eine Maßnahme darf nicht zu einem Nachteil führen, der zu dem erstrebten Erfolg erkennbar außer Verhältnis steht.

(3) Eine Maßnahme ist nur solange zulässig, bis ihr Zweck erreicht ist oder sich zeigt, dass er nicht erreicht werden kann.

IV. Bürger-Staat-Verhältnis

Die Rechte des von staatlichen Entscheidungen betroffenen Bürgers zur Abwehr des Staates aus seinem privaten Rechtsbereich sind vornehmlich die Grundrechte in ihrer klassischen Funktion als negatorische Abwehrrechte (Inzidenter-Prüfung im Prozess vor den Verwaltungsgerichten; unabhängig davon: Verfassungsbeschwerde als subsidiärer Rechtsbehelf zum Bundes- oder Landesverfassungsgericht).

Auf der Ebene einfachen Gesetzesrechts wird diese negatorische Abwehrfunktion prozessual unterstützt durch die verwaltungsgerichtliche Anfechtungsklage gegenüber behördlichen Verwaltungsakten (§ 113 Abs. 1 VwGO). Für das umgekehrte Begehren gesetzlich begründeter positiver staatlicher Leistungen durch behördlichen Verwaltungsakt steht die Verpflichtungsklage zur Verfügung (§ 113 Abs. 5 VwGO).

Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO)

§ 42 Anfechtungs- und Verpflichtungsklage. (1) Durch Klage kann die Aufhebung eines Verwaltungsakts (Anfechtungsklage) sowie die Verurteilung zum Erlaß eines abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsakts (Verpflichtungsklage) begehrt werden.

§ 113 Urteilsinhalt. (1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf.“ (Anfechtungsklage)

(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.“ (Verpflichtungsklage).

Der nicht auf förmliche Verwaltungsakte gegründete Bereich verwaltungsbehördlicher Tätigkeit ist materiellrechtlich gesetzlich gestaltet. Negatorische Abwehr- und positive Leistungsansprüche der Bürger können hier prozessual vor den Verwaltungsgerichten über die allgemeine Leistungsklage und über die Feststellungsklage durchgesetzt |9|werden. Die allgemeine Leistungsklage ist in der VwGO nicht explizit geregelt, aber vorausgesetzt (§§ 43 Abs. 2, 111, 113 Abs. 4 VwGO). Mit der subsidiären Feststellungsklage können streitige verwaltungsrechtliche Rechtsverhältnisse gerichtlich verbindlich geklärt werden.

§ 43 VwGO

(1) Durch Klage kann die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses oder die Nichtigkeit eines Verwaltungsaktes begehrt werden, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung hat (Feststellungsklage).

Dieselben negatorisch-abwehrenden und leistungsmäßig fordernden materiellen Anspruchs- und prozessualen Rechtsschutzkonstellationen wie bei den verwaltungsgerichtlichen Klagearten gibt es auch außergerichtlich auf der behördlichen Ebene, soweit die Behörde rechtsförmlich durch Verwaltungsakt handelt. Anknüpfungspunkt ist dann die grundsätzlich nach einem Monat eintretende Bestandskraft der Verwaltungsaktregelung. Sie kann von betroffenen Bürgern im Wege des rechtzeitigen Widerspruchs bei der erlassenden Behörde hinausgeschoben oder beseitigt werden (Anordnung des Sofortvollzugs). Der individuelle Rechtsschutzeffekt einer aufschiebenden Wirkung liegt darin, dass der Verwaltungsakt zeitweise oder dauerhaft nicht vollstreckt werden kann.

V. Sog. Binnenrechtsstreitigkeiten

Staatsorganisationsrechtlich handelt es sich bei Binnenrechtsstreitigkeiten im Wesentlichen um

 Organstreitigkeiten (zwischen verschiedenen Staatsorganen über ihre verfassungsmäßigen Rechte), oder

 Bund-Länder-Streitigkeiten im föderalen System.

Verwaltungsrechtlich geht es bei sog. Binnenrechtsstreitigkeiten vornehmlich um an Rechtsaufsichtsmaßnahmen anknüpfende Streitigkeiten zwischen einer mit Selbstverwaltungskompetenzen ausgestatteten staatlichen Einrichtung (Kommunen, Körperschaften des öffentlichen Rechts) und den zur Rechtsaufsicht über sie berufenen übergeordneten staatlichen Stellen (in der Regel Regierungspräsidien und Regierungen der Länder).

|10|VI. Materielle und formelle Rechtmäßigkeit staatlicher Maßnahmen

Aus dem Umstand, dass der Staat nur durch rechtlich hergestellte Organisation entsteht und Bestand hat (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG) ergibt sich in Verbindung mit der verfassungsrechtlich durchgängigen Ermächtigungsbedürftigkeit staatlichen Handelns (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 GG) eine weitere Besonderheit für die öffentlichrechtliche Fallbearbeitung. Das ist die Unterscheidung von formeller und materieller Rechtmäßigkeit staatlichen Handelns.

 Vereinbarkeit des Erfolgs staatlichen Handelns mit der Verfassung und dem Gesetz (materielle Rechtmäßigkeit),

 Vereinbarkeit staatlichen Handelns mit verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Zuständigkeits-, Form- und Verfahrensanforderungen (formelle Rechtmäßigkeit).

Es gibt im öffentlichen Recht eigene Regeln dafür, wann die Rechtmäßigkeit staatlichen Handelns

 die strikte Einhaltung sämtlicher formeller und materieller Rechtmäßigkeitsanforderungen verlangt. In diesem Fall führen schon formelle Fehler zur Qualifizierung des staatlichen Handelns als rechtswidrig, obwohl die Entscheidung der jeweiligen staatlichen Stellen im Ergebnis mit dem Gesetz im Einklang steht;

 in erster Linie die Einhaltung materieller Rechtmäßigkeitsanforderungen verlangt, während formelle Fehler zwar nicht irrelevant sind, aber geheilt werden können,

 nur die Einhaltung materieller Rechtmäßigkeitsanforderungen verlangt, während formelle Fehler für das auf die staatliche Tätigkeit insgesamt bezogene Rechtmäßigkeitsurteil irrelevant sind.

Die Frage, welche dieser Rechtmäßigkeitsstufen eingreift, muss grundsätzlich der Gesetzgeber beantworten.

VII. Arbeit am Sachverhalt und an den Rechtsfragen des Falles

Die meisten Klausuraufgaben enthalten wenig geordnete Grunddaten über die tatsächlichen Gegebenheiten, die Situation und die Ereignisse, die zu ihr geführt haben – also über die Sachlage, die den konkreten Streitfall ausmacht. Hinzu kommt, dass die am Ende der Aufgabenstellung formulierte(n) Rechtsfrage(n) – Was kann X gegen den Bescheid unternehmen? Hat die Klage des X Aussicht auf Erfolg? Ist das umstrittene Gesetz wirksam zustande gekommen? – in aller Regel zu allgemein sind, um einen schrittweise abarbeitungsfähigen Leitfaden für die schriftliche Fallösung zu liefern. Hierfür ist eine Strukturierung der Sachverhaltsgegebenheiten im Hinblick auf die zu beantwortenden Rechtsfragen des Falles erforderlich. Die Strukturierung des Falles besteht aus vier Arbeitsschritten. Sie gehören noch nicht zur Fallösung, sondern stellen Vorbereitungsschritte dar. Mit kurzen Notizen zu den Ergebnissen jedes dieser Arbeitsschritte ist der Weg für die abschließende schriftliche Ausarbeitung eröffnet.

|11|1. Tatsachenstoff des Falles (1. Stufe)

Der erste Arbeitsschritt besteht in der Zusammenstellung des Tatsachenstoffs, also aller zwischen den Beteiligten unstreitigen Daten, Ereignisse und Zusammenhänge des Falles, in die der nachfolgende rechtliche Streitstoff eingebettet ist. Zum Tatsachenstoff gehört auch die „Rechtsgeschichte“ des Falles. Das ist alles, was sich im Vorlauf der aktuell zu bearbeitenden rechtlichen Fragen zwischen den Beteiligten vor Gerichten oder in Form verwaltungsbehördlicher Entscheidungen abgespielt hat. Es empfiehlt sich, den Tatsachenstoff in Form von stichwortartigen Notizen festzuhalten. Damit ist eine Abgrenzungsgrundlage gegenüber den streitigen Rechtspositionen und Fallfragen geschaffen.

2. Parteivorbringen, Streitgegenstand (2. Stufe)

In einem zweiten Arbeitsschritt werden die streitigen Positionen jeder beteiligten Seite formuliert und einander gegenübergestellt, und zwar möglichst in den eigenen laienhaften Worten der Beteiligten, um den Blick für die wirklichen Anliegen der Streitbeteiligten frei zu halten (konkrete Streitpositionen). Maßstab für die Formulierung dieser Positionen ist das, was jede Seite für sich rechtlich erreichen will. Damit wird der maßgebliche Ansatz erarbeitet, um nachfolgend die einschlägigen Rechtsfragen zu bestimmen, die begutachtet werden sollen.

Zur Ermittlung der streitigen Standpunkte und des wirklichen rechtlichen Begehrens der Beteiligten sind ggf. Auslegungen der mitgeteilten Informationen über diese Standpunkte erforderlich. Das ist keine juristische Auslegungsarbeit, sondern eine Auslegungsarbeit, die sich auf den Sachverhalt bezieht. Sie ist typisch für die anwaltliche Beratungstätigkeit, die für den Anwalt damit beginnt, herauszufinden, was die Mandantin oder der Mandant wirklich will.

Hier liegt eine erste potentielle Fehlerquelle für die Fallbearbeitung. Ihr begegnen Bearbeiter am wirksamsten durch strikte Vermeidung juristischer Fachausdrücke und vorschnelle rechtliche Einordnungen des Falles nach Maßgabe von gesetzlichen Entscheidungsgrundlagen. Der Streit ist – wiederum stichwortartig – so zu skizzieren, wie ihn die Parteien mit ihren eigenen Worten darstellen. Für die Auslegung dieser Darstellung ist auf die allgemeine Lebenserfahrung zurückzugreifen, soweit es um Privatpersonen im Streit mit dem Staat geht. Auch das staatliche Streitvorbringen sollte nicht mit juristischen Fachausdrücken beschrieben werden, sondern mit der psychologisch naheliegendsten Zielsetzung, die sich aus der jeweiligen staatsaufgabenmäßigen (amtlichen) Stellung der beteiligten staatlichen Stelle ergibt.

|12|Merke

Der Grund für die Zurückhaltung beim Umgang mit gesetzlichen Rechtsbegriffen und Systembegriffen liegt in der Gefahr, durch vorschnellen gedanklichen Rückgriff auf solche Allgemeinbegriffe mit ihren vielfältigen assoziativen Zuordnungsmöglichkeiten den eigentlichen konkreten Rechtsstreit zu verfehlen (häufiger Fehler). Die Vielfalt der Lebenswirklichkeit, der die Streitfälle entnommen sind, ist unbegrenzt. Das allgemeinverbindlich formulierte, abstrakte Gesetz ist dagegen stets begrenzt. Wer sich beim Einstieg in die Fallbearbeitung zu stark vom abstrakten Gesetz leiten lässt, verfehlt leicht den konkreten Streitstoff.

In einem allein auf die Fallbearbeitung bezogenen Sinne kann man dieses so ermittelte konträre Parteivorbringen als „Streitgegenstand“ bezeichnen. Mit einem prozessualen Streitgegenstand vor Gericht hat das wenig zu tun. Es geht um die aus dem Fall zu ermittelnden streitigen Positionen, auf die das verlangte Gutachten zu gründen ist.

3. Rechtliche Fragestellungen des Falles auf der Grundlage des konkreten Parteivorbringens (3. Stufe)

Mit der Formulierung der rechtlichen Fragestellung oder der mehreren rechtlichen Fragestellungen wird auf der dritten Stufe die Grundlage für die juristische Begutachtung vervollständigt. Gedanklich und arbeitstechnisch geht es bei diesem Strukturierungsschritt darum, aus dem auf der zweiten Stufe ermittelten konkreten Streitbegehren der Beteiligten die rechtlichen Fragen des Falles herauszufiltern und zu formulieren, die begutachtet werden sollen. Dazu müssen diese Rechtsfragen in der einschlägigen Gesetzessprache und mit Hilfe der Systematik der jeweiligen Rechtsmaterie – Staatsorganisationsrecht, Grundrechte, allgemeines Verwaltungsrecht, Polizeirecht, Baurecht, Kommunalrecht etc. – formuliert werden. Jetzt – erst jetzt – sind abstrakte Gesetzes- und Rechtskenntnisse gefragt.

Dieser Arbeitsschritt, die Umsetzung des konkreten streitigen Parteivorbringens in die allgemeinen Rechtsfragen des Falles, die zu begutachten sind, ist der umfassendste und schwierigste. Er liefert aber das, wonach die Bearbeiter suchen: das Prüfungsprogramm für die Erstellung des Gutachtens. Darin sind folgende Teilschritte eingeschlossen:

 Erster Teilschritt: zu beantworten ist zunächst die Frage, ob es sich überhaupt um eine öffentlichrechtliche Streitigkeit – verfassungsrechtlicher oder verwaltungsrechtlicher Natur – handelt. Hier sind ggf. Abgrenzungen gegenüber privatrechtlichen Streitigkeiten erforderlich.[7]

 Der zweite Teilschritt besteht in der Klärung der Frage, in welchem Verhältnis sich der Rechtsstreit abspielt: im Staat-Bürger-Verhältnis, im Bürger-Staat-Verhältnis, im innerstaatlichen bzw. innerkommunalen Verhältnis (zwischen Staatsorganen, Verwaltungsbehörden, kommunalen Entscheidungsträgern). – Durch einen Blick |13|auf die in der rechtlichen Fallfrage genannten Personen und staatlichen/kommunalen Stellen lässt sich diese Frage in der Regel problemlos und schnell beantworten.

 Als dritter Teilschritt folgt dann die rechtlich-systematische Formulierung der Rechtsfragen des Falles, die aus den kontroversen Standpunkten der Beteiligten (unter Ziffer 2) abzuleiten sind.

 Der vierte Teilschritt besteht in der Ermittlung der einschlägigen Gesetzes-, Verfassungs- und Verordnungs- oder Satzungsgrundlagen. Diese Ermittlung läuft über die in den formulierten Rechtsfragen enthaltenen allgemeinen Rechtswirkungen, für die passende Grundlagen in den Rechtsfolgen in Betracht kommender allgemeinverbindlicher Regeln gefunden werden müssen. Dann können im Gutachten die Tatbestandsgrundlagen geprüft werden.

Einschlägige Rechtsgrundlagen

Oft passen allgemeine gesetzliche Rechtsfolgen nicht genau zu den konkreten streitigen Rechtswirkungen. Sie müssen dann ggf. auf der Grundlage verschiedener gesetzlicher Regelungen miteinander kombiniert oder entsprechend (analog) angewendet werden.[8]

Welche gesetzlichen Regelungen im Hinblick auf die Fallösung einschlägig sind und der Begutachtung zugrunde gelegt werden müssen, ist immer aus dem konkreten Streitstoff heraus zu beantworten. Der konkrete Streitstoff liefert den Zugang zu derjenigen Rechtswirkung, die im Streit ist: z.B. einem Entschädigungsanspruch, der Gültigkeit eines Gesetzes, der Wirksamkeit eines Verwaltungsakts oder seiner Rücknahme, der Rechtmäßigkeit einer polizeilichen Gefahrenabwehrmaßnahme etc.

Daraus folgt: die gesuchten einschlägigen Gesetzesgrundlagen müssen über die gesetzliche Rechtsfolge gefunden werden.[9] Einschlägig ist jede gesetzliche Rechtsfolge, die der konkret streitigen Rechtswirkung eine Rechtsgrundlage zu liefern vermag (Übereinstimmung von konkreter streitiger Rechtswirkung und abstrakter gesetzlicher Rechtsfolge nach der Art der Rechtswirkung).

Ist diese Übereinstimmung gefunden, konzentriert sich das Gutachten auf die Prüfung des jeweiligen gesetzlichen Tatbestands (Tatbestandselemente plus richtige Anwendung im Einzelfall (Ermessensfehlerfreiheit, Verhältnismäßigkeit).

4. Gutachterlicher Prüfungsauftrag (4. Stufe)

Die generelle und umfassende Frage am Ende der Aufgabenstellung enthält zugleich den gutachterlichen Prüfungsauftrag. In der Regel weicht dieser Prüfungsauftrag inhaltlich und umfänglich nicht von den konkreten rechtlichen Fragestellungen ab, die auf der 3. Stufe ermittelt und formuliert worden sind. Es kann aber zu folgenden Abweichungen kommen, denen dann gutachterlich gefolgt werden muss.

Der gutachterliche Prüfungsauftrag kann:

 |14|Einschränkungen gegenüber den als gutachterlich relevant ermittelten konkreten Rechtsfragen enthalten. Wenn es beispielsweise im Hinblick auf eine verwaltungsgerichtliche Klage heißt: „Ist die Klage des X gegen das Land L begründet?“, wird nur nach der Begründetheit gefragt und ist die prozessuale Zulässigkeit der Klage nicht zu prüfen. Mitunter wird die Prüfung bestimmter Gesetzesgrundlagen ausgeklammert, weil sie nicht zum Prüfungsstoff gehören.

 Erweiterungen gegenüber den als gutachterlich relevant ermittelten Rechtsfragen enthalten. Dann muss das Gutachten entsprechend erweitert werden, beispielsweise durch Prüfung einer Fallvariante, nach der zusätzlich gefragt wird.

[Zum Inhalt]

|15|Kapitel 2: Fälle zum Verfassungsrecht – Grundrechte
|17|Fall 1: Körperscanner

Menschenwürde Art. 1 I GG, Allgemeines Persönlichkeitsrecht Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG, präventive Verfassungsbeschwerde gegen geplante Gesetzesvorhaben

240 Abgeordnete der C-, F- und S-Parteien bringen einen Gesetzentwurf im Bundestag ein mit dem Antrag, § 5 Abs. 1 Luftsicherheitsgesetz zu ändern. Die geltende Fassung dieser Bestimmung lautet:

„Die Luftsicherheitsbehörde kann Personen, welche die nicht allgemein zugänglichen Bereiche des Flugplatzes betreten haben oder betreten wollen, durchsuchen oder in sonstiger geeigneter Weise überprüfen. Sie kann Gegenstände durchsuchen, durchleuchten oder in sonstiger geeigneter Weise überprüfen, die in diese Bereiche verbracht wurden oder werden sollen.“

Die neue Fassung soll lauten:

„Die Luftsicherheitsbehörde kann Personen, welche die nicht allgemein zugänglichen Bereiche des Flugplatzes betreten haben oder betreten wollen, durchleuchten oder in sonstiger geeigneter Weise überprüfen.“

Durch diese Gesetzesänderung soll der umstrittene Einsatz von Körperscannern auf deutschen Flughäfen als zusätzliche Sicherheitskontrolle ermöglicht werden. Die vorgeschlagene Gesetzesänderung sieht außerdem vor, dass nur eine unstreitig nicht gesundheitsschädliche Terahertz-Technologie für die Durchleuchtung verwendet werden darf.

Anlass für die von den Gesetzesinitiatoren begehrte flächendeckende Einführung von Körperscannern auf deutschen Flughäfen war folgender Vorfall: Ein junger Mann aus dem Jemen, Abdul N., wollte in Frankfurt/Main das Flugzeug auf dem Weiterflug nach New York wechseln. Der islamistisch hochgradig radikalisierte Mann hatte unter der Kleidung am Bein eine Sprengladung aus knetbarem Sprengstoff befestigt. Auf dem Weiterflug nach New York wollte er die Bombe hochgehen lassen und das vollbesetzte Flugzeug zum Absturz bringen. Auf dem Weg zu seinem „Gate“ (Eingangsstelle für den Weiterflug) begegneten ihm zwei Beamte der Bundespolizei mit Spürhunden für die Drogenfahndung. Einer der Hunde sprang den entgegenkommenden Abdul N. unvermittelt an und biss ihn in das Hosenbein. Bei der anschließenden Körperkontrolle wurde die Bombe entdeckt.

Der Fall erregte in Sicherheitskreisen großes Aufsehen und verschärfte den Druck auf die Einführung von Körperscannern. Die Begründung für die Gesetzesinitiative zur Einführung dieser neuen Sicherheitstechnologie stellt vor allem auf folgenden Punkt ab: Die Verwirklichung solcher Risiken, wie sie der Fall Abdul N. zeige, dürfe nicht dem puren Zufall überlassen bleiben. Ob der Frankfurter Fall durch Körperscanner wirklich schon an den allgemeinen Kontrollstellen entdeckt worden wäre, |18|ist unklar. Terahertzstrahlen werden nur von konsistenten Gegenständen am Körper zurückgeworfen, nicht z.B. von Flüssigkeiten. In Stellungnahmen von Experten heißt es, der Frankfurter Fall wäre mit ziemlicher Sicherheit schon bei einer Körperscanner-Kontrolle entdeckt worden. Er wäre also wohl keine Zufallsentdeckung geblieben. Diese Einschätzung bleibt aber letztlich eine Vermutung, weil die Technologie noch in der Entwicklung und Testphase ist. Kritiker der Gesetzesinitiative meinen, die Körperscanner-Technologie sei mit Persönlichkeitsrechten der Fluggäste unvereinbar, da der nackte Körper durch die Kleider hindurch ziemlich detailscharf sichtbar werde. Das sei insbesondere gegenüber weiblichen Fluggästen, aber auch gegenüber Fluggästen, die aus religiösen Gründen eine Einsicht anderer in unbedeckte Bereiche ihres Körpers strikt ablehnen, rechtswidrig und unzumutbar. Technische Weiterentwicklungen der Scannertechnologie, die detailscharfe Einblicke in den unbekleideten Körper deutlich absenken, ohne den für den beabsichtigten Sicherheitsgewinn wesentlichen Durchleuchtungseffekt zu beeinträchtigen, sind unstreitig technisch noch nicht einsatzfähig.

Auch effektive Sicherheitsgewinne durch die neue Körperscanner-Technologie gegenüber den herkömmlichen Metalldetektoren sind letztlich nicht geklärt. Daher lautet ein Kritikpunkt an der Gesetzesinitiative, die Einführung der neuen Sicherheitstechnologie sei weder geeignet noch erforderlich. Der Unverhältnismäßigkeitseinwand wird auch mit der krassen Abweichung zur Kontrolle des in demselben Flugzeug mitgeführten Begleitgepäcks begründet. Während die Fluggäste nunmehr flächendeckend durchleuchtet werden sollen, werden beim Begleitgepäck im Frachtraum – was tatsächlich so vorgesehen ist – unverändert nur stichprobenartige Durchleuchtungen vorgenommen. In der Gesetzesdebatte im Bundestag wird diesem Einwand entgegengehalten, schon wenige Einzelentdeckungserfolge, die über die bisherige Technologie hinausführen, könnten die Eignung und Erforderlichkeit der neuen Technologie begründen.

Von der Fraktion „Die Linke“ wird die Frage an die Autoren der Gesetzesinitiative aufgeworfen, was mit eingescannten Daten passiere. Die Antwort lautet, grundsätzlich würden die Daten sofort gelöscht. Im Falle eines Sicherheitsbefundes, wenn also Gegenstände am Körper entdeckt werden, sei in die Scannertechnologie eine automatische Datenweiterleitung an die zuständigen staatlichen Sicherheitsbehörden integriert. Darüber kommt es im Bundestag zum Streit. Der Vorwurf der Fraktion „Die Linke“ lautet: Ihr sammelt heimlich biometrische Daten. Das sei vom Luftsicherheitsgesetz nicht gedeckt und verfassungswidrig.

Auch die Frage der administrativen Umsetzung der neuen Scannertechnologie bleibt umstritten. Die Autoren der Gesetzesinitiative teilen hierzu mit, die Sache werde wie bei der etablierten Metalldetektoren-Kontrolle und Handgepäckdurchleuchtung ablaufen. Es handele sich um eine Eigensicherung des Flughafenbetreibers, in der Regel also ein privatwirtschaftliches Unternehmen, als Teil seiner unternehmerischen Verantwortlichkeit und seines Hausrechts. Die Sicherheitskontrollen, auch die geplante neue Scannertechnologie, stellten keine Aufgabe staatlicher Sicherheitsbehörden dar. Sie würden durch private Sicherheitsunternehmen im Auftrag des Flughafenbetreibers durchgeführt. Die administrative Umsetzung hierfür bezüglich der Körperscanner sei bereits durch den Entwurf einer neuen Richtlinie des Bundesministers des Innern auf der Grundlage des Luftsicherheitsgesetzes vorbereitet. Danach werde die neue Sicherheitsvariante mit Körperscannern ebenfalls als Form der Eigensicherung durch |19|den jeweiligen Flughafenbetreiber über die zuständige Luftsicherheitsbehörde durchgeführt.

Dieses Konzept stößt auf erhebliche Kritik im Bundestag. Mehrere Abgeordnete vertreten den Standpunkt, die neue Kontrolle mit Körperscannern an Flughäfen sei aufgrund der Eingriffe in Persönlichkeitsrechte und der vorgesehenen hoheitlichen Auswertung und Speicherung gescannter Daten eine hoheitliche Aufgabe, die nur von staatlichen Behörden durchgeführt werden könne. Mit dieser neuen Sicherheitstechnologie seien die verfassungsrechtlichen Privatisierungsgrenzen klar überschritten. Die Autoren der Gesetzesinitiative meinen demgegenüber, einen prinzipiellen Unterschied zur bisherigen Detektorenkontrolle und Handgepäckdurchleuchtung könnten sie bei den Körperscannern nicht erkennen.

Fallfragen:

1 Ist der vorgelegte Gesetzesentwurf zur Änderung des § 5 Abs. 1 Satz 1 Luftsicherheitsgesetz mit dem Grundgesetz vereinbar?

2 Wäre eine Verfassungsbeschwerde von Frau F, einer regelmäßig ins Ausland fliegenden Geschäftsfrau, mit dem Antrag, die Verfassungswidrigkeit der geplanten Gesetzesänderung schon vor Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens festzustellen, zulässig?

Bearbeitungshinweis: Europarechtliche und datenschutzrechtliche Fragen sind nicht zu erörtern