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Vgl. BeckOGK/Müller § 2299 Rn. 13; Staudinger/Kanzleiter, 2014, § 2299 Rn. 11; MüKoBGB/Musielak, 7. Aufl. 2017, § 2299 Rn. 6.

[115]

Nach BGH v. 5.10.2010 – IV ZR 30/10, NJW 2011, 224 und BGH v. 19.12.2012 – IV ZR 207/12, ZEV 2013, 330.

Teil III Die gewillkürte Erbfolge › § 11 Die Auslegung von Verfügungen von Todes wegen

§ 11 Die Auslegung von Verfügungen von Todes wegen

Inhaltsverzeichnis

I. Allgemeines/Überblick

II. Die Auslegung von Testamenten

323

Fall 22:

Die E hinterlässt einen Miteigentumsanteil zu 1/5 an einem Grundstück, Bankguthaben i.H.v. 32.000 € sowie verschiedene Bilder ohne größeren Wert. Sie war mit M verheiratet und hatte eine Schwester S. In ihrer eigenhändig geschriebenen und unterschriebenen letztwilligen Verfügung heißt es auszugsweise:

„Lieber M, Du weißt ja am besten, dass ich leider nichts zu vererben habe. Keine Lebensversicherung, keine großen Summen Geld. Nur ein paar Bilder. Trotzdem bitte ich dich, mir ein paar Wünsche nach meinem Tod zu erfüllen. X1 soll sich ein Bild von früher aussuchen. Ebenso X2, X3, und X4. Die meisten Bilder sollst jedoch du behalten …“

M ist der Auffassung, dass er aufgrund der letztwilligen Verfügung zum Alleinerben berufen sei. Zu Recht? Lösung: → Rn. 381

Fall 23:

Die E und ihr Ehemann M haben ein eigenhändiges gemeinschaftliches Testament errichtet und es als „Unser Testament“ bezeichnet, in dem sie ihre gemeinsamen Kinder je zur Hälfte als Erben eingesetzt haben. Dabei hatten sie vergessen, die im Entwurf enthaltene gegenseitige Alleinerbeneinsetzung und die Einsetzung der Kinder als Erben des zuletzt Versterbenden (Berliner Testament) in das gemeinschaftliche Testament mit aufzunehmen. Ist M Alleinerbe? Lösung: → Rn. 382

Fall 24:

Die 50-jährige E setzte in ihrem 2001 errichteten Testament ihre neun Jahre jüngere Cousine C als Alleinerbin ein. Außerdem sah das Testament Vermächtnisse zugunsten ihrer beiden anderen Cousinen mütterlicherseits vor, die wertmäßig jeweils ca. 1/3 des Vermögens der E ausmachten. Die väterliche Seite wurde im Testament nicht bedacht. Als E stirbt, war C bereits vorverstorben. Cʼs Tochter T beantragt einen Erbschein als Alleinerbin mit der Begründung, dass sie Ersatzerbin ihrer vorverstorbenen Mutter geworden sei. Zu Recht? Lösung: → Rn. 383

Literatur:

Brox, Der Bundesgerichtshof und die Andeutungstheorie, JA 1984, 549; Dietz, Zur Auslegung eines Testaments, ZEV 2009, 241; Dressler, Der erbrechtliche Auslegungsvertrag – Gestaltungshilfe bei einvernehmlichen Nachlassregelungen, ZEV 1999, 289; Eidenfeld, Auslegungsprobleme bei Wünschen des Erblassers: Erbenbindung oder moralischer Appell? ZEV 2004, 141; Foerste, Die Form des Testaments als Grenze seiner Auslegung, DNotZ 1993, 84; Gerhards, Ergänzende Testamentsauslegung und Formvorschriften („Andeutungstheorie“), JuS 1994, 642; Litzenburger, Auslegung und Gestaltung erbrechtlicher Zuwendungen an Schwiegerkinder, ZEV 2003, 385; Mayer, Auslegungsgrundsätze und Urkundsgestaltung im Erbrecht, DNotZ 1998, 772; Musielak, Zur ergänzenden Testamentsauslegung, ZEV 2009, 249; Petersen, Die Auslegung von letztwilligen Verfügungen, JURA 2005, 597; Smid, Probleme bei der Auslegung letztwilliger Verfügungen, JuS 1987, 283; Wellenhofer, Ergänzende Testamentsauslegung bei unvorhergesehenem Vermögenserwerb, JuS 2018, 74; Wolf/Gangel, Der nicht formgerecht erklärte Erblasserwille und die Auslegungsfähigkeit eindeutiger testamentarischer Verfügungen, JuS 1983, 663.

Teil III Die gewillkürte Erbfolge › § 11 Die Auslegung von Verfügungen von Todes wegen › I. Allgemeines/Überblick

I. Allgemeines/Überblick

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Ebenso wie andere Willenserklärungen sind auch Verfügungen von Todes wegen häufig auslegungsbedürftig. Dabei gelten jedoch aufgrund der speziellen Charakteristika einige Besonderheiten, wobei zwischen Testamenten einerseits und gemeinschaftlichen Testamenten sowie Erbverträgen andererseits zu differenzieren ist: Beim Testament als nicht empfangsbedürftiger Willenserklärung geht es allein darum, den wirklichen Willen des Erblassers zu erforschen (§ 133, → Rn. 325 ff.), bei gemeinschaftlichen Testamenten und Erbverträgen gelten hingegen grundsätzlich die allgemeinen Regeln für die Auslegung von Verträgen (§§ 133, 157, → Rn. 374 ff.). Darüber hinaus enthält das Gesetz eine ganze Reihe spezieller Auslegungsregeln für Fällen, in denen die Auslegung nach den allgemeinen Regeln nicht zu einem eindeutigen Ergebnis führt (→ Rn. 344 ff.).

Teil III Die gewillkürte Erbfolge › § 11 Die Auslegung von Verfügungen von Todes wegen › II. Die Auslegung von Testamenten

II. Die Auslegung von Testamenten

1. Erforschung des wirklichen Willens des Erblassers (§ 133)

325

Ziel der Auslegung eines Testaments ist die Ermittlung des wirklichen Willens des Erblassers (§ 133).[1] Der sog. „objektive Empfängerhorizont“ ist hingegen nicht zu berücksichtigen, da das Testament keine empfangsbedürftige Willenserklärung ist; daher ist auch § 157 auf die Auslegung eines Testaments nicht anwendbar.[2] Irrelevant ist auch ein etwaiger „Horizont des von der Verfügung Betroffenen“, da es beim Testament aufgrund der freien Widerruflichkeit (→ Rn. 186 ff.) keinen Vertrauensschutz gibt.[3]

2. Verhältnis von Auslegung und Anfechtung

326

Die Auslegung hat Vorrang vor der Anfechtung, weil sie dem Willen des Erblassers zur Wirksamkeit verhilft, während die Anfechtung die Verfügung von Todes wegen vernichtet[4] (die Anfechtung kassiert nur, aber sie reformiert nicht[5]). Dieses Ergebnis wird durch die Anforderungen, die § 2078 an die Anfechtbarkeit stellt (→ Rn. 390 ff.), bestätigt: Denn ob Wille und Erklärung auseinanderfallen oder ob ein Motivirrtum vorliegt, kann erst festgestellt werden, wenn durch Auslegung der rechtliche Inhalt der Erklärung ermittelt wurde.[6]

3. Auslegung und Form

a) Die sog. Andeutungstheorie

327

Nach ständiger Rechtsprechung findet die Auslegung darin ihre Grenze, dass der Wille des Erblassers im Testament selbst eine hinreichende Stütze gefunden haben muss (sog. Andeutungstheorie).[7]

In der Literatur stößt die Andeutungstheorie allerdings teilweise auf Kritik.[8] Ihr wird entgegengehalten, dass sie die gesetzlichen Formvorschriften überspanne.[9] Der Schutz vor Übereilung werde schon dadurch erreicht, dass der Erblasser das Testament niedergeschrieben und in dem Sinne verstanden hat, den er ihm beilegen wollte.[10] Die Andeutungstheorie führe außerdem zu Zufälligkeiten und Rechtsunsicherheit, weil sie von der unkalkulierbaren Entscheidungen des Richters abhängt, ob die geforderte Andeutung im Testament zu finden ist.[11] Der weitschweifende Erblasser wird daher zu Unrecht gegenüber dem knapp formulierenden bevorzugt.[12]

Trotz dieser Kritik ist im Grundsatz an der Andeutungstheorie festzuhalten. Nur der erklärte Wille ist hinreichend verfestigt und so aus dem Stadium der Willensbildung herausgetreten, dass er Rechtsfolgen herbeizuführen vermag. Außerdem würde eine Auslegung, die den Erblasserwillen zum alleinigen Maßstab nehmen würde, die gesetzlichen Formerfordernisse für Testamente außer Acht lassen. Die Form soll insb. den Erblasser dazu veranlassen, sich selbst darüber klar zu werden, welchen Inhalt seine Verfügung von Todes wegen haben soll.[13] Für die angeblichen Rechtsunsicherheiten und Wortklaubereien haben die Kritiker keine wirklich treffenden Beispiele aus der Rechtspraxis vorweisen können. Zudem lassen sich auch die Fälle der sog. falsa demonstratio mit der Andeutungstheorie angemessen lösen (→ Rn. 329 f.).

Schließlich besteht auch kein wirklicher Widerspruch zwischen der Andeutungstheorie und der Zulässigkeit der sog. ergänzenden Auslegung (→ Rn. 335 ff.): Bei der ergänzenden Auslegung muss eben gerade nicht das Ergebnis der Lückenschließung selbst in der Urkunde enthalten sein, sondern die Anknüpfungspunkte für die vorzunehmende Auslegung in Bezug auf den „hypothetischen Willen“ der Erblassers.[14]

328

In der Praxis spielt die Andeutungstheorie eine wichtige Rolle.[15] Ohne sie müsste über jede Parteibehauptung bezüglich eines angeblichen Erblasserwillens Beweis erhoben werden. Da die Beweiswürdigung nicht in jedem Fall verfälschende Behauptungen als solche entlarven wird, bietet nur die Andeutungstheorie einen ausreichenden Schutz des erklärten Erblasserwillens. Für sie sprechen außerdem prozessökonomische Gründe: Der Richter muss nicht zunächst umfänglich bezüglich des Erblasserwillens Beweis erheben und sodann prüfen, ob dieser formgültig erklärt wurde.

b) Konsequenzen der Andeutungstheorie

329

Bei Falschbezeichnungen ist zwischen bewussten und unbewussten Falschbezeichnungen zu unterscheiden. Die bewusste Falschbezeichnung ist aus der Sicht des Erblassers der zutreffende Ausdruck des Gemeinten (falsa demonstratio non nocet).[16]

Schulbeispiel

ist der Erblasser, der seinen Weinvorrat als „Bibliothek“ zu bezeichnen pflegt und ihn unter dieser Bezeichnung auch vermacht. Aufgrund des besonderen Sprachgebrauchs des Erblassers – und nicht nur, weil er innerlich den Weinvorrat vermachen wollte – ist der Weinvorrat zumindest im Testament angedeutet.[17]

330

Die unbewusste Falschbezeichnung, die auf einem Erklärungs- oder Inhaltsirrtum beruht, kann auch dem Problemkreis der irrtümlichen Verfügungen zugeordnet werden. Die Verfügung gilt dann mit ihrem objektiv eindeutigen Gehalt und kann nicht durch Auslegung dem eigentlichen Willen des Erblassers angepasst werden; hier hilft ggf. nur die Anfechtung (→ Rn. 384 ff.).[18]

331

Unterbliebene Verfügungen – sei es aufgrund der Zerstreutheit des Erblassers oder aufgrund eines Motivirrtums – können nicht durch Auslegung ersetzt werden. Vermacht der Erblasser lediglich die Flurstücke 31 und 32 gesondert und vergisst das Flurstück 30, so kann das Vermächtnis nicht im Wege der Auslegung auf das letztere Flurstück erstreckt werden. Zwar hat der BGH einen ähnlichen, sich jedoch auf einen Vertragsschluss beziehenden Fall als unschädliche Falschbezeichnung gewertet.[19] Dieses Ergebnis lässt sich zwar mit den Anforderungen aus Treu und Glauben (§ 157) begründen; § 157 ist jedoch auf die Auslegung von Testamenten gerade nicht anwendbar (→ Rn. 325). Das Ziel des Erblassers kann auch hier allenfalls durch eine Anfechtung erreicht werden.[20]

332

Der Auslegung zugänglich sind auch scheinbar eindeutige Erklärungen.[21] Ein eindeutiger Wortlaut ist nicht die Grenze, sondern das Ergebnis der Auslegung. Der Wortlaut hat jedoch die Vermutung, den Willen des Erblassers wiederzugeben, für sich, sodass an eine abweichende Auslegung strenge Beweisanforderungen zu stellen sind. Häufig sind Fälle, in denen der Erblasser einen Begriff gebraucht, dem in der Fachsprache eine feste Bedeutung zukommt, der in der Alltagssprache jedoch unscharf verwendet wird.

So kann z.B. bei der testamentarischen Anordnung einer Vor- und Nacherbschaft in der Bezeichnung des Vorerben als „Alleinerben“ die Andeutung eines Willens gesehen werden, den Vorerben von den Verfügungsbeschränkungen der §§ 2113 ff. (→ Rn. 759 ff.) zu befreien.[22]

4. Maßgeblicher Zeitpunkt

333

Maßgebend für die Auslegung ist nur der bei der Errichtung des Testaments vorhanden gewesene Wille des Erblassers.[23] Später eintretende Umstände können nur Bedeutung erlangen, soweit sie Rückschlüsse auf den Willen des Erblassers im Zeitpunkt der Testamentserrichtung zulassen.[24] Andernfalls würden die Formanforderungen für Testamente bzw. Widerrufe umgangen werden.

5. Berücksichtigungsfähige Umstände

334

Auszugehen ist vom Wortlaut der Erklärung.[25] Man darf sich jedoch nicht auf eine Analyse des Wortlauts beschränken, muss diesen gleichsam „hinterfragen“, um festzustellen, was der Erblasser tatsächlich gewollt hat.[26] Zur Ermittlung des Erblasserwillens sind auch alle zugänglichen Umständen außerhalb der Testamentsurkunde auszuwerten, die zur Ermittlung des Erblasserwillens beitragen können.[27]

Zu berücksichtigen ist der Textzusammenhang, der sich sowohl aus dem Sinnzusammenhang der einzelnen Sätze als auch aus seiner (grafischen) Anordnung ergeben kann.[28] Die Testamentsform spielt insoweit eine Rolle, als beim eigenhändigen Testament die Begriffe in der Regel alltagssprachlich, beim öffentlichen hingegen fachsprachlich gebraucht werden.[29]

Herangezogen werden können auch andere frühere Erklärungen des Erblassers.[30] Wenn mehrere Testament vorliegen, die sich nach dem Willen des Erblassers ergänzen sollen, so bilden die Testamente in ihrer Gesamtheit die Erklärung des Erblasserwillens; zur Ermittlung des Inhalts jeder einzelnen Verfügung sind daher sämtliche Testamente heranzuziehen.[31] Unproblematisch ist die Heranziehung früherer Erklärungen auch, wenn durch die spätere Verfügung nur eine frühere ergänzt oder präzisiert wird.[32] Formnichtige oder widerrufene frühere Verfügungen sind nur zu berücksichtigen, wenn sie den in der späteren Verfügung angedeuteten Willen verdeutlichen[33]; nicht jedoch, um die spätere Verfügung durch eine weitere Anordnung zu ergänzen[34]. Zur Auslegung herangezogen werden können ferner grundsätzlich auch bloße Entwürfe; hier ist allerdings stets zu berücksichtigen, dass Textunterschiede auch ein Hinweis auf eine Willensänderung sein können.[35]

6. Ergänzende Auslegung

335

Im Zeitraum zwischen der Errichtung des Testaments und dem Erbfall ergeben sich häufig Veränderungen, die der Erblasser nicht vorausgesehen hat. Konsequenz ist, dass im Zeitpunkt des Erbfalls keine Regelung vorhanden ist, die diesen veränderten Umständen Rechnung trägt. Zur Schließung solcher Lücken im Testament dient die sog. ergänzende Auslegung.[36] Ein vorschneller Rückgriff auf das gesetzliche Erbrecht würde in diesen Fällen der grundsätzlichen Entscheidung des BGB für den Vorrang der privatautonom gestalteten Erbregelung zuwiderlaufen. Für eine ergänzende Auslegung besteht daher jedenfalls in den Fällen ein Bedürfnis, in denen der Erblasser es nicht in der Hand hatte, nachträgliche Lücken durch neue letztwillige Verfügungen zu schließen.

336

Die Zulässigkeit der ergänzenden Testamentsauslegung ist heute allgemein anerkannt.[37] Zwar findet sich im BGB keine ausdrückliche Rechtsgrundlage, jedoch lässt sie sich auf den Sinn und Zweck des § 2084 stützen, möglichst der testamentarischen Regelung zur Wirksamkeit zu verhelfen.[38] Zudem finden sich im BGB eine Reihe von Bestimmungen, in denen nachträglich entstandene Lücken des Testaments durch zusätzliche Verfügungsinhalte geschlossen werden können (z.B. § 2069, 2169 Abs. 3 oder § 2173, → Rn. 351 ff., 913 f.); diese waren vom Gesetzgeber nicht als Ausnahmen gedacht, sondern sind Ausdruck eines allgemeinen Grundgedankens.[39]

337

Voraussetzung für die ergänzende Testamentsauslegung ist zunächst eine planwidrige Lücke.[40] Eine solche liegt vor, wenn ein bestimmter, tatsächlich eingetretener Fall vom Erblasser nicht bedacht und deshalb nicht geregelt wurde, aber geregelt worden wäre, wenn ihn der Erblasser bedacht hätte.[41] Maßgeblich ist insoweit eine wertende Gesamtbetrachtung aller Umstände bei Testamentserrichtung.[42] Wenn der Erblasser dagegen bewusst Lücken gelassen (z.B. bewusst nur über einen Teil seines Vermögens verfügt hat[43] oder bewusst keinen Ersatzerben eingesetzt hat[44]), ist eine ergänzende Auslegung weder zulässig noch geboten, sondern würde vielmehr dem Ziel, dem wirklichen Willen des Erblassers zur Geltung zu verhelfen, zuwiderlaufen.

338

Liegt eine planwidrige Regelungslücke vor, so ist zu prüfen, ob ein hypothetischer Wille des Erblassers ermittelt werden kann, anhand dessen die vorhandene Lücke geschlossen werden könnte.[45] Maßgeblich ist nicht der mutmaßliche wirkliche Wille des Erblassers, sondern vielmehr der Wille, den er vermutlich gehabt hätte, wenn er die planwidrige Unvollkommenheit der letztwilligen Verfügung im Zeitpunkt ihrer Errichtung erkannt hätte.[46] Spätere (reale) Äußerungen des Erblassers können nur herangezogen werden, soweit sich aus ihnen Rückschlüsse auf den Willen im Zeitpunkt der Testamentserrichtung ziehen lassen; andernfalls würden durch die ergänzende Auslegung die Formvorschriften des Widerrufs umgangen werden.[47] Grenzen für die ergänzende Testamentsauslegung ergeben sich zudem aus den gesetzlichen Formerfordernissen und den allgemeinen Grundsätzen der Andeutungstheorie: Durch die ergänzende Auslegung darf kein Wille in das Testament hingetragen werden, der darin nicht wenigstens andeutungsweise ausgedrückt ist.[48] Lässt sich nach diesen Grundsätzen kein hypothetischer Wille des Erblassers feststellen, so muss es trotz vorhandener Regelungslücke beim bisherigen Auslegungsergebnis bleiben.[49]

Insb. ist es auch nicht möglich, das Rechtsinstitut der Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313) heranzuziehen; denn dieses wurde für schuldrechtliche Austauschverträge entwickelt und ist daher auf eine unentgeltliche erbrechtliche Zuwendung nicht anwendbar.[50]

339

Typische Fälle, in denen eine ergänzende Auslegung in Betracht kommt, sind[51]: Vorversterben einer bedachten natürlichen Person[52], Erlöschen oder Insolvenz einer bedachten juristischen Person[53], Hinzutreten weiterer Personen[54], Veränderungen hinsichtlich des vermachten Gegenstandes[55], Veränderungen in der Vermögenssituation des Erblassers (z.B. unerwarteter Vermögenserwerb[56]), Änderung der Rechtslage[57] oder inflationäre Geldentwertung[58].

7. Wohlwollende Auslegung (§ 2084)

340

Wenn der Inhalt einer letztwilligen Verfügung verschiedene Auslegungen zulässt, so ist gem. § 2084 im Zweifel diejenige Auslegung vorzuziehen, bei welcher die Verfügung Erfolg haben kann (sog. wohlwollende Auslegung – benigna interpretatio). Zweck der Vorschrift ist es, dem Testierwillen des Erblassers soweit wie möglich zur rechtlichen Geltung zu verhelfen.[59] Mit „Erfolg“ ist deshalb nicht etwa schlicht die Rechtswirksamkeit der Verfügung gemeint, sondern die rechtswirksame Erreichung des vom Erblasser gewollten Ziels der Verfügung.[60] Bei diesem Verständnis erscheint § 2084 nicht als Gegensatz, sondern als besondere Ausprägung von § 133.[61]

341

Neben der gewöhnlichen (erläuternden) Auslegung (→ Rn. 325 ff.), und der ergänzenden Auslegung (→ Rn. 335 ff.) sowie der Umdeutung (→ Rn. 343) verbleibt für die Vorschrift des § 2084 nur noch ein eingeschränkter Anwendungsbereich. Erfasst sind nur die Fälle, in denen ein gültiges Testament vorliegt und die Auslegung zu keinem eindeutigen Ergebnis führt.[62] Ist der Wille des Erblassers hingegen gerade auf den zur Unwirksamkeit führenden Inhalt gerichtet, kommt nur eine Umdeutung in Betracht.[63] Kein Raum für § 2084 ist im Hinblick auf die Beurteilung, ob überhaupt eine Willenserklärung des Erblassers vorliegt oder ob es sich um einen bloßen Entwurf handelt.[64] Ebenso wenig ist § 2084 anwendbar, wenn Zweifel in Bezug auf die Einhaltung der Formerfordernisse bestehen (z.B. bezüglich der Frage, ob Text und/oder Unterschrift eigenhändig vom Erblasser geschrieben wurden).[65]

342

§ 2084 ist allerdings analog anwendbar, wenn es um die Frage geht, ob eine Verfügung von Todes wegen oder ein Rechtsgeschäft unter Lebenden vorliegt; wenn die Erklärung nur bei einer dieser Deutungen rechtlichen Erfolg haben kann, ist dieser der Vorzug zu geben.[66]

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