Buch lesen: «Wie ich Betti nach drei Monaten im Schrank wiederfand», Seite 4

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8. Büro Fischer

Muckel sitzt vor seinem penibel aufgeräumten Schreibtisch. Auf dem liegen als Zeichen des neuen Minimalismus das aufgeschlagene Notizbuch und die ausgedruckte Vermisstenmeldung. Er hat den Kopf in die Hände gestützt und sein Blick schwenkt von dem aus dem Gedächtnis reproduzierten Smiley mit Vampirzähnen zu dem durchgestrichenen Dollarzeichen und bleibt auf dem Herz mit den Initialen L&M hängen.

»Liebe und Hass. In derselben Familie. Geld? Firma Everphase? Zahlt Tilman Strauch? Alles überprüfen.«

»Herr Muckel, Sie sollen sofort zum Chef kommen, zu dem oben. Dalli, hieß es.«

Gaby Kleinschmidt, die Assistentin der Polizeiinspektion, hat die Tür bereits hinter sich zugezogen.

»Halt, warten Sie! Zu welchem Chef denn? Meinen Sie etwa den Herrn Kriminaloberrat? Muss ich die Unterlagen mitnehmen? Meine Aufzeichnungen? Um was geht es?« Er starrt auf die Tür, die ihn unerbittlich anschweigt. »Klar doch, er will das mit den Vampirzähnen sehen. Ein Dollarzeichen ist immens wichtig. Er wird staunen, was ich herausgefunden habe.«

Die Vermisstenanzeige wird mit einer Büroklammer an sein Notizbuch geheftet, wobei er lange überlegt, welche Farbe angemessen scheint. Er entscheidet sich für Grün.

»Die Hoffnung.«

Vor der Tür eilt er noch einmal zum Schreibtisch zurück, zieht die Schublade oben links auf und wechselt die Heftklammer.

»Grün würde falsche Erwartungen wecken. Weiß vermittelt Anstand, Friede, Neutralität. Damit wird er erkennen, dass ich unvoreingenommen an die Sache herangehe.«

Kriminaloberrat Hubert Fischer bietet ihm den Sessel vor dem Schreibtisch an. Muckel justiert die Höhe und sucht umständlich den Hebel, um den Winkel der Rückenlehne senkrechter zu stellen. Fischer bleibt geduldig und wartet ab, bis Muckel die perfekte Sitzposition gefunden hat.

»Herr Muckel, ich habe Sie kommen lassen, um mit Ihnen über den Fall der verschwundenen Bettina Hofer-Rohwinkel zu sprechen.«

Muckel möchte die Chance nutzen und entfernt mit einer symbolischen Geste die Klammer vom Notizbuch. Enttäuscht bemerkt er, dass Fischer mit einer Handbewegung abwinkt.

»Heute keine Details, es geht um das Prinzip Ihrer Ermittlungen. Herr Muckel, Sie wissen, dass wir hier in der Polizeiinspektion unter ganz besonderer Beobachtung stehen. Außerdem ist Ihre Abteilung für Entführungen nicht zuständig. Allein aufgrund der vorliegenden Morddrohung haben wir Sie als unseren fähigsten Mitarbeiter mit der Leitung beauftragt.«

Bis hierhin hat ihn Muckel ausreden lassen, doch sieht sich jetzt genötigt, Einspruch einzulegen. »Ich kann hier nicht der fähigste Mitarbeiter sein. Ich bin lediglich Kriminaloberkommissar und wir haben in der Dienststelle zwei Hauptkommissare. Die wären …«

»Herr Muckel, nun stellen Sie Ihre Genialität mal nicht unter den Scheffel. Immerhin haben Sie bislang ganz allein drei harte Fälle geknackt. Die Angelegenheit Hofer-Rohwinkel ist allerdings sehr speziell und heikel. Die Anordnung, hier mit Augenmaß und äußerst behutsam vorzugehen, kommt von ganz, ganz oben.«

Das wird der Moment, an dem Muckel entgeistert an die Decke starrt, zehn Sekunden sinniert und mit vibrierender Stimme nachfragt.

»Sie meinen, Gott gibt Ihnen direkte Anweisungen? Wenn Sie mit ihm sprechen können, sind Sie ja ein Prophet, ein Verkünder göttlicher Botschaften.«

Fischer sieht ihn verblüfft an und lacht laut auf.

»Ich sehe, Humor haben Sie auch. Das gefällt mir. Nein, hier geht es um rein weltliche Dinge.«

Muckel zählt an den Fingern ab, lenkt den Blick auf die Handinnenfläche, als ob dort etwas notiert wäre.

»Dann kann es nur der Innenminister sein.«

Fischer wiegt den Kopf.

»Keine Namen. Aber Sie berichten nur mir persönlich. Aus Ihrer Akte habe ich entnommen, dass Sie ausführliche Tagesberichte schreiben. Dreißig bis fünfzig Seiten, steht hier. Ausgezeichnet, Hochachtung.«

Muckel reißt die Augen auf. »Nein, das darf ich nicht mehr. Das war …«

Er wird durch eine Handbewegung unterbrochen.

»Ihre Bescheidenheit in Ehren, doch hier handelt es sich um einen Fall von höchster politischer Bedeutung. Natürlich ist es Ihre Aufgabe, die vermisste Hofer-Rohwinkel aufzufinden, lebendig oder schlimmstenfalls ihre Leiche. Dann aber auch den Mörder, ist das klar? Alles, was damit ursächlich in Zusammenhang steht. Mehr nicht. Haben wir uns verstanden, Herr Muckel?«

Der blickt irritiert in das Notizbuch, sein Blick gleitet zur Vermisstenanzeige. Er nimmt die Dokumente in die rechte Hand und möchte sie wie zwei Spielkarten auffächern. Das misslingt, das A4-Blatt lässt wie zur Selbstaufgabe den Kopf hängen.

»Wir ermitteln doch immer ursächlich. Ehrlich gesagt habe ich Sie jetzt nicht genau verstanden.«

Fischer erhebt sich, schreitet würdevoll um den Schreibtisch herum, um Muckel auf die rechte Schulter zu klopfen. »Ich mag ehrliche Mitarbeiter. Eventuell ist ein täglicher Bericht überzogen. Einigen wir uns so: Sobald es etwas Wichtiges gibt, informieren Sie mich unverzüglich. Ich bin an sieben Tagen vierundzwanzig Stunden für Sie erreichbar.«

Muckel sieht auf die Armbanduhr.

»Ich arbeite gar keine vierundzwanzig Stunden.«

Sein Blick gleitet zum Kalender.

»Auch nicht sieben Tage.« Fischers Schulterklopfen wird so stark, dass Muckel die linke Hand zur Hilfe nehmen muss, um den zusammengefallenen Fächer zu sichern.

»Herr Muckel, irgendwie mag ich Ihren Humor. Damit Sie sehen, wie sehr ich Ihre Aufgabe würdige, bekommen Sie ab morgen Kommissar Brand zur Seite gestellt. Herr Brand ist ein äußerst gewissenhafter und kompetenter Mitarbeiter, den die Kollegen aus Hamburg jetzt schon vermissen. Also, Herr Muckel, machen Sie sich unverzüglich an die Arbeit.«

Der schafft es, das aufgeschlagene Notizbuch demonstrativ in die Höhe zu halten.

»Ich habe hier Vampirzähne, Dollarzeichen, Herz und ein Sektglas.«

Fischer verstärkt das Schulterklopfen noch einmal. »Sehr gut. An Ihrer Stelle würde ich mir das Sektglas vornehmen. Hört sich gefährlich nach Mata Hari an.«

Muckels Fingerkuppe bleibt auf dem Sektglas hängen.

»Mata Hari wurde aber schon 1917 in Frankreich hingerichtet.«

Bevor er sich ein weiteres Schulterklopfen einfängt, springt er einen Meter zurück. Dafür bekommt er Fischers Zeigefinger auf die Brust gedrückt.

»Ich wusste doch, dass Sie genial sind. Herrn Brand lernen Sie morgen kennen. Sie haben also noch den ganzen Nachmittag Zeit, um Mata Hari allein zu überführen.

Hahaha!«

9. Küche Klamm

Es riecht süßlich. Die Parfümmarke ist ihm entfallen, aber seine Verlobte hatte vor drei Jahren eine ähnlich penetrante Duftnote benutzt, die er ihr ausreden konnte. An der Garderobe hängt ein roter String-Tanga und auf dem Küchentisch steht ein halb volles Sektglas.

»Kommen Sie rein, Herr Kommissar. Ist Ihnen die Küche recht? Haben Sie meine Schwester gefunden? Nein? Es heißt doch, nach fünf Tagen sinkt die Chance unter zehn Prozent. Schade, ich habe so an ihr gehangen.«

Sie streicht mit roten Fingernägeln über den Satinmorgenrock und legt ihre nackten Füße auf den Stuhl, auf den er sich setzen wollte. Als er bemerkt, dass ihr Morgenrock entschieden zu hoch gerutscht ist, entscheidet er sich für einen Platz auf der Eckbank gegenüber.

»Die Chance sinkt statistisch gesehen auf acht Prozent. Aber das hängt davon ab, ob es auf dem Land oder in der Stadt passiert ist.«

Sie nickt ihm anerkennend zu.

»Wow, acht Prozent. Das ist ja so gut wie tot. Arme Betti. Prost! Auf dass die Füchse dich nicht annagen.«

Er runzelt die Stirn.

Sie leert das Glas in einem Zug. An ihrem schleppenden Ausdruck erkennt er, dass sie leicht alkoholisiert ist. Dabei fallen ihm die Sprüche der Mutter ein: Kindermund tut Wahrheit kund und Alkohol lockert die Zunge. Er entscheidet sich, darin ein positives Vorzeichen seiner Befragung zu sehen.

»Füchse? Welche Füchse denn?«

»Hunde, Wölfe, Füchse, eben alles, was so im Wald herumläuft und ihre Leiche ausscharrt.«

Muckel starrt mit offenem Mund auf die freie Seite in seinem Notizbuch, nimmt den Stift in die Hand und sieht sich die Spitze an.

»Sie sind Judit Klamm, geborene Hofer, neunundzwanzig Jahre alt, Hausfrau, verheiratet mit Doktor Lars Klamm, Chirurg. Sie sind die Schwester der vermissten Bettina Hofer-Rohwinkel, ist das korrekt?«

Er hat sich entschieden, auf der Seite entsteht ein neues stilisiertes Sektglas. Das vermittelt Kontinuität.

»Fast alles richtig. Nur ›vermisst‹ stelle ich infrage. Nach fünf Tagen ist sie hin. Acht Prozent bedeutet das doch. Oder was denken Sie? Tut mir leid, der Kaffee ist aus. Darf ich Ihnen ein Gläschen Sekt anbieten?«

»Vielen Dank, ich trinke kein Alkohol und bin außerdem im Dienst. Sie haben recht. Die Wahrscheinlichkeit, Ihre Schwester zu finden, sinkt mit jedem Tag. Deswegen ist auch die kleinste Spur wichtig. Hatten Sie denn ein gutes Verhältnis zu ihr?«

Die Frage veranlasst Judit Klamm, unschlüssig in ihr leeres Glas zu schauen, zum Kühlschrank zu gehen und sich nachzuschütten.

»Verhältnis? Das allerbeste, das man mit einer Schwester haben kann, die mir schon in der Schule die Jungs ausgespannt hat. Und Sie möchten nicht ein klitzekleines Gläschen mittrinken? Nur so zur Gesellschaft?«

Er schüttelt den Kopf und blickt auf ihre zitternde Hand.

»Nein, vielen Dank. Kennen Sie Mata Hari?«

Sie wirft die Haare zurück und legt die Arme in den Nacken.

»Mata Hari. Was für ein Vorbild! Sexy, klug, reich und für alle Angebote offen. Leider wurde ihr das zum Verhängnis. Wie so vielen schönen Frauen. Herr Kommissar, finden Sie mich ebenso attraktiv wie diese Spionin?«

»Bleiben wir bei Ihrer Schwester Bettina. Sie stehen also nicht besonders gut zueinander?«

Sie hat bemerkt, dass sie ein wenig zu offenherzig wirkt und schließt den dritten Knopf von oben. Als sie ihre Beine auf den Stuhl legt, vergisst sie, den Morgenrock hochzuziehen. Muckels Versuch misslingt, einen stilisierten String-Tanga auf das Blatt zu bringen. Er wird eine Banane, der ein Heftpflaster überklebt wurde.

»Doch, doch, wir standen perfekt zueinander. Ich habe oft versucht, ihr nachzueifern. Sie wissen schon, Erfolg bei Männern und so. Aber da ist sie mir meilenweit überlegen. Ich kann einfach nicht die falsche Schlange spielen, das liegt mir nicht. Dafür bin ich zu ehrlich. Obwohl … für hingehauchte Liebesschwüre Kohle zu kassieren, das hat was. Sagte ich schon, dass sie mir da meilenweit überlegen ist? Entschuldigung … war.«

Die Zeichnung einer sich kringelnden Schlange gelingt ihm deutlich besser als der String-Tanga.

»Was meinen Sie denn mit ›für Liebesschwüre Kohle kassieren‹?«

»Ich meine überhaupt nichts, ich weiß es. In der Schule hat sie es für die Lösung der Matheaufgaben gemacht. An der Uni hat nach drei Semestern selbst der notgeilste Professor herausgefunden, dass ein 1-A-Fick keine Klausur mit leerem Blatt ersetzt. Aber es laufen ja so viele einseitig gepolte Männer herum, dumm und mit Taschen voller Geld. Sie nennt sich ja auch nicht Prostituierte, obwohl es darauf hinausläuft. Sie begleitet die Herren auf ihren geschäftlichen und gesellschaftlichen Anlässen. Sechshundert pro Tag habe ich gehört. Die Nacht ist dabei inklusive. Nein, selbst wenn ich wollte, so etwas könnte ich nicht.«

Der letzte Satz klang ein wenig traurig. Aus den Worten ›geschäftliche und gesellschaftliche Anlässe‹ vermeinte er, Eifersucht herausgehört zu haben. Seine Schlange auf dem Blatt bekommt einen Blitz zugewiesen, der in Richtung eines großen ›B‹ geschleudert wird.

»Sie meinen, Ihre Schwester arbeitet als Edelprostituierte?«

»Escort-Dame, es heißt Escort. Aber wenn Sie es genau wissen wollen, müssen Sie ihren Chef Paolo fragen. Der besorgt ihr die Kunden.«

Auf dem Blatt entsteht ein ›P‹, das mit einem Pfeil auf ›B‹ zeigt. Sie erkennt seinen fragenden Blick.

»Moment, hat Ihnen Jens etwa erzählt, sie sei Assistentin der Geschäftsführung? Ja, er prahlt gerne mit ihr. Geschäftsführung, dass ich nicht lache. Das ist ein Vier-Mann-Laden und Bettina ist dort als Billigtippse angestellt. Wenn Sie mich fragen, ist das eine Scheinfirma und Paolo verdient ausschließlich im Rotlicht. Aber nicht so billige Lampen im Schaufenster, nein, es ist ein Luxusrotlicht unter dem Mohair-Mantel. Sie verstehen?«

Muckel starrt fasziniert auf ihre Zunge, die über die Oberlippe züngelt.

»Ein Licht unter einem Mantel? Ein neues Polysem. Aber noch habe ich es nicht durchschaut.«

»Wie bitte?«

»Weiß denn ihr Mann Jens Rohwinkel von der Angelegenheit?«

»Jens? Der ist doch zu einfältig, um in ihr die Schlange zu durchschauen. Wenn Sie mich fragen, sie bleibt nur bei ihm, weil so eine Familie eine perfekte Tarnung darstellt. Dabei hätte Jens etwas viel Besseres verdient als so eine Schlampe.«

Muckel erspart sich die Frage, wer denn diese Bessere sein könnte. Er sieht in sein Notizbuch, das ihm für den heutigen Tag mit Buchstaben, Bananen, Schlangen und Blitzen überfrachtet erscheint. Daher verabschiedet er sich höflich.

»Das sollte an Informationen reichen. Noch mehr wird mir Frau Doktor mir auf keinen Fall gestatten.«

»Sie haben die Erlaubnis, mich alles über Bettina zu fragen, was Sie möchten. Das bin ich ihr schuldig.«

»Erlaubnis? Sie meinen, ich dürfte dann doch noch mehr …?«

Ihre Hand greift nach dem Sektglas, er erhält ein Lächeln und ein Nicken. Vergeblich versucht er, eine Querverbindung zwischen Judit Klamm und seiner Therapeutin zu erkennen.

»Nein, Sie dürfen mir überhaupt keine Erlaubnis erteilen. Dazu ist eine jahrelange Ausbildung nötig.«

Sie haucht ihm ins Ohr. Ihr Alkohol steigt ihm in die Nase, sodass er niesen muss.

»Ich brauche keine Ausbildung, ich bin ein Naturtalent.«

Als sie ihn zur Haustür begleitet, bemerkt sie an der Garderobe ihren roten Slip.

»Oh, Herr Kommissar, Sie benötigen dringend ein Lesezeichen für Ihr wichtiges Buch. Damit werden Sie den Fall blitzschnell lösen.«

Er sieht sich das rote Teil näher an, denn die Frage scheint berechtigt. Dann kommt er zum Entschluss, dass ein derartiges Hilfsmittel bei vier ausgefüllten Seiten im Notizbuch nicht zwingend notwendig sein wird.

»Vielen Dank. Ich soll mich nur auf das Wesentliche konzentrieren.«

Sie lässt den roten Slip vor seinen Augen hin und her pendeln. Hinter ihm erklingt bis zur Haustür ihr vulgäres Gackern. Wie hört sich dann erst das Lachen der Frau an, die sie als Schlange bezeichnet hat?

10. Wohnzimmer Rohwinkel

Ha! Dieser Kommissar Muckel hält sich für Sherlock Holmes, nur weil er ein paar Milligramm von dem weißen Pulver gefunden hat. Da soll er erst mal nachweisen, dass unsere Familie damit etwas zu tun hat. Aber er war zu blöd, meine Taschen umzukrempeln. Speed, Ecstasy, den ganzen Schrott habe ich ohnehin nicht nötig. Ich bin von Natur aus gut drauf. Doch wenn sie den Brief gefunden hätten, dann stände im Notizbuch des merkwürdigen Kommissars nicht nur ein durchgestrichenes Dollarzeichen, sondern ein Gitter mit einem Gesicht dahinter. Meinem.

Er würde es einfach nicht verstehen, was Betti mir damit sagen wollte. Eigentlich war es ihr eigener Hilferuf und stellvertretend hat sie mich angeschrieben. Das macht nur jemand, bei dem das Urvertrauen in die Partnerschaft ungestört ist. So wie zwischen Betti und mir. Gut, sie kann sich nicht besonders verständlich ausdrücken, aber ich verfüge ja über eine flexible Auffassungsgabe.

Lieber Jens, steht hier.

Das zeigt doch, dass alles in Ordnung mit uns ist.

Weder ›Jens, es reicht jetzt‹, noch ein ›Jens, ich habe die Schnauze voll‹.

Nein, nur Lieber Jens.

Ich musste bei dieser Einleitung die Augen schließen und daran denken, wie es war, als wir uns das erste Mal geküsst haben. Dann die Hochzeit. Ich durfte ihr Hochzeitskleid nicht vor der Trauung sehen. Abends hatte ihr Judit vorne ein Glas Rotwein draufgekippt. Der Fleck ging nicht raus. Betti hatte geheult und ich sie mit meinen Küssen getröstet. Danach kam noch einiges mehr, das bei mir Tränen der Erinnerung hervorruft. Wie gesagt, was ihr heute missfällt, hat mit ihrer Überarbeitung und der hohen psychischen Belastung zu tun.

Lieber Jens, für unsere Beziehung sehe ich schwere Zeiten voraus, und ich habe starke Zweifel, ob wir das noch einmal hinbekommen. Meine Probleme kenne ich zur Genüge und weiß, dass es so nicht weitergehen kann. Was mir jedoch viel größere Sorgen bereitet, sind deine Schwierigkeiten. Nicht die Defizite als solches, jeder Mensch besitzt irgendwelche Schwachstellen. Bei dir ist es leider so, dass du sie total ausblendest und sie nicht wahrhaben willst. Dabei legst du zusätzlich eine Selbstüberschätzung an den Tag, die es dir nicht mehr möglich macht, Realität und Wunschvorstellung auseinanderzuhalten. Wirf einfach mal einen Blick auf deine Kontoauszüge und erkläre mir, wieso du der Meinung bist, ein erfolgreicher Geschäftsmann zu sein? Wie kommst du auf die Idee, mein Chef Paolo wäre ein ehrlicher Geschäftspartner? Welche Idioten haben dich dazu überredet, gebrauchte Akkus zu verkaufen und zwei Jahre Garantie darauf zu geben? Warum denkst du, dass ich die beste Ehefrau der Welt bin, wo ich doch die schlechteste bin. Wieso bist du überzeugt, das zwischen dir und Judit würde niemand wissen? Alle haben das mitbekommen.

Mein lieber Jens, du lebst in einer Traumwelt, aus der du dringend aussteigen musst. Was du in dir trägst, ist eine ernsthafte psychische Störung. So, und jetzt kommt die Forderung deiner Noch-Ehefrau Bettina. Du gehst zu einer Beratung, denn so etwas gehört in professionelle Hände. Im Gegenzug verspreche ich dir, auch für meine Probleme einen Therapeuten aufzusuchen. Ich erwarte eine Antwort bis morgen, sonst bin ich weg. Und noch was, wenn ich mich nicht um dich kümmere, wirst du wohl für den Rest deines Lebens auf einer Parkbank übernachten müssen. Also tu was!

Wie gesagt, ein Hilferuf, den ich ernst nehme. Ich meine, das mit ihrer Therapie. Dass sie als Frau natürlich von Geschäftsmodellen mit technischem Hintergrund keine Ahnung hat, kann ich ihr nicht ankreiden. Und dass dieser Paolo ein grundehrlicher Geschäftsfreund ist, dem ich die besten Kontakte zu verdanken habe, blendet sie einfach aus. Und so schlimm, wie sie sich selbst beschreibt, ist sie als Ehefrau wirklich nicht.

Allerdings war es gut, dass Kommissar Muckel den Brief in meiner Hosentasche nicht gefunden hat. Dieses ›Wenn du …‹ in Verbindung mit einem ›Dann bin ich weg …‹, das könnte er völlig falsch auslegen. Ein weites Feld für Spekulationen stände offen.

»So eine Therapie kam für Sie natürlich nicht in Frage. Verlassen zu werden auch nicht. Da blieb für Sie nur der eine Ausweg. Sie wissen schon, was ich damit andeute.« Das würde er einwenden.

Oder noch schlimmer. »Sie wollte Ihre psychischen Störungen überall publik machen. Wie bringt ein Psychopath seine Frau zum Schweigen, Herr Rohwinkel?«

Nein, den Brief darf niemand finden. Aber was, wenn sie ihre unsinnigen Vermutungen weitergegeben hat? Ich sehe Schwiegermonster Hildegard schon mit dem Finger auf mich zeigen. »Ein Psycho wie er geht nicht freiwillig in die Therapie, er beseitigt die einzige Zeugin, meine geliebte Betti.«

Das ist es, wo ich dringend dran arbeiten muss. Ein Gutachten. Jawohl, ich benötige von einer anerkannten Koryphäe eine Bescheinigung, dass mit mir alles in Ordnung ist. So oberstübchenmäßig. Das sollte ein Psychologe eigentlich in zwei bis drei Minuten herausgefunden haben. Gut, die schriftliche Bestätigung dauert noch mal ein paar Sekunden. Mehr Zeit möchte ich für so einen unnötigen Schwachsinn nicht investieren. Nicht dass ich mit so einem Waschzettel sofort zu Polizei renne, aber es ist immer besser, etwas in der Hinterhand zu haben. Rückversicherung für den Fall der Fälle.

Ich habe mir schon eine Wunschkandidatin aus den Gelben Seiten herausgesucht. Frauen haben für Bettis Probleme sicher ein perfektes Händchen und werden mich umso eher verstehen. Ihr Name erzeugt bei mir positive Schwingungen: Frau Doktor Elisabeth Hahnemann. Das kommt gleich nach Frau Doktor Bachblüte oder noch besser: Frau Doktor Feng Shui.

Hihihi.