Buch lesen: «Wie ich Betti nach drei Monaten im Schrank wiederfand», Seite 2

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3. Büro Muckel, nachmittags

Miriam bekommt soeben eine wichtige Nachricht, deswegen kann sie dem Kommissar nicht die Hand reichen. Seine fühlt sich ohnehin schlabberig an, überhaupt nicht wie der ehrliche Händedruck eines Mannes. Dafür ist der Schreibtisch im Vergleich zu meinem akkurat aufgeräumt. Ich habe schon lange vermutet, dass die im Fernsehen lügen. Es liegen keine Akten herum und die obligatorische Kaffeetasse fehlt. Er spitzt seinen Bleistift, während Miriam genervt in ihr Handy schreit.

»Du spinnst ja total, Alte!«

Der Ruf hat Muckels wichtige Arbeit unterbrochen. Er war damit beschäftigt, hinter einer Wand aus zwei hochgestellten Büchern drei weiße Blätter sorgfältig auszurichten.

»Wer ist bitte die ›Alte‹?«

Er kann nicht wissen, dass alle weiblichen Kontakte auf ihrem Handy grundsätzlich die ›Alten‹ sind, wobei die Jungs die ehrenvolle Bezeichnung ›Digger‹ tragen.

»Saskia. Die macht wieder krass ätzend.«

Ich erkenne, wie Muckel die Augenbrauen hebt. Da bin ich ihm mit meiner Kenntnis der Jugendsprache weit voraus. Er startet den Versuch, ihren bedeutungsschwangeren Satz aufzuschreiben, hält dann mitten in der Bewegung inne, um mir eine Frage zu stellen.

»Herr Rohwinkel, Sie wollten bei der Befragung Ihrer vierzehnjährigen Tochter Miriam dabei sein. Deswegen nehme ich gleich die Aussagen von Ihnen beiden auf.«

»Das ist auch besser so. Eure Polizeitricks kenne ich. Ihr belabert sie so lange, bis sie davon überzeugt ist, dass nur ich der Mörder sein kann.«

Es ist erschreckend, dass der Kommissar bei so einem plumpen Scherz die Augen aufreißt.

»Und? Sind Sie es denn?«

Sein Bleistift bleibt regungslos über dem linken Blatt hängen. Scheiße, was habe ich gerade gesagt? Das wird er doch wohl nicht …?

»Waas? Nun reden Sie mal nicht so einen Quatsch. Überhaupt, wer sagt denn, dass Betti tot ist. Ich als Ehemann würde das merken. Nein, meine geliebte Frau ist entführt worden. Bald wird jemand Lösegeld verlangen. So ist das doch immer, wenn man die übrigen Möglichkeiten ausschließen kann.«

Der Kommissar bewegt nacheinander die Finger der rechten Hand. Zählt er etwa die Optionen ab?

»Hat sich denn dieser Jemand schon bei Ihnen gemeldet?«

»Nein, aber das wird jede Minute passieren.«

Jetzt sieht er auf die Uhr. Wenn ein Experte für Entführungen so eine Reaktion zeigt, sollte ich langsam anfangen, das Lösegeld zusammenzukratzen.

»Sind Sie denn so wohlhabend, dass sich eine Erpressung lohnen würde?«

Jetzt als Millionär aufzutreten erzeugt nur Neid.

»Ich möchte die Leistung meiner Firma Everphase nicht unter den Scheffel stellen, doch mit dem Konzept Refurbishing und Recycling von Akkus haben wir einen Meilenstein gesetzt. Das startet ausgesprochen hoffnungsvoll.«

Er weiß nicht, dass ich über seine provisorische Blicksperre hinwegsehen kann, wenn ich mich etwas aufrecht setze. Aber wieso kritzelt er auf das leere Blatt ein Dollarzeichen und dahinter ein Fragezeichen?

»Refurbishing? Hat das was mit Umtausch zu tun?«

»Nein. Aus Alt mach Neu. Unsere aufbereiteten Akkus sind so gut wie neuwertig und kosten nur die Hälfte.«

»Reparierte Akkus? Lohnt sich das denn? Ich meine, kauft die jemand?«

»Doch schon. Die Umsätze steigen jedes Jahr zweistellig.«

Ich erkenne, wie er das Dollarzeichen mit einem kräftigen Kreuz durchstreicht. Unverschämtheit. Er starrt auf das Blatt. Sein Mund bewegt sich, ohne dass ich etwas hören kann. Dann sieht er mich an.

»Haben Sie einen Verdacht, wo sich Ihre Frau aufhalten könnte?«

»Nein, sagte ich doch schon. Sie kam abends nicht nach Hause und ihr Wagen stand nicht da. Im Backofen war kein Abendessen und wir mussten uns Pizza liefern lassen.«

Der Mund des Kommissars bleibt leicht geöffnet. Der Bleistift deutet in die linke, dann in die rechte Ecke.

»War das normal? Ist sie schon früher über Nacht weggeblieben?«

So heftig habe ich noch nie den Kopf geschüttelt und muss vorsichtig im Nacken nachfühlen. Bei so drastischen Halsbewegungen kann leicht etwas ausrenken.

»Was denken Sie nur? Wenn, dann fahren wir zusammen irgendwo hin. Ins Restaurant, ins Theater oder zu einer Vernissage.«

Es wäre besser gewesen, Miriam auf dem Flur sitzen zu lassen. Sie hat die besondere Gabe, sich dann einzumischen, wenn es gerade ungünstig ist.

»Da fährst du nie mit ihr hin. Restaurant? Dass ich nicht lache. Mit dir geht es maximal zum Mac, aber auch nur, wenn ich lange genug meckere und der Kühlschrank wieder leer ist. Ihr fahrt nirgendwo hin und du weißt ja noch nicht mal, was eine Vernissage ist.«

Rotzgöre. Dafür gibt es nur eine Strafe.

»Miriam, halt die Klappe, sonst kriegst du das Nokia.«

Ha, damit hab ich sie. Hausarrest, Taschengeldentzug, alles Babykacke gegen die Androhung, ihr iPhone 8 in ein Nokia 3310 zu verwandeln. Damals, das war vor fast zwanzig Jahren, da konnte ich mit dem Ding bewundernde Blicke auf mich ziehen. Es funktioniert immer noch, aber wenn ich es ihr nur zeige, folgt ein Schreikrampf mit roten Flecken am Hals.

Wieso malt er schon wieder ein Fragezeichen auf sein Blatt? Miriams Antwort scheint keinen Eindruck hinterlassen zu haben und er sieht mich freundlich an.

»Ich möchte die Frage präzisieren. Wo arbeitet Ihre Frau?«

Na klar, den Gatti sollte er dringend überprüfen. Die Italiener sind ja bekannt für Entführungen mit Lösegelderpressung. Und schleimig genug sieht er aus. Na ja, zumindest stimmt das Geld, dann darf er sich meinetwegen die Haare kiloweise mit Pomade einschmieren.

»Betti ist bei der Firma Gatti GmbH als Assistentin der Geschäftsführung angestellt. Das ist eine sehr verantwortungsvolle Position.«

Wieso notiert er das nicht? Immerhin nickt er.

»Und sie hat immer pünktlich Feierabend und kommt dann direkt nach Hause?«

Er weiß tatsächlich nicht, wie aufreibend so eine Tätigkeit als Assistentin sein kann.

»Das mag bei Ihnen bei der Polizei so sein. Nein, sie trägt jede Menge Verantwortung. Bilanzen bis spät abends, Vorbereitung der Meetings, dann oft mehrere Tage auf einem Kongress. Aber das stimmen wir immer ab. Einvernehmlich natürlich.«

»Und an dem Tag wussten Sie nichts von einem Termin, der ihr Fortbleiben erklären könnte?«

Er hat null Checkung. Der Kommissar hat keine Ahnung, wie das harte Leben in der freien Wirtschaft abläuft. Also werde ich ihm das ganz behutsam verklickern. Ich will ihn ja nicht beleidigen.

»Ihr mit euren regelmäßigen Feierabenden habt doch keinen Schimmer, wie hart ein richtiger Beruf sein kann. Natürlich kommt es vor, dass sie länger arbeiten muss, oder später noch mal los, um was zu erledigen. So, nun verrate ich Ihnen mal was. Haben Sie schon mal die ganze Nacht durchgearbeitet und dann den nächsten Tag auch? Sehen Sie. Meine Bettina ist da anders gestrickt als ihr Sesselfurzer, die kann das. Und wenn ihr Auto nicht vor dem Haus steht, ist sie in der Firma. Hart schuften, falls der Begriff Ihnen was sagt.«

Ha, jetzt hab ich den Kommissar aber drangekriegt und er ist verschämt zurückgezuckt. Das wäre für ihn der richtige Zeitpunkt, das Feld zu räumen, doch er sieht mich fragend an.

»Tatsächlich, ihr Wagen steht immer noch auf dem Firmenparkplatz. Aber dort ist sie nicht. Ihre Aussagen widersprechen sich irgendwie. Anfangs hatten Sie zu Protokoll gegeben, Ihre Frau würde über Nacht niemals wegbleiben. Daraus ist vor zwei Minuten ›regelmäßig‹ geworden. Seltsam. Haben Sie denn nie Argwohn gehegt und sich gefragt, ob sie eine heimliche Beziehung hat? Einen Freund, einen Geliebten oder etwas in der Art?«

»Nein, sagte ich doch, unsere Ehe beruht auf Vertrauen und Ehrlichkeit. Außerdem lieben wir uns über alles. Warum also sollte sie dann einen anderen wollen?«

Jetzt erkenne ich, dass er einen fetten Punkt neben das Fragezeichen gesetzt hat. Die Antwort hat gesessen und er sieht etwas ratlos Miriam an. Doch die hat keine Zeit, ihr Handy hat soeben ein wichtiges Ping von sich gegeben.

»Miriam, wie siehst du das?«

»Wie sehe ich was?«

Braves Mädchen. Mit solchen Gegenfragen bekommt man einen Kommissar ganz schnell in die Klapse.

»Die Frage war, ob es möglich sein kann, dass deine Mutter einen Geliebten hat. Vielleicht eine geheime Beziehung oder etwas Ähnliches?«

»Warum denn das? Sie haben doch gehört, meine Eltern lieben sich so furchtbar.«

Das war jetzt deutlich zu dick aufgetragen. Außerdem klang ihre Stimme nicht überzeugend. Eher wie: »Sie wollen mir weismachen, das Nokia 3310 wäre besser als mein iPhone 8?«

Der Kommissar öffnet die rechte untere Schublade. Sein Gesichtsausdruck verrät mir, dass er dort die geheimsten Dokumente aufbewahrt, doch es wird nur ein einziges Blatt. Er legt es umgedreht auf den Tisch, will mich damit nervös machen. Ha, bei einem Unschuldigen funktioniert das nicht. Nur Miriam rutscht unruhig hin und her. Weiß sie mehr als ich? Deshalb sieht er sie besonders scharf an.

»Du bleibst also dabei, dass dir eine Liebesbeziehung deiner Mutter unbekannt ist? Und Sie, Herr Rohwinkel, wissen auch nichts von einem Geliebten?«

»Ich verbitte mir solche Unterstellungen. Allein das Wort ›Geliebter‹ hört sich aus Ihrem Mund unanständig und falsch an. Wenn ich Ihnen sage, es gibt da nichts, dann ist das so. Basta.«

Er schaut meine Tochter schon wieder so durchdringend an. »Du weißt, dass du hier bei der Wahrheit bleiben musst.« Sie hat leider für so einen Schwachsinn keine Zeit, denn es hat erneut Ping gemacht.

»Oh, die Alte nervt. Da geh ich nicht dran. Was sagten Sie noch mal, wobei soll ich bleiben?«

Jetzt hat sie die Spielregeln kapiert. Bald haben wir ihn so weit und er wird zu seinen Pillen greifen, zu den grünen.

»Nun gut. Dann verraten Sie mir bitte, was Sie auf diesem Bild erkennen.«

Er dreht das Blatt um.

Der Begriff ist nicht oft angebracht, außerdem klingt er ordinär und unanständig. Aber jetzt wäre ›heilige Scheiße!‹ der passende Ausdruck. Meine in mühevoller Schweißarbeit zerrissenen Schnipsel wurden sorgfältig zusammengeklebt. Für so etwas gibt es spezielle Software, habe ich gelesen. Die Schredderdokumente der Stasi haben die sogar wieder zusammengeflickt. Aber das Foto so zu behandeln ist eine Unverschämtheit. Und woher hat er das überhaupt? Das lag in meinem privaten Mülleimer. Illegal beschaffte Beweismittel sind das. So etwas ist verboten. Glaube ich jedenfalls. Jetzt heißt es, ruhig zu bleiben.

»Keine Ahnung. Ich erkenne da nichts. Das ist ja komplett in Fetzen. Wer zum Henker soll aus dem Wirrwarr was deuten können?«

Er nickt, also habe ich recht. Hoffentlich kann Miriam diesmal ihre vorlaute Klappe halten. Sie kann.

»Ich sehe auch nichts. Was soll das denn sein?«

»Nun, lassen Sie es mich so ausdrücken. Meine drei Kollegen und ich sind uns hundert Prozent einig, dass es sich hier um Ihre Frau Bettina handelt. Das, was die beiden auf dem Foto durchführen, wird im Fachlexikon für sexuelle Praktiken als ›Coitus a Tergo‹ bezeichnet. Den deutschen Begriff Hündchenstellung halte ich dagegen für ordinär. Es wäre sehr hilfreich, wenn Sie mir jetzt noch den Namen des jungen Mannes auf dem Bild nennen könnten. Wie gesagt, wir ermitteln in alle Richtungen. Sie möchten doch Ihre Frau und du deine Mutter wiederhaben, oder?«

Miriam ist schneller als ich.

»A Tergo heißt das? Ist ja krass.«

So, jetzt bin ich dran.

»Ich weiß nicht, woher Sie das haben, aber Bettina kann das auf den Schnipseln unmöglich sein. Das liegt ausschließlich daran, dass ihr so viele ähnlich sehen. Gehen Sie doch nur einmal durch die Stadt, halten das Blatt hoch und fragen, ob jemand sie erkennt. Dann bekommen Sie spielend hundert Frauen zusammen.«

»Wir haben das Bild aber nicht aus der Stadt, es lag vor Ihrem Haus in Ihrer Mülltonne.«

Dürfen die das? Zugegeben, ich hätte das Foto doch runterschlucken sollen. Das hatte ich ja versucht, sogar noch, als die Zunge von der scharfen Kante blutete. Aber ich bekam ein Würgegefühl und habe es dann aufgegeben. Jetzt fällt mir wieder ein, dass die natürlich immer in der Mülltonne rumwühlen. Meine stille Hoffnung bestand darin, dass es durch ekelige Küchenabfälle ausreichend abgedeckt wäre. Mist, ich hatte vergessen, dass Betti nicht da war und die harten Pizzaränder immer noch in der Küche herumgammeln.

»Die Mülltonne ist frei zugänglich. Jeder kann das da reingeworfen haben. Ein Pornofoto aus dem Internet, das jemand loswerden wollte. Oder so.«

Jetzt nickt sogar Miriam.

»Wir haben auf dem Bild Fingerabdrücke von drei Personen gefunden. Und Blutspuren. Wir möchten ausschließen, dass es Ihre sind. Den Fall einer vermissten Ehefrau nehmen wir genauso ernst wie Sie. Deswegen wird es Ihnen sicher nichts ausmachen, uns Ihre Abdrücke als Vergleich zu überlassen. Eine Speichelprobe für den DNA-Abgleich ist ebenfalls Standard.«

Miriam rutscht tiefer in den Stuhl und tippt wie verrückt auf dem Handy, das sie verkehrt herum hält. Da ich ein absolut reines Gewissen habe, kann er die Abdrücke ruhig nehmen.

»Aber klar doch, ich mache ja alles mit. Nur finden Sie dann bitte Betti. Wir vermissen sie sehr.«

Habe ich da von Miriam einen ungläubigen Blick geerntet? Das mit dem Vermissen stimmt tatsächlich. Noch heute Morgen hat sie es mir gestanden.

»Wann kommt Mama endlich nach Hause? Dein Müsli ist voll ekelig. Igitt, Rosinen? Du weißt doch, dass ich die hasse wie die Pest.«

Weil ich absolut unschuldig bin, können sie mir auch nichts nachweisen. Sie dürfen von mir aus alle Proben nehmen, die sie benötigen. Dieser hartnäckige Kommissar deutet auf das Foto, das wie eine Anklageschrift vor ihm auf dem Schreibtisch liegt.

»Sehen Sie bitte noch einmal genau hin. Das Bild wurde mit einem Teleobjektiv durch ein Fenster in einem Raum mit Bett aufgenommen. Kann es sein, dass es Ihr Schlafzimmer ist?«

»Nie und nimmer. Wer zum Henker sollte das machen? Warum auch? Und so komische bunte Bettwäsche haben wir sicher nicht. Wenn Sie mich fragen, das wurde in irgendeinem billigen Pornostudio gedreht. Nein, so einen Schmutz lassen wir uns nicht unterjubeln, Herr Kommissar.«

Er macht mit dem Bleistift in den gezeichneten Kreis einen dicken Punkt. Dabei ist ihm die Bleistiftspitze abgebrochen und er pustet die Brösel vom Tisch. »Gut, zur Sicherheit müssen wir noch einmal Ihre Wohnung besichtigen. Machen Sie sich keine Sorgen, das ist eine Routineprozedur.«

»Im Keller ist sie nicht, falls Sie das meinen, da habe ich schon nachgesehen. Sogar die Auszugsleiter zum Dachboden bin ich hochgestiegen. Mit Taschenlampe. Sie suchen am falschen Ort, bei uns gibt es nicht das kleinste Fitzelchen eines Beweises.«

Glaube ich jedenfalls. Aber er hört sowieso nicht hin.

»Und den jungen Mann auf dem Bild kennen Sie mit Sicherheit nicht?«

Er schwenkt das Foto so dicht vor meiner Nase, dass ich zurückzucke. Miriam muss wenige Sekunden später eine ähnliche Tortur ertragen. Dabei schüttelt sie heftig mit dem Kopf und das Handy fliegt ihr aus der Hand. Aber ich darf dem Kommissar ruhig etwas zum Nachdenken dalassen.

»Doch, jetzt wo Sie es sagen. Er hat eine gewisse Ähnlichkeit mit Til Schweiger. Bettina kann sich über seine Filme totlachen.«

Der Kommissar hebt den Zeigefinger und sieht mich vorwurfsvoll an.

»Haben Sie soeben ›totlachen‹ gesagt? Soll das etwa ein Hinweis sein?«

Er kritzelt erregt auf dem Zettel herum. Ausgerechnet jetzt kann ich nichts erkennen, denn er hält die Hand davor.

»Sie sorgen sich auf eine sehr merkwürdige Art um Ihre Frau. Was das zu bedeuten hat, finde ich noch heraus.«

Oha. Bei ihm muss ich wohl jedes Wort auf die Goldwaage legen. Aber totgelacht hat sich Betti bestimmt nicht.

4. Praxis Doktor Hahnemann

Die sechs DIN-A4-Bögen liegen akkurat vor ihm auf dem Schreibtisch. Da der Platz nicht ausreichte, sah er sich gezwungen, ihre Fachbücher, den Standbehälter mit Kugelschreibern sowie ein gerahmtes Bild zur Seite zu schieben.

»So wird es gehen. Obwohl? Mir wäre es lieber, es bliebe etwas mehr Platz dazwischen. Eine fehlende Distanz kann zu völlig falschen Ergebnissen führen.«

Die blondierte Mittdreißigerin gegenüber lässt den Kugelschreiber in der linken Hand rotieren. Irritiert sieht er dem Spiel zu. Dabei verrutscht sein Ellbogen und verschiebt das rechte der sorgfältig ausgerichteten Blätter.

»Oh, Entschuldigung. Die Übersicht. Das war mein Fehler.«

»Herr Muckel, Sie sind hier, weil Sie sich zu viel Sorgen machen. Ihre Ängste, etwas zu übersehen, nicht aufgeschrieben zu haben oder falsch aufzufassen, die erzeugen Stress. Der bewirkt eine Rückkopplung und Sie verlieren sich in Details. Ihr Verlangen nach Perfektion und die Ansprüche werden dadurch höher und Sie sind mit Ihren Leistungen nie zufrieden. Damit rennen Sie in eine Sackgasse, in der es nur einen Ausweg gibt: umkehren und in die entgegengesetzte Richtung gehen.«

Sie bemerkt, dass er irritiert auf den rotierenden Kugelschreiber starrt und auf dem Stuhl hin und her rutscht. Er versuchte mehrmals, sie zu unterbrechen, doch sie redete unbeirrt weiter. Erst jetzt bekommt er Gelegenheit, seinen Standpunkt darzulegen.

»Warum entgegengesetzt? Ist es denn falsch, den Job besonders gut machen zu wollen?«

Sie schlägt ihre Beine übereinander. Umständlich entnimmt sie dem Behälter für die Kugelschreiber eine lange Haarnadel und steckt sie sich in den Haarknoten, der vorher bereits perfekt saß. Er runzelt die Stirn, greift zum Stift und möchte etwas zu Papier bringen. Dann stoppt er unvermittelt die Bewegung und platziert ihn wieder exakt mittig über dem linken Blatt.

»Sehen Sie, das, was Sie soeben veranstaltet haben, war eindeutig ein Anzeichen Ihrer Psychose. Sie ist bekannt als anankastische Persönlichkeitsstörung. Damit sind Sie nicht in der Lage, wichtige Dinge von unwichtigen zu unterscheiden. Sie bestehen auf Ihren Prinzipien und Normen und können es schwer ertragen, davon abzuweichen. Was wollten Sie gerade aufschreiben?«

Er stutzt, überlegt, ob er es zugeben soll.

»Ich fand es merkwürdig, dass Sie sich bei unserem Gespräch Zeit für Ihr Haar nehmen. Außerdem ist eine zusätzliche Haarnadel unnötig, sie hat keinen praktischen Nutzen. Das wollte ich skizzieren und zu meinen Aufzeichnungen legen.«

Sie schmunzelt. Es fällt ihm schwer, nicht nach dem Stift zu greifen. Stattdessen versucht er, den Ausdruck in ihrem Gesicht einzuordnen. Für ein Auslachen ist es nicht ausdrucksstark genug. Aber was fand sie lustig?

»Steht die Nadel in meinem Haar in irgendeinem Zusammenhang mit dem Fall, an dem Sie arbeiten?«

Seine linke Hand umkrampft die rechte, die wie ferngesteuert nach dem Stift greifen möchte.

»Der Fall? Haarnadel, Foto, Sektglas, Herz. Die Haarnadel durchstößt das Herz? Mit der Nadel erstochen und im Garten verscharrt? Das ist statistisch gesehen sehr unwahrscheinlich. Sie haben mit dem Fall bislang keine Berührungspunkte und wurden von mir nach anderen Kriterien ausgesucht. Ich bin hergekommen, weil, weil … Sie haben recht, das mit der Nadel muss ich überhaupt nicht notieren. Aber schaden kann es auch nicht.«

Sie sieht ihn lange scharf an, bis er den Kopf hängen lässt.

»Es wäre überflüssig, stimmt’s?«

»Nicht nur überflüssig, es ist kontraproduktiv. Ich habe hier einen wunderbaren Tee, Melisse, Hopfen, Baldrian. Sie trinken doch mit mir einen Tee?«

Er sieht immer noch angespannt auf die sechs Blätter auf dem Schreibtisch, sucht nach einer Verbindung zwischen der Haarnadel und dem Fall.

»Ich habe verstanden. Baldrian, ja? Dabei bin ich überhaupt nicht aufgeregt oder nervös. Allerdings ist es unbefriedigend, dass ich mir unbedeutende Details merken muss.«

»Na, na. Halten Sie eine zusätzliche Nadel in meinem Haarknoten für unbedeutend?«

Er sieht sie an und errötet.

»So war das nicht gemeint. Nur mit dem aktuellen Fall kann die Nadel nicht zusammenhängen.«

Erleichtert erkennt er, dass sie nickt.

»Was würden Sie denn sagen, wenn ich Ihnen verrate, dass ich an der Nadel hänge?«

Seine Stirnfalten werden tiefer. Der Blick irrt über die sechs Blätter, dann sieht er vorwurfsvoll in ihr Gesicht.

»Sie hängen an der Nadel? Abhängig vom Heroin? Aber Sie sind meine Therapeutin, da wäre es schlecht, wenn Sie zusätzlich …«

»Ganz ruhig, Herr Muckel, tief durchatmen. Der Begriff ›An der Nadel hängen‹ ist eine Redewendung. Das Wort ›hängen‹ habe ich dabei als Polysem verwendet, da es in dem Satz unterschiedliche Bedeutungen haben kann. Es sollte ein Scherz sein.«

»Heroinsucht ist nicht witzig. Moment, Sie sagten ›hängen‹ ist was? Sie hängen an der Nadel … Sie mögen die Nadel, eigentlich Ihre Haarnadel. Sie sind überhaupt nicht süchtig, sondern in Ihre Haarnadel verliebt. Puh, ein schwieriger Witz. Ohne Ihre Hilfe wäre ich da niemals drauf gekommen.«

»Es war ein Test, ob Sie in der Lage sind, Scherze als solche zu erkennen. Im Endeffekt haben Sie ihn ja auflösen können. Sie befinden sich damit auf Stufe eins, was nicht heißt, dass es so bleiben kann. Fehlende Flexibilität im Denken und Handeln sind bei Ihrem Krankheitsbild oft so drastisch ausgebildet, dass eine Umkehr einer gefassten Meinung unmöglich wird. Herr Muckel, bei Ihnen jedoch habe ich Hoffnung, dass Sie es schaffen können.«

»Wie heißt das? Polysem? Ich werde mir ein Wörterbuch der Polyseme anschaffen und alle auswendig lernen. Dann falle ich nicht wieder so plump darauf rein.«

Dabei sieht er wie hypnotisiert auf die Nadel im Haarknoten. Auf seinem Gesicht erkennt sie die Frage, ob es möglich sein kann, an einem so banalen Hilfsmittel zu hängen.

»Nein, hören Sie sofort damit auf. Es geht hier nicht um Fachwissen, vielmehr um die Flexibilität des Geistes. Sie sollten sich niemals zu früh eine feste Meinung bilden, sondern verschiedene Optionen in Erwägung ziehen. So wie beim Wort ›hängen‹.«

»Aber solche Scherze dürfen Sie mit mir nicht machen. Ich hatte ernsthaft überlegt, welcher Therapeut denn wohl für eine Therapeutin zuständig ist.«

»Nun gut. Lassen Sie sehen, wie Sie meine übrigen Empfehlungen umgesetzt haben. Sie erinnern sich, warum Sie zur Therapie gekommen sind? Erklären Sie mir das bitte noch einmal aus Ihrer Sicht.«

Irritiert sieht er auf den Kugelschreiber in ihrer Hand, der die Bewegungen der Rotoren eines Helikopters imitiert.

»Es war der Zusammenbruch. Die achtundvierzig Bögen passten nicht mehr nebeneinander auf den Schreibtisch, deshalb habe ich den Fußboden dazu genommen. Das Querlesen funktionierte nur unzureichend. Bei jeder Zeugenbefragung hatte ich zwanzig eng beschriebene Seiten notiert. Beim Nachschlagen kam ich durcheinander. Ich erinnere mich, dass mir schwarz vor den Augen wurde und ich Minuten später auf den Boden liegend aufwachte. Zu viele Informationen. Alle wichtig, das ist klar, das kann nur ein Großrechner des FBI bewältigen. Aber die können meine Notizen bestimmt nicht lesen. Ich war so verzweifelt, dass ich, dass ich …«

Er greift zum Tee, nimmt vorsichtig zwei Schluck. Sie erkennt, dass er sich bemüht, nicht das Gesicht zu verziehen.

»… dass Sie einen Zusammenbruch bekamen. Und nicht nur einmal.«

Sie nickt ihm aufmunternd zu.

»Genau aus dem Grund habe ich vorgeschlagen, das Ganze minimalistisch anzugehen. Sie sollten unbedeutende Details ausblenden und sich pro Tag nur einen einzigen Stichpunkt herausgreifen. Keinen Text, nur einfache Symbole. Wie ich sehe, hat das ja wunderbar geklappt. Erklären Sie mir anhand der Beispiele auf den Blättern bitte, was Sie bewegt hat. Ich möchte weder Namen noch Details hören. Ich bin eine unbeteiligte Person und werde das auch bleiben.«

Als er zum Stift greifen will, sieht er ihr Kopfschütteln. Also legt er seine Hände auf den Tisch und startet mit Blatt eins oben links.

»Ein Smiley mit Vampirzähnen. Die zeichnete ich erst nachträglich hinein, nachdem ich ihre Aussage zunächst amüsant fand. Ihren Hass auf ihn habe ich noch nicht ganz verstanden. Da muss mehr sein als ein Fuchteln mit der Kettensäge in ihre Richtung. Das, was die Dame da über ihn behauptet, hat tief greifende Ursachen.«

»Sehen Sie, Herr Muckel, das war es auch schon. Sie können alle anderen Zettel zerreißen. Ein einziger Anhaltspunkt, ein Ansatz. So einfach ist das. Wir treffen uns übermorgen. Dann möchte ich von Ihnen ein weiteres Symbol. Und legen Sie sich ein Notizbuch zu! Oberkommissare schreiben nicht auf losen Blättern. Aber ich warne Sie, maximal eine Seite pro Befragung und davon merken Sie sich nur ein einziges Icon. Schluss mit Ihrem Drang nach Perfektionismus, fünf Prozent Erfolg sind für heute genug. Sie müssen sich daran gewöhnen, schluderig zu arbeiten. So, jetzt sehen Sie sich das Vampir-Smiley noch einmal an und dann ab in den Papierkorb mit allen Blättern.«

Er sieht sie an, als hätte sie ihm befohlen, vor einen fahrenden Zug zu springen.

»Ein Smiley … das sind … Moment, eins von zweiunddreißig Symbolen, das sind nur drei Prozent, nicht fünf.«

Ihr Zeigefinger deutet erbarmungslos auf den Papierkorb. Seine Hand zittert, als er die gesammelten Informationen dem Eimer überlässt.

Er schließt die Tür hinter sich und sie hört auf dem Flur ein unterdrücktes Schniefen.