Lagezentrum: Ein Luke Stone Thriller – Buch 3

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Aus der Reihe: Ein Luke Stone Thriller #3
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„Es war keine offizielle Anfrage, wie Sie sich vielleicht aufgrund der Situation vorstellen können“, sagte er. „Vielleicht beunruhigt es Sie zu hören, dass die chinesische Regierung nichts von Ihrer Existenz zu wissen scheint. Es gibt keine Schulaufzeichnungen, keine Arbeitsaufzeichnungen, keine Heimatstadt oder Familienverhältnisse. Wir haben ihnen einen Scan von Ihrem Pass geschickt und sie haben uns gesagt, dass es sich um eine raffinierte Fälschung handelt.“

Li starrte geradeaus. Er reagierte nicht.

Luke pausierte einen Moment. Es gab keinen Grund, überflüssig Konversation zu führen. Er wusste, wie schnell Agenten weich wurden, wenn ihre Vorgesetzten sie im Stich ließen. Weich werden war vielleicht nicht das richtige Wort. Manchmal wechselten sie sogar ohne jeden Widerstand die Seiten.

„Li, haben Sie mich gehört? Sie werden Sie nicht beschützen. Sie werden nicht davonkommen. Sie haben die Pillen nicht genommen, als Sie die Chance dazu hatten und jetzt sind Sie hier. Es gibt keinen Ausweg. Laut Ihrer Regierung existieren Sie nicht und haben auch nie existiert. Die Einrichtung, in der Sie sich jetzt befinden, existiert ebenfalls nicht. Wir könnten Sie in einem Fass auf dem Meeresgrund versenken oder Sie in die Wüste schicken, wo Ihnen Geier die Augen aushacken… niemand würde es je erfahren.“

Der Mann hatte immer noch kein Wort gesagt. Er starrte einfach nur geradeaus.

„Li, was wissen Sie über den Black-Rock-Damm und wie die Schleusen geöffnet wurden?“

„Ich weiß gar nichts.“

Luke wartete ein paar Sekunden ab, dann sprach er weiter. „Nun, lassen Sie mich Ihnen sagen, was ich weiß. Laut dem aktuellen Stand sind mehr als tausend Menschen gestorben. Wissen Sie, wie sehr mich das mitnimmt? Ich will mich für jeden einzelnen Tod rächen. Ich möchte einen Sündenbock finden und ihn dafür bezahlen lassen. Sie sind der ideale Sündenbock, wissen Sie das, Li? Ein Mann, um den sich niemand kümmert, an den sich niemand erinnert und den niemand vermissen wird. Ich sage Ihnen noch etwas. Ich weiß, dass Sie trainiert wurden, einem Verhör zu widerstehen. Das macht mich nur noch glücklicher. Das bedeutet, dass ich mir Zeit lassen kann. Wir können hier tagelang oder sogar wochenlang bleiben. Wir haben Leute, die den Vorfall genau untersuchen. Sie werden schon herausfinden, was passiert ist. Wir brauchen Ihre Informationen nicht. Ehrlich gesagt will ich sie auch gar nicht. Ich will Ihnen nur wehtun. Je mehr Sie nur hier sitzen und ins Leere starren, desto höher wird mein Verlangen danach.“

Nun kniete Luke sich nieder, um in Lis Gesicht zu blicken. Er war nur wenige Zentimeter entfernt, so nah, dass sein Atem Lis Wangen berührte. „Wir werden uns hier drin ziemlich gut kennen lernen, okay, Li? Irgendwann werde ich alles über dich wissen.“

Luke warf einen Blick auf Swann. Er stand in einer Ecke nahe des stahlverstärkten Fensters. Er hatte kein Wort gesagt, seit sie hier reingekommen waren. Er blickte hinaus auf das Betongelände und die grünen Hügel, die es umgaben. Swann war ein Analytiker, jemand, der sich mit Daten auskannte. Luke konnte sich gut vorstellen, dass er noch nie darüber nachgedacht hatte, wie man an diese Daten gelangte. Todesdrohungen wie die, die er gerade ausgesprochen hatte, waren erst der Anfang.

„Li, der Mann spricht mit Ihnen“, sagte Ed.

Li gelang es zu Lächeln. Es war ein kränkliches Lächeln. „Bitte“, sagte er. „Nennen Sie mich Johnny.“

* * *

Eine Stunde verging. Luke und Ed hatten abwechselnd mit Li geredet, aber ohne wirkliche Ergebnisse. Wenn überhaupt, dann wurde Li immer selbstbewusster. Offenbar war er überzeugt, dass ein paar Schläge von Ed das Schlimmste waren, was er zu befürchten hatte.

Luke blickte erneut zu Swann.

„Ok, Swann“, sagte er. „Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt für dich, einen kleinen Spaziergang zu machen.“

Wenige Minuten zuvor hatte Luke den Schrank mit dem Schlüssel geöffnet, den Pete Winn ihm gegeben hatte. Der Schrank war eher ein kleiner Hauswirtschaftsraum als ein richtiger Schrank. Im Inneren befand sich ein ausklappbarer Tisch, etwas das aussah wie ein Bügelbrett, aber breiter und niedriger und viel stabiler. Es war etwa 2 Meter lang und 1,20 Meter breit.

Als Luke und Ed den Tisch aufbauten, machte sich eine deutliche Neigung bemerkbar. Auf der höheren Seite waren Handschellen für die Knöchel der Person, die darauf festgeschnallt werden würde. Am unteren Ende waren Lederriemen zum Festbinden der Handgelenke, in der Mitte einer für die Taille. Ganz unten befand sich außerdem ein Metallring, um den Kopf zu befestigen.

Es war eine Plattform für Waterboarding.

Als sie den Tisch herausbrachten, wurde Li sichtlich aufgeregt. Er wusste sofort, um was es sich handelte. Natürlich wusste er es. Jeder Geheimdienstagent hatte so etwas im Rahmen der Ausbildung schon einmal gesehen, egal ob Amerikaner oder Chinese. Luke hatte sogar schon einmal einer Live-Demonstration beigewohnt. Ein abgehärteter CIA-Agent, der vorher bei den Navy SEALs gewesen war und schon in zahlreichen Krisengebieten gedient hatte, war das Testsubjekt gewesen.

Wie sie diesen Mann davon überzeugt hatten, sich freiwillig zu melden, hatte Luke nie herausfinden können. Vielleicht hatte er einen ordentlichen Bonus bekommen. Der Agent hatte vor der Demonstration entspannt gewirkt. Er hatte gelacht und mit seinen späteren Folterern gewitzelt. Als die Prozedur begann, war er wie verwandelt. Es dauerte ganze vierundzwanzig Sekunden, bevor er das Sicherheitswort benutzt hatte, um den Vorgang abzubrechen.

„Das verstößt gegen die Genfer Konventionen“, sagte Li mit einem leichten Zittern in der Stimme. „Es ist gegen…“

„Soweit ich weiß, sind wir nicht in Genf“, sagte Luke. „Wir sind im Nirgendwo. Wie ich schon sagte, diese Einrichtung existiert nicht, genau so wenig wie jemand namens Li Quiangguo.“

Luke beschäftigte sich mit den anderen Utensilien, die er aus dem Schrank genommen hatte. Dazu gehörten zwei große Gießkannen, wie sie eine nette ältere Dame zur Bewässerung ihres Gartens verwenden würde. Außerdem gab es Schlösser für die Handfesseln und Lederriemen auf dem Brett. Und schließlich gab es eine Reihe von mittelgroßen schweren Stoffhandtüchern und eine Rolle Zellophan. Luke wusste zufällig, dass die CIA das Zellophan bevorzugte.

„Mann“, sagte Ed. „So etwas habe ich seit Afghanistan nicht mehr gemacht. Das ist mindestens fünf Jahre her.“

„Dann ist es bei dir noch nicht so lange her wie bei mir“, sagte Luke. „Du darfst gerne anfangen. Wie war es damals so?“

Ed zuckte die Achseln. „Beängstigend. Ein paar von denen sind uns weggestorben. Ganz anders, als andere Methoden, die ich kenne. Man kann Leute den ganzen Tag Elektroschocks verpassen, wenn die Spannung stimmt. Das tut weh, aber tötet nicht. Hier passiert das aber ganz leicht. Man kann ertrinken. Hirnschäden davontragen. Herzinfarkte erleiden. Ganz schön ätzend.“

„Hören Sie mir zu“, sagte Li. Inzwischen zitterte er am ganzen Körper. „Waterboarding verstößt gegen sämtliche Kriegsgesetze. Es wird von jedem internationalen Gremium als Folter anerkannt. Sie begehen hier eine Menschenrechtsverletzung.“

„Mann, plötzlich geht es dir nur noch um Regeln und Vorschriften“, sagte Ed. „Wenn jemand absichtlich tausende von Menschen überflutet und hunderte von ihnen umbringt, ist er für mich kein Mensch mehr. Ich würde sagen, du hast deine Menschenrechte verwirkt.“

„Jungs“, sagte Swann. „Ich fühle mich nicht wohl dabei.“

Luke sah ihn an. „Swann, ich habe dir doch gesagt, es ist ein guter Zeitpunkt, um zu gehen. Gib uns etwa 20 Minuten. Das sollte reichen.“

Swanns Gesicht wurde rot. „Luke, nach allem, was ich gehört habe, bekommt man vom Waterboarding nicht einmal vernünftige Informationen. Er wird euch nur anlügen, damit ihr aufhört.“

Swann hatte Luke noch nie in Frage gestellt. Er fragte sich, ob jetzt das erste Mal sein würde und schüttelte den Kopf.

„Swann, du darfst nicht alles glauben, was du liest. Ich habe selbst gesehen, wie man in nur wenigen Minuten verwertbare und genaue Informationen erhalten kann. Und da Herr Li hier noch länger unser Gast sein wird, können wir seine Behauptungen schnell überprüfen und sie auch noch einmal genauer miteinander besprechen, wenn sie nicht der Wahrheit entsprechen sollten. Man will diese Methode nur nicht anwenden, da sie, wie Herr Li so treffend gesagt hat, als Folter angesehen wird. Aber sie funktioniert, und unter den richtigen Umständen funktioniert sie sogar wirklich, wirklich gut.“

Luke breitete die Arme aus. „Und das sind die richtigen Umstände.“

Swann starrte ihn an. „Luke…“

Luke hob eine Hand. „Swann. Geh jetzt raus. Bitte.“ Er zeigte auf die Tür.

Swann schüttelte den Kopf. Sein Gesicht war rot geworden. Er schien jetzt auch zu zittern. „Warum hast du mich dafür überhaupt herbestellt?“, sagte er. „Ich arbeite nicht mehr für das FBI, und du auch nicht.“

Luke lächelte fast ein wenig. Er wusste nicht, was Swann wirklich dachte, aber er hätte selbst kein besseres Drehbuch schreiben können. Sie spielten guter Cop, böser Cop um das Hundertfache verstärkt.

„Früher oder später brauche ich dich noch“, sagte Luke. „Aber nicht hierfür. Und jetzt verschwinde. Bitte. Bis jetzt war ich noch höflich. In einer Minute kann ich für nichts mehr garantieren.“

„Ich werde eine formelle Beschwerde einreichen“, sagte Swann.

„Mach das. Du weißt, für wen ich arbeite. Deine Beschwerde wird direkt im Aktenvernichter landen. Das sollte dir klar sein. Aber tu dir keinen Zwang an.“

„Keine Sorge“, sagte Swann. Damit ging er zur Tür hinaus. Er zog sie fest hinter sich zu, ohne sie jedoch zuknallen zu lassen.

Luke seufzte. Er sah Ed an. „Ed, kannst du bitte die Gießkannen auffüllen? Wir werden sie gleich brauchen.“

Ed grinste teuflisch. „Mit Vergnügen.“

 

Als er die Gießkannen aufhob, starrte er Li an. Er demonstrierte seinen verrückten Blick mit weit aufgerissenen Augen, den er so gut beherrschte. Es war ein Blick, vor dem selbst Luke manchmal Angst hatte. Ed wirkte wie ein Psychopath, wenn er so aussah. Er sah aus wie jemand, dem nichts besser gefiel als Sadismus. Luke war sich manchmal nicht ganz sicher, wie Ed das schaffte. Um ehrlich zu sein, wollte er es auch nicht wissen.

„Oh, Bruder“, sagte Ed zu Li. „Das wird ein ganz schön langer Tag für dich.“

Während Ed sich in der winzigen Küche der Hütte vergnügte, schaute Luke Li genau an. Er zitterte jetzt. Sein ganzer Körper vibrierte, als würde ein schwacher Strom durch ihn fließen. Seine Augen waren groß und sahen verängstigt aus.

„Sie haben das schon einmal gesehen, nicht wahr?“, fragte Luke.

Li nickte. „Ja.“

„An Gefangenen?“

„Ja.“

„Es ist schlimm“, sagte Luke. „Es ist sehr schlimm. Niemand hält das aus.“

„Ich weiß“, sagte Li.

Luke warf einen Blick in die Küche. Ed ließ sich Zeit. „Und Ed… Sie müssen wissen, wie er ist. Er genießt so etwas.“

Li hatte keine Antwort darauf. Seine Gesichtsfarbe wandelte sich langsam von einem hellen in ein dunkles Rot. Es schien, als ob eine Explosion in ihm stattfand und er versuchte, sie einzudämmen. Er drückte seine Augen zu. Seine Zähne knirschten, dann fingen sie an zu klappern. Sein ganzer Körper begann zu zittern.

„Mir ist kalt“, sagte er. „Ich kann nicht mehr.“

In diesem Moment wurde Luke etwas klar.

„Sie haben es schon mal am eigenen Körper erfahren“, sagte er. „Von Ihren eigenen Leuten.“ Das war keine Frage. Er wusste es plötzlich instinktiv. Li war schon einmal Waterboarding ausgesetzt gewesen, und aller Wahrscheinlichkeit nach war es die chinesische Regierung gewesen, die es ihm angetan hatte.

Plötzlich öffnete sich Lis Mund wie zu einem Schrei. Es war ein stiller Schrei, seine Kiefer öffneten sich so weit es nur ging. Luke erinnerte die Grimasse an einen Werwolf, der unter brechenden Knochen die Verwandlung von einem Menschen zu einem Wolf durchmachte und vor Schmerzen heulte. Nur, dass kein Geräusch zu hören war. Fast nichts war von Li zu hören, außer ein leises, würgendes Geräusch tief in seiner Kehle.

Sein ganzer Körper war jetzt steif, jeder Muskel war angespannt, als ob er auf einem elektrischen Stuhl sitzen würde.

„Sie waren ein Verräter“, sagte Luke. „Ein Staatsfeind. Sie wurden im Gefängnis rehabilitiert. Sie haben Sie zu einem Agenten gemacht, aber nicht gerade zu einem besonders wertvollen. Jemand Entbehrliches. Darum waren Sie hier draußen im Einsatz, darum hatten Sie Zyanid-Pillen dabei. Sie sollten sich umbringen, wenn man Sie erwischt. Es stand so gut wie fest, dass man Sie schnappt, nicht wahr? Aber Sie haben es nicht getan, Li. Sie haben sich nicht umgebracht und jetzt sind wir die einzige Hoffnung, die Sie noch haben.“

„Bitte!“, schrie Li. „Bitte hören Sie auf!“

Der Körper des Mannes zitterte unkontrolliert. Mehr noch. Ein Geruch begann von ihm auszugehen. Ein dicker, feuchter Geruch nach Exkrementen.

„Oh mein Gott“, sagte er. „Oh mein Gott. Helfen Sie mir. Helfen Sie mir!“

„Was ist hier los?“, sagte Ed, als er mit den Gießkannen zurückkam. Er verzog das Gesicht, als der Geruch in seine Nase stieg. „Oh, Mann.“

Luke hob die Augenbrauen. Er hatte fast schon Mitleid mit diesem Mann. Dann dachte er an die mehr als tausend Toten und die vielen tausend, die ihr Zuhause verloren hatten. Nichts, keine noch so negative Lebenserfahrung konnte das rechtfertigen.

„Ja, Li ist ein Wrack“, sagte er. „Sieht nach einem Trauma aus. Das ist scheinbar nicht sein erstes Mal Waterboarding.“

Ed nickte. „Gut. Also weiß er schon, wie es läuft.“ Er sah auf Li herab. „Wir machen trotzdem weiter, hörst du, Kleiner? Der Geruch ist uns egal, also wenn das deine große Wette war, hat sie nicht funktioniert.“

Ed warf einen Blick auf Luke. „Ich habe das schon mal gesehen. Die Leute versuchen es, weil sie denken, dass der Geruch so übel ist, dass wir nicht weitermachen wollen. Oder dass wir vielleicht Mitleid mit ihnen haben. Was weiß ich.“

Er schüttelte den Kopf. „Der Geruch ist zwar ekelhaft, aber ich habe noch nie gesehen, dass es funktioniert. Wir wären nicht hier, wenn wir so sensibel wären, Li. Ich weiß wie Männer riechen, nachdem man sie ausweidet. Glauben Sie mir, das ist schlimmer als alles, was auf dem normalen Weg rauskommt.“

„Bitte“, sagte Li wieder. Er sprach leise, seine Stimme fast ein Flüstern. Sein Körper zitterte unkontrolliert. Er ließ den Kopf hängen und starrte auf den Boden. „Bitte tun Sie das nicht. Ich halte es nicht aus.“

„Erzählen Sie uns etwas“, sagte Luke. „Etwas Gutes, und dann sehen wir weiter. Sehen Sie mich an, Li.“

Der Kopf von Li hing jetzt noch tiefer. Er schüttelte ihn. „Ich kann nicht.“ Sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. Dann fing er an zu weinen.

„Helfen Sie mir. Bitte helfen Sie mir.“

„Sie fangen besser an zu reden“, sagte Luke. „Sonst legen wir jetzt los.“

Luke stand drei Meter entfernt und beobachtete ihn. Li saß zusammengesunken da, mit hängendem Kopf, die Arme hinter dem Rücken und immer noch am ganzen Körper zitternd. Jedes Körperteil von ihm schien sich in einem anderen Rhythmus zu bewegen. Luke sah, dass Lis Overall nun auch im Schritt nass war. Er hatte sich in die Hose gemacht.

Luke seufzte tief. Er bedauerte denjenigen, der ihn nachher sauber machen musste.

„Li?“, sagte er.

Li blickte immer noch zu Boden. Seine Stimme klang, als käme sie vom Boden eines Brunnens. „Es gibt ein Lagerhaus. Ein kleines Lagerhaus, mit einem Büro. Import chinesischer Waren. Im Büro werden Sie alles finden, was Sie brauchen.“

„Wessen Büro ist das?“, fragte Luke.

„Meins.“

„Eine Scheinfirma?“, fragte Ed.

Li versuchte, die Achseln zu zucken. Sein Körper zitterte und bebte. Seine Zähne klapperten, während er sprach. „Größtenteils. Ein wenig Geschäft haben wir schon gehabt, sonst wären wir aufgeflogen.“

„Wo ist es?“

Li murmelte etwas vor sich hin.

„Wie bitte?“, fragte Luke. „Ich kann Sie nicht hören. Wenn Sie uns verarschen, können wir immer noch anders. Ed will immer noch loslegen. Überlegen Sie es sich gut.“

„In Atlanta“, sagte Li, jetzt klar und deutlich, als ob es eine Erleichterung gewesen wäre, das loszuwerden. „Das Lagerhaus ist in Atlanta. Das war unser Hauptquartier.“

Luke lächelte.

„Geben Sie uns die genaue Adresse und wir fliegen sofort vorbei. Wir sind in ein paar Stunden wieder da.“ Er legte seine Hand auf Lis Schulter. „Gott steh Ihnen bei, wenn Sie uns anlügen.“

*

„Gut gemacht, Swann“, sagte Luke. „Ich hätte das Drehbuch selbst nicht besser schreiben können.“

„Habe ich jemals erwähnt, dass ich in der Highschool im Theaterclub war? Ich habe ein Jahr lang Mackie Messer gespielt.“

„Du hast den Beruf verfehlt“, sagte Luke. „Du hättest nach Hollywood gehen können, wenn man nach dem geht, was ich da drin gesehen habe.“

Sie bewegten sich den Betonweg hinunter zu dem wartenden schwarzen SUV. Zwei Männer in FEMA-Overalls waren gerade ausgestiegen und gingen in die Kabine. Luke blickte sich um. Überall um sie herum waren Zäune und Stacheldraht. Hinter dem nächsten Wachturm erhob sich ein steiler grüner Hang in Richtung der nördlichen Berge von Georgia.

Swann lächelte. „Ich hab mein Bestes gegeben.“

„Also ich habe es dir abgekauft“, sagte Ed.

„Naja, es war schon echt. Ich brauchte nicht groß zu schauspielern. Ich bin wirklich nicht dafür, Leute zu foltern.“

„Wir auch nicht“, sagte Ed. „Jedenfalls nicht immer.“

„Habt ihr es durchgezogen?“, fragte Swann.

Luke lächelte. „Was denkst du?“

Swann schüttelte den Kopf. „Ich war erst zehn Minuten weg, als ihr rauskamt, also denke ich nicht.“

Ed klopfte ihm auf den Rücken. „Na dann ist ja gut, du alter Datenanalytiker.“

„Was denn nun, habt ihr, oder habt ihr nicht?“, fragte Swann. „Jungs?“

Innerhalb weniger Minuten saßen die drei wieder im Hubschrauber, stiegen über dem dichten Wald auf und flogen in Richtung Süden nach Atlanta.

KAPITEL SECHS

10:05 Uhr

Marine-Observatorium – Washington, DC

„Herr Abgeordneter, danke, dass Sie gekommen sind.“

Susan Hopkins streckte dem großen Mann in seinem blauen Anzug die Hand entgegen. Michael Parowski war Abgeordneter aus dem Bundesstaat Ohio. Er hatte frühzeitig weiße Haare und zusammengekniffene, blassblaue Augen. Mit seinen 55 Jahren sah er immer noch auf eine raue Art attraktiv aus. In eine Arbeiterfamilie geboren hatte er die großen Hände und breiten Schultern eines Mannes, der seine Karriere als Eisenarbeiter begonnen hatte.

Susan kannte seine Vorgeschichte. Er war sein Leben lang Junggeselle gewesen. Aufgewachsen war er in Akron, als Sohn von Immigranten aus Polen. Als Teenager war er Boxer im Golden Gloves Amateurturnier gewesen. Die Industriestädte des Nordens, Youngstown, Akron und Cleveland waren seine Heimat. Die Unterstützung, die er von den Menschen dort erfuhr, war unerschütterlich. Mehr noch, er war dort schon fast so etwas wie eine Legende. Er befand sich in seiner neunten Amtszeit und dass er dieses Jahr wiedergewählt werden würde, war so gut wie sicher. Diese Frage stellte sich gar nicht. Würde die Sonne morgen wieder aufgehen? Würde sich die Erde weiterhin um ihre Achse drehen? Würde ein Ei, das man in der Küche fallen lässt, auf dem Boden zerspringen? Er war so etwas wie eine Naturgewalt. Er würde nirgendwo hingehen.

Susan hatte Videos seiner Reden gesehen, die er auf Wahlveranstaltungen, Feiertagen oder ethnischen Festen hielt (denen er übrigens völlig unabhängig von der Abstammung beiwohnte – ob Polen, Griechen, Puerto Ricaner, Italiener, Afroamerikaner, Iren, Mexikaner, Vietnamesen) und bei denen er durch die Menschenmengen watete. Er schüttelte jede Hand, klopfte auf jeden Rücken, umarmte, wen er nur konnte. Sein Markenzeichen war es, Frauen ins Ohr zu flüstern.

Inmitten der Menschenmenge, egal ob es Dutzende oder Hunderte waren, die sich an ihn drängten, nahm er stets eine ältere Dame zur Seite und flüsterte ihr ins Ohr. Manchmal lachten sie, manchmal wurden sie rot, andere tadelten ihn spielerisch. Die Menge betete ihn an und keine der Damen wiederholte je, was er zu ihr gesagt hatte. Es war politisches Theater auf höchstem Niveau und wenn sie ganz ehrlich war, liebte Susan diese Momente.

Hier in DC war er jedoch ganz der Geschäftsmann. Er war einer der besten Freunde der Arbeiterbewegung auf dem Capitol Hill. Wenn es um Themen ging, die Susan am Herzen lagen, war er jedoch nicht ganz auf ihrer Wellenlänge: Frauenrechte, Rechte für Homosexuelle, oder Umweltschutz. Trotzdem fand sie, dass sie sich gut ergänzten. Sie konnte leidenschaftlich über sauberes Wasser und saubere Luft sprechen oder über die Gesundheit von Frauen und er konnte ihrer Leidenschaft Paroli bieten, wenn er über die Probleme des amerikanischen Arbeiters sprach.

Trotzdem war Susan nicht sicher, ob er der Richtige war, aber die Veteranen ihrer Partei hatten ihr gut zugeredet. Sie wollten ihn für den Job. Um ehrlich zu sein, hatten sie praktisch die Entscheidung für sie getroffen. Was sie besonders an ihm zu schätzen schienen, war sein Durchhaltevermögen. Er trank nicht, er rauchte nicht und es schien so, als müsste er nie schlafen. Er lebte im Flugzeug und sprang scheinbar problemlos zwischen Washington und seinem Bezirk hin und her. Er war immer anwesend, wenn es eine dringende Komiteesitzung oder Abstimmungen gab. Sechs Stunden später stand er auf einem Friedhof in Youngstown, scheinbar unbeeinträchtigt, pflichtbewusst mit Tränen in den Augen, seine großen, starken Arme um die Mutter eines toten Soldaten gelegt, während sie Trost an seiner Brust suchte.

Manche behaupteten, er sei noch mit einigen Mafiosi befreundet, die sich in seiner Jugend in seiner Nachbarschaft herumgetrieben hatten… doch das trug nur zu seinem Ruf bei. Er konnte weich oder hart sein, er war loyal und er war niemand, mit dem man sich anlegen wollte.

Er schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. „Frau Präsidentin, was verschafft mir diese Ehre?“

„Bitte, Michael. Für dich ist es immer noch Susan.“

„Okay. Susan.“

Sie führte ihn zurück in ihr Arbeitszimmer. Als Vizepräsidentin hatte sie schon lange darauf verzichtet, wichtige Meetings in ihrem Büro abzuhalten. Sie bevorzugte die etwas zwanglosere Atmosphäre und die schöne Umgebung des Arbeitszimmers. Als sie hereinkamen, war Kat Lopez bereits da und wartete.

„Kennen Sie meine Stabschefin, Kat Lopez?“

„Ich hatte noch nicht das Vergnügen.“

Die beiden gaben sich die Hand. Kat schenkte ihm eines ihrer seltenen Lächeln. „Herr Abgeordneter, ich bin schon seit der Uni ein großer Fan.“

 

„Wann war das, letztes Jahr?“

In dem Moment passierte etwas untypisches für Kat. Sie wurde rot. Nur kurz, und es war fast sofort wieder verschwunden, aber Susan sah es trotzdem. Parowski hatte einfach auf jeden eine Wirkung.

Susan bot ihm einen Stuhl an. „Sollen wir uns setzen?“

Parowski setzte sich in einen der bequemen Sessel. Susan saß ihm gegenüber. Kat stand hinter ihr.

„Mike, wir kennen uns schon sehr lange. Also werde ich nicht groß um den heißen Brei reden. Wie du weißt, wurde ich ziemlich unerwartet Präsidentin, als Thomas Hayes starb. Ich habe etwas Zeit gebraucht, um in Fahrt zu kommen. Und ich habe die Wahl meines Vizepräsidenten vor mich hergeschoben, bis die unmittelbare Krise vorbei war.“

„Ich habe einige Gerüchte darüber gehört, was gestern passiert ist“, sagte Parowski.

Susan nickte. „Sie stimmen. Wir glauben, es war ein Terroranschlag. Aber wir werden es, wie andere Vorfälle auch, überleben und wir werden noch stärker und widerstandsfähiger daraus hervorgehen. Und das können wir unter anderem mit einem starken Vizepräsidenten erreichen.“

Parowski starrte sie nur an.

Susan nickte. „Mit dir.“

Er sah zu Kat Lopez hinauf, dann wieder zu Susan. Er lächelte.

„Ich dachte, du wolltest mich bitten, ein paar Stimmen für dich im Abgeordnetenhaus zu sammeln.“

„Das werde ich auch“, sagte sie. „Aber ich möchte, dass du das als Vizepräsident und damit Präsident des Senats tust, nicht als Abgeordneter aus Ohio.“

Sie hob die Hände. „Ich weiß. Es fühlt sich an, als würde ich dir das in den Schoß werfen, und das tue ich auf gewisse Art auch. Aber ich habe meine Fühler ausgestreckt und in den letzten sechs Monaten mit genug Leuten geredet, die wissen was sie tun. Dein Name ist der, der immer wieder auftaucht. Du bist unglaublich beliebt in deinem Bezirk und der gesamte Norden der Vereinigten Staaten steht hinter dir. Sogar die konservativen Arbeiterviertel im Süden mögen dich. Und du scheinst das Durchhaltevermögen zu haben, das ich brauche, wenn es in ein paar Jahren um eine Wiederwahl geht.“

„Ich nehme an“, sagte er.

„Lass dir Zeit“, sagte Susan. „Ich will dich nicht drängen.“

Sein Lächeln wurde breiter. Nun hob er die Hände, fast beschwichtigend. „Was soll ich sagen? Das ist wie ein Traum. Ich liebe, was du tust. Du hast dieses Land in einer Zeit zusammengehalten, in der es fast auseinandergebrochen wäre. Du warst viel härter, als man es dir zugetraut hat.“

„Danke“, sagte Susan. Sie fragte sich, ob er das gleiche denken würde, wenn er sie gesehen hätte, wie sie damals weinend in diesem Raum gesessen und gedacht hatte, dass neunzigtausend Menschen oder mehr durch den Ebola-Angriff sterben würden.

Sie nickte zuversichtlich.

Er zeigte mit seinem dicken Zeigefinger auf sie. „Lass mich dir etwas sagen. Ich wusste schon immer, dass du das Zeug dazu hast. Ich kann Menschen gut einschätzen. Das habe ich schon als Kind gelernt und ich habe das gewisse Etwas in dir gesehen, seit du nach DC kamst. Als am sechsten Juni das Unglück passiert ist, habe ich den Leuten gesagt, dass wir in guten Händen sind. Den Überlebenden, den Fernsehinterviewern und mindestens zehntausend Leuten in meinem Bezirk.“

Susan nickte. „Das weiß ich.“ Und das stimmte. Dieser Fakt war ebenfalls bei ihren Nachforschungen immer wieder aufgetaucht. Michael Parowski steht hinter dir.

„Du musst aber etwas über mich wissen“, sagte er. „Du weißt wie ich bin. Ich bin ein großer Typ – nicht nur körperlich. Wenn du jemanden suchst, der sich hinten hinstellt und im Hintergrund verschwindet, dann bin ich wahrscheinlich nicht der Richtige.“

„Michael, wir haben dich auf jede erdenkliche Weise überprüft. Wir wissen alles über dich. Wir wollen nicht, dass du im Hintergrund stehst. Wir wollen dich im Vordergrund. Wir wollen, dass du du selbst bist. Wir wollen deine Stärke. Wir bauen hier eine Regierung auf, und in gewisser Weise bauen wir den Glauben der Leute an Amerika wieder auf. Es wird ein hartes Stück Arbeit, darauf kannst du dich verlassen. Deshalb haben wir dich ausgewählt.“

Er warf ihr einen Seitenblick zu. „Du weißt alles über mich, wie?“

Sie lächelte. „Na ja, fast alles. Es gibt noch ein Rätsel, das ich gerne lösen würde.“

„Okay, nur zu“, sagte er. „Was ist es?“

„Wenn du bei deinen Veranstaltungen Damen zur Seite ziehst, was flüsterst du ihnen dann zu?“

Er schnaufte. Ein etwas merkwürdiger Blick machte sich auf seinem Gesicht breit. Es sah aus, als würde jahrzehntelange Anspannung etwas von ihm abfallen. Für ein paar Sekunden sah er fast unschuldig aus, wie das Kind, das er einmal gewesen sein musste.

„Ich sage ihnen, wie schön sie heute aussehen“, sagte er. „Dann sage ich: ‚Sagen Sie es nicht weiter. Das bleibt unser kleines Geheimnis.‘ Und das meine ich ernst, jedes Wort davon.“

Er schüttelte den Kopf, und Susan glaubte, eine Art Bewunderung in ihm zu entdecken – über die Menschen, die ihm folgten, über die Politik an sich, über das schiere Ausmaß dessen, was Menschen wie er und Susan jeden einzelnen Tag ihres Lebens leisteten.

„Es funktioniert jedes Mal“, sagte er.