Lagezentrum: Ein Luke Stone Thriller – Buch 3

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Aus der Reihe: Ein Luke Stone Thriller #3
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KAPITEL DREI

10:23 Uhr

Perpendicular Trail, Southwest Harbor, Acadia National Park, Maine

„Wie geht es dir, Monster?“

„Gut, Dad.“

Luke Stone und sein Sohn, Gunner, bewegten sich langsam die steilen, rauen Stufen des Weges hinauf. Es war ein feuchter Morgen. Schon um diese Uhrzeit war es heiß und es würde noch viel heißer werden. Sie gingen langsam den Berg hinauf, und Luke sorgte dafür, dass sie für häufige Verschnauf- und Trinkpausen anhielten; er war sich bewusst, dass Gunner erst zehn Jahre alt war.

Sie bewegten sich immer höher und höher durch das riesige Geröllfeld. Massiven Steine waren am Berghang aufgeschichtet worden, um eine gewundene, riesige Treppe zu schaffen, als wäre ein nordischer Donnergott vom Himmel herabgekommen und hätte sie mit seinen eigenen Händen gemeißelt. Luke wusste natürlich, dass die Steine von arbeitslosen jungen Männern gelegt worden waren, die das Civilian Conservation Corps etwa achtzig Jahre zuvor in den Tiefen der Großen Depression aus den Städten der Ostküste aufgelesen hatte.

Etwas weiter oben stießen sie auf einige eiserne Sprossen, die in die Steinwand geschraubt waren. Sie kletterten die Leiter hoch und schlängelten sich dann eine eingeritzte Felswand hinauf. Bald flachte der Weg ab und sie wanderten durch dichten Wald, bevor sie einen letzten Aufstieg zum Gipfelausblick machten. Sie kletterten auf die Felsen hinaus.

Direkt vor ihnen war ein steiler Abhang. Es waren bestimmt fünfzig Stockwerke hinunter bis zu einem großen See, wo sie geparkt hatten. Weiter draußen bot der Platz einen herrlichen Blick auf den Atlantischen Ozean, der vielleicht acht Kilometer entfernt lag.

„Was meinst du, Monster?“

Gunner war verschwitzt von der Hitze des Tages. Er setzte sich auf einen Felsen, öffnete seinen Rucksack und zog eine Wasserflasche heraus. Sein schwarzes Dawn of the Dead T-Shirt war schweißgetränkt. Sein blondes Haar war verfilzt. Er nahm einen Schluck aus der Flasche und reichte sie Luke. Er war ein selbstbewusstes Kind.

„Es ist fantastisch, Dad. Es gefällt mir wirklich.“

„Ich möchte dir etwas geben“, sagte Luke. „Ich dachte mir ich warte damit, bis wir hier oben sind. Ich weiß auch nicht, warum. Ich dachte, das wäre eine gute Gelegenheit.“

Gunner sah leicht beunruhigt aus. Er mochte es, Geschenke zu bekommen, aber im Allgemeinen bevorzugte er welche, die er sich auch gewünscht hatte.

Luke nahm das Gerät aus seiner Tasche. Es war nur ein kleines Stück schwarzes Plastik, ungefähr die Größe eines Schlüsselanhängers. Es sah nicht besonders aus, wie die Fernbedienung für ein automatisches Garagentor.

„Was ist das?“, fragte Gunner.

„Ein GPS-Gerät. GPS heißt ‚Globales Positionsbestimmungssystem.‘“ Luke zeigte auf den Himmel. „Da oben im All gibt es diese Dinger, die heißen Satelliten…“

Gunner lächelte halbherzig. Er schüttelte den Kopf. „Ich weiß, was GPS ist, Dad. Mom hat eins in ihrem Auto. Das ist auch gut so. Sonst würde sie sich an jeder Ecke verfahren. Warum gibst du mir sowas?“

„Siehst du den Clip, der hinten dran ist? Ich möchte, dass du ihn an deinem Rucksack befestigst und überallhin mitnimmst. Ich habe eine App auf meinem Handy, die darauf eingestellt ist, dieses Gerät zu verfolgen. So weiß ich immer, wo du bist, auch wenn wir getrennt sind.“

„Machst du dir Sorgen um mich?“

Luke schüttelte den Kopf. „Nein. Ich mache mir keine Sorgen. Ich weiß, dass du auf dich selbst aufpassen kannst. Wir sehen uns in letzter Zeit nur selten und wenn ich auf meinem Handy sehen kann, wo du bist, ist es fast so, als wäre ich bei dir.“

„Aber ich kann nicht sehen, wo du bist“, sagte Gunner. „Ist das nicht ein bisschen unfair?“

Luke griff in seine Tasche und holte ein weiteres GPS-Gerät heraus, dieses in leuchtendem Blau. „Siehst du das? Ich werde es an meinen Schlüsselbund hängen. Wenn wir zurück im Hotel sind, lade ich die App auf dein Handy, dann weißt du auch immer, wo ich bin.“

Gunner lächelte. „Die Idee gefällt mir, Dad. Aber du weißt, dass wir uns einfach schreiben könnten? Weißt du überhaupt, wie das geht? Ich weiß, dass viele Leute in deinem Alter keine Ahnung von Handys haben.“

Jetzt lächelte Luke. „Ja, keine Sorge. Wir können auch beides tun.“

Für Luke war es ein zwiespältiges Gefühl, mit Gunner hier oben zu sein. Luke war ohne Vater aufgewachsen, und jetzt musste Gunner dasselbe durchmachen. Die Scheidung mit Becca war noch nicht abgeschlossen, aber das Ende war in Sicht. Luke hatte seit zwei Monaten nicht mehr für die Regierung gearbeitet, aber Becca war unnachgiebig gewesen: Sie zog es trotzdem durch.

In der Zwischenzeit hatte Luke zwei Wochenenden im Monat mit Gunner. Er tat alles, was in seiner Macht stand, um sicherzustellen, dass diese Wochenenden voller Spaß und Abenteuer waren. Er tat auch alles, was er konnte, um Gunners Fragen unparteiisch, aber optimistisch zu beantworten. Fragen wie diese:

„Glaubst du, wir können so etwas eines Tages mit Mom machen?“

Luke starrte aufs Meer hinaus. Bei solchen Fragen würde er am liebsten die Klippe, die vor ihnen lag, herunterspringen. „Ich hoffe es.“

Gunner wurde selbst bei diesem kleinen Zugeständnis hellhörig. „Wann?“

„Nun, du musst verstehen, dass deine Mutter und ich gerade eine kleine Meinungsverschiedenheit haben.“

„Ich verstehe das nicht“, sagte Gunner. „Ihr liebt euch doch, oder? Und du hast versprochen, deinen Job zu kündigen, richtig? Du hast doch gekündigt?“

Luke nickte. „Ich habe gekündigt.“

„Siehst du. Aber Mom glaubt dir nicht.“

„Ich weiß.“

„Kannst du sie nicht irgendwie überzeugen?“

Luke hatte auf jeden Fall gekündigt. Er hatte nicht nur seine Kündigung eingereicht, sondern war anschließend komplett untergetaucht. Susan Hopkins hatte versprochen, ihn in Ruhe zu lassen, und sie hatte ihr Versprechen auch gehalten. Er hatte sogar keinen Kontakt mehr zu seiner alten Gruppe im Special Response Team.

Er genoss seine Auszeit tatsächlich. Er war zu seinen Wurzeln zurückgekehrt. Er hatte eine Hütte im Adirondack-Gebirge gemietet und zwei Wochen lang fast ausschließlich mit Bogenjagd und Angeln verbracht. Er badete jeden Morgen im See, der hinter seiner Hütte lag. Er ließ sich einen Bart wachsen.

Danach verbrachte er zehn Tage in der Karibik, segelte allein durch St. Vincent und die Grenadinen, schnorchelte mit Meeresschildkröten, Riesenrochen und Riffhaien und besichtigte Schiffswracks, die mehr als hundert Jahre alt waren.

Am Ende jeder kleinen Reise nahm er sich Zeit, um nach Washington, DC zurückzukehren und Gunner für das nächste Vater-Sohn-Abenteuer abzuholen. Luke musste zugeben, dass ihm der Ruhestand gefiel. In einem Jahr, wenn ihm das Geld ausgehen würde, würde es nicht mehr so angenehm sein, aber im Moment war er vollends zufrieden.

„Werdet ihr euch wirklich trennen?“

Luke bemerkte das Zittern in Gunners Stimme, als er diese Frage stellte. Das konnte er nur zu gut verstehen. Gunner hatte Angst. Luke setzte sich mit ihm auf die Felsen.

„Gunner, ich liebe dich und deine Mutter sehr. Die Situation ist kompliziert, und wir arbeiten daran, so gut wir können.“

Das stimmte nicht unbedingt. Becca war kalt zu Luke. Sie wollte die Scheidung. Sie wollte das volle Sorgerecht für Gunner. Sie dachte, Luke sei eine Gefahr für Gunner und sie. Sie hatte praktisch damit gedroht, eine einstweilige Verfügung gegen ihn zu erwirken. Sie war unvernünftig, und sie und ihre Familie hatten reichlich Geld. Sie konnte einen langen und erbitterten Sorgerechtsstreit bezahlen, wenn es sein musste.

„Willst du mit ihr zusammen sein?“

„Ja, das will ich. Natürlich will ich das.“ Das war die erste Lüge, die Luke Gunner in diesem Gespräch erzählt hatte. Die Wahrheit war kompliziert. Am Anfang hatte er sie noch zurückgewollt. Aber während die Zeit verging und Beccas Position sich verhärtet hatte, wurde er immer unsicherer.

„Warum kommst du dann nicht einfach nach Hause und sagst es ihr? Warum schickst du ihr keine Blumen, bis sie dir vergibt?“

Das war eine gute Frage. Eine Frage, die keine einfache Antwort hatte.

In Lukes Rucksack fing ein Telefon an zu klingeln. Wahrscheinlich war es Becca, die mit Gunner sprechen wollte. Luke griff in den Rucksack, um das Satellitentelefon zu holen, das er immer bei sich trug. Es war für ihn das einzige akzeptable Mittel, um erreichbar zu bleiben. Becca konnte ihn so immer kontaktieren. Aber sie war nicht die Einzige. Es gab noch eine weitere Person, die Zugang zu dieser Nummer hatte.

Er blickte auf das Display. Es war eine Nummer, die er nicht kannte, mit 202er-Vorwahl. Washington, DC.

Sein Herz stockte.

Es war nicht Becca.

„Ist es Mom?“, fragte Gunner.

„Nein.“

„Ist es die Präsidentin?“

Luke nickte. „Ich denke schon.“

„Solltest du dann nicht besser rangehen?“, fragte Gunner.

„Ich arbeite nicht mehr für sie“, sagte Luke. „Weißt du noch?“

Heute Morgen, bevor sie zu dieser Wanderung aufgebrochen waren, hatten sie im Fernsehen Nachrichten über den Dammbruch in North Carolina gesehen. Mehr als hundert bestätigte Tote, hunderte weitere wurden vermisst. Ein ganzes Bergresort wurde vom Wasser weggespült. Die Städte flussabwärts wurden so schnell wie möglich evakuiert und mit Sandsäcken geschützt, aber es gab wahrscheinlich noch mehr Tote.

Das Unglaubliche daran war, dass ein im Jahre 1943 erbauter Damm nach mehr als siebzig Jahren nahezu perfekter Arbeit plötzlich eine Fehlfunktion erleiden würde. Für Luke roch das nach Sabotage. Aber er konnte sich nicht vorstellen, wer es in einer so abgelegenen Gegend auf einen Damm abgesehen haben könnte. Wer würde überhaupt wissen, dass dort ein Damm existierte? Wenn es Sabotage war, dann war es wahrscheinlich ein örtliches Problem, eine Gruppe von militanten Umweltschützern, oder vielleicht sogar ein verärgerter ehemaliger Angestellter, der eine Nummer abgezogen hatte, die schrecklich schief gegangen war und tragische Konsequenzen nach sich trug. Die Staatspolizei oder die FBI-Abteilung für North Carolina würden die Täter wahrscheinlich bereits am Ende des Tages geschnappt haben.

 

Aber nun klingelte sein Telefon. Also steckte vielleicht doch mehr dahinter.

„Dad, es ist okay. Ich will nicht, dass du deinen Job kündigst, auch wenn Mom anderer Meinung ist.“

„Ist das so? Und wenn ich aufhören will? Darf ich da nicht mitreden?“

Gunner schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht. Ich meine, eine Menge Leute sind bei diesem Unfall gestorben, oder? Was, wenn ich dabei gewesen wäre? Was, wenn Mom und ich unter den Opfern gewesen wären? Würdest du nicht wollen, dass jemand herausfindet, was passiert ist?“

Das Telefon klingelte immer weiter. Als die Mailbox sich einschaltete, hörte das Telefon für einige Sekunden auf zu klingeln, ging aber sofort wieder los. Wer auch immer es war, wollte mit Luke sprechen und keine Nachricht hinterlassen.

Luke dachte an Gunners Worte und drückte den grünen Knopf am Telefon. „Stone.“

„Die Präsidentin der Vereinigten Staaten“, sagte eine Männerstimme.

Es gab einen Moment der Stille, dann erklang ihre Stimme in der Leitung. Sie klang härter als zuvor, etwas älter. Die Ereignisse der letzten Monate würden jeden altern lassen.

„Luke?“

„Hi, Susan.“

"Luke, du musst sofort herkommen.“

„Geht es um den Damm?“

„Ja.“

„Susan, ich bin im Ruhestand, erinnerst du dich?“

Ihre Stimme wurde leiser.

„Luke, der Damm wurde gehackt. Hunderte von Menschen sind tot, und alle Zeichen deuten auf die Chinesen hin. Wir stehen am Rande des Dritten Weltkriegs.“

Luke wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte.

„Wann wirst du hier sein?“, fragte sie.

Er wusste, dass sie ein ‚Nein‘ nicht akzeptieren würde.

KAPITEL VIER

18:15 Uhr

Marine-Observatorium – Washington, DC

Luke saß auf dem Rücksitz eines schwarzen SUV, als dieser vor der weiß-gegiebelten Residenz aus den 1850er Jahren zum Stillstand kam. Diese Villa war jahrelang die offizielle Unterkunft des Vizepräsidenten gewesen. Da das Weiße Haus zwei Monate zuvor zerstört worden war, diente dieser Ort nun als das Neue Weiße Haus, was passend war, da die Präsidentin fünf Jahre lang hier gelebt hatte, bevor sie ihre neue Rolle übernommen hatte.

In den zwei Monaten, die Luke weg gewesen war, hatte er fast nie über diesen Ort oder die Menschen, die sich hier befanden, nachgedacht. Das Satellitentelefon hatte er auf Wunsch der Präsidentin bei sich, aber die ersten Wochen hatte er ständig in Angst gelebt, tatsächlich einen Anruf zu erhalten. Nach und nach hatte er jedoch fast vergessen, dass er das Telefon überhaupt hatte.

Eine junge Frau kam ihm auf dem Gehweg vor dem Haus entgegen. Sie war brünett, groß und äußerst hübsch. Sie trug einen schlichten schwarzen Rock und eine schwarze Jacke. Ihre Haare waren nach hinten gebunden. In ihrer linken Hand trug sie einen Tablet-Computer. Die andere Hand streckte sie Luke entgegen. Ihr Händedruck war fest und gänzlich geschäftlich.

„Agent Stone? Ich bin Kathryn Lopez, Susans Stabschefin.“

Luke war etwas verblüfft. „Werden Stabschefs heutzutage direkt von der Highscool rekrutiert?“

„Sehr nett von Ihnen“, sagte sie beiläufig. Er wusste, dass sie das ständig zu hören bekommen musste, und die meisten meinten es wahrscheinlich nicht freundlich, so wie er. „Ich bin siebenunddreißig Jahre alt. Ich bin seit dreizehn Jahren in Washington, seit ich meinen Masterabschluss habe. Ich habe für einen Abgeordneten, zwei Senatoren und den ehemaligen Direktor für Gesundheit und Soziales gearbeitet. Ich kenne mich also ein wenig hier aus.“

„Okay“, sagte Luke. „Dann bin ich ja in guten Händen.“

Sie traten durch die Vordertür. Im Inneren standen sie einem Kontrollpunkt mit drei bewaffneten Wachen und einem Metalldetektor gegenüber. Luke nahm seine Glock aus seinem Schulterholster und legte sie auf das Förderband. Er griff nach unten und schnallte die kleine Taschenpistole und das Jagdmesser, das an seine Waden geklebt war, ab und legte diese ebenfalls auf. Zum Schluss nahm er seine Schlüssel aus der Tasche und ließ sie zusammen mit den Waffen auf das Band fallen.

„Entschuldigung“, sagte er. „Ich kann mich nicht erinnern, dass es hier eine Sicherheitskontrolle gab.“

„Gab es auch nicht“, sagte Kat Lopez. „Sie ist erst seit ein paar Wochen hier. Es kommen immer mehr Leute her und wir mussten die Sicherheitsvorkehrungen formalisieren.“

Luke erinnerte sich an die Vorfälle. Als die Angriffe anfingen und Thomas Hayes starb, musste Susan plötzlich das Präsidentsamt übernehmen. Das Weiße Haus war größtenteils zerstört worden und alles – alle Vorkehrungen, die gesamte Logistik – war in dieser Zeit mehr schlecht als recht hastig neu errichtet worden. Es war eine verrückte Zeit gewesen. Er war froh, dass er seitdem frei gehabt hatte. Er bewunderte Susan ein wenig dafür, dass sie die ganze Zeit über selbst vor Ort gewesen war.

Nachdem die Wachen Luke abgetastet und mit einem Metalldetektor überprüft hatten, gingen er und die Stabschefin weiter.

Es war viel los hier. Das Foyer war überfüllt mit Menschen in Anzügen, Militäruniformen, hochgekrempelten Ärmeln, Menschen, die schnell durch die Gänge eilten und hinter denen sich eine Schar an Helfern herzog. Eines fiel sofort auf – es waren viel mehr Frauen hier als vorher.

„Was ist mit Ihrem Vorgänger passiert?“, fragte Luke. „Der vorherige Stabschef. Richard…“

Kat Lopez nickte. „Richard Monk. Nun, nach dem Ebola-Vorfall waren er und Susan sich einig, dass es ein guter Zeitpunkt für ihn war, weiterzuziehen. Aber obwohl er hier raus ist, ist er auf seinen Füßen gelandet. Er arbeitet als Stabschef für den neuen US-Repräsentanten aus Delaware, Paul Chipman.“

Luke wusste, dass es neue Repräsentanten und Senatoren aus neununddreißig Staaten gab, um diejenigen zu ersetzen, die beim Angriff am Mount Weather gestorben waren. Unzählige Leute waren aus den unteren Ligen plötzlich aufgestiegen oder sind aus dem Ruhestand zurückgekehrt. Mehr als nur ein paar von ihnen waren von Gouverneuren ernannt worden, die fragwürdige Motive oder Gefallen zu erfüllen hatten. Wenn man genau hinsah, konnte man das Schmiergeld an jeder Ecke riechen.

Er lächelte. „Richard arbeitet nicht mehr für die Präsidentin, sondern für den Vertreter des zweitkleinsten Bundesstaates Amerikas? Und das nennen Sie auf den Füßen landen? Klingt für mich, als wäre er auf dem Kopf gelandet.“

„Kein Kommentar“, sagte Kat und lächelte fast. Es war die menschlichste Geste, die er bis jetzt von ihr gesehen hatte. Sie führte ihn durch die Menschenmenge zu einer Doppeltür am Ende der Halle. Luke kannte sich bereits aus. Als Susan Vizepräsidentin gewesen war, war der große, sonnige Raum ihr Konferenzraum gewesen. In den Tagen, nachdem sie ihren Amtseid abgelegt hatte, hatte er sich jedoch schnell in ein notdürftiges Lagezentrum verwandelt.

Nun sah er bereits voll ausgestattet aus. Fertigwände durchzogen den Raum und verdeckten die alten Fenster. Riesige Flachbildschirme waren überall im Abstand von 1,5 Metern montiert. Ein größerer Eichen-Konferenztisch war aufgestellt worden und an der Wand hinter ihm befand sich das Siegel des Präsidenten. Es waren etwa zwei Dutzend Leute hier, als Luke und Kat hereinkamen, ein Dutzend am Konferenztisch und weitere in Stühlen, die die Wände säumten.

Auch hier war der Geschlechter-Wechsel offensichtlich. Luke erinnerte sich, wie er vor zwei Monaten hier gesessen und über die gestohlene Ebola-Probe informiert worden war. Von den dreißig Leuten in dem Raum zu dieser Zeit war Susan die einzige Frau gewesen. Neunundzwanzig große, kräftige Männer und eine kleine Frau.

Heute machten Frauen ungefähr die Hälfte aller Anwesenden aus.

Susan erhob sich, als Luke hereinkam. Auch sie hatte sich verändert. Härter, so wie es aussah. Ein wenig dünner als vorher. In ihrer Jugend war sie Model, doch der Babyspeck auf ihren Wangen hatte sich bis ins mittlere Alter gehalten. Der war jetzt jedoch weg, und sie schien fast über Nacht Krähenfüße um die Augen entwickelt zu haben. Die hellen Augen selbst schienen fokussierter zu sein, wie Laserstrahlen. Sie war ihr gesamtes Leben die schönste Frau im Raum gewesen – nach ihrer Präsidentschaft würde das jedoch vielleicht nicht mehr der Fall sein.

„Agent Stone“, sagte sie. „Ich bin froh, dass Sie sich uns anschließen konnten.“

Er lächelte. „Frau Präsidentin. Ich bitte Sie. Nennen Sie mich Luke.“

Sie erwiderte das Lächeln nicht. „Danke, dass Sie gekommen sind.“

An einem der großen Bildschirme stand Kurt Kimball, Susans nationaler Sicherheitsberater. Luke hatte ihn schon einmal getroffen. Er war groß und hatte breite Schultern. Sein Kopf war völlig kahl.

Kimball bot ihm einen Handschlag an. Wenn Kat Lopez' Handschlag fest war, dann war Kurt Kimballs aus Granit. „Luke, schön, Sie zu sehen.“

„Kurt, ebenfalls.“

Die Stimmung war angespannt. Diese Leute hatten die letzten zwei Monate nicht mit Campen und Segeln verbracht. Trotzdem, Luke war von jetzt auf gleich von Maine hergeflogen und hatte seinen Sohn bei seiner wütenden bald Ex-Frau abgesetzt, die all dies nur als Bestätigung sah, warum sie sich von ihm scheiden ließ. Er hatte einen etwas freundlicheren Empfang erwartet.

Er entschied sich, nicht weiter darauf einzugehen. Hunderte von Menschen waren heute Morgen gestorben und die Menschen in diesem Raum vermuteten einen Terroranschlag.

„Sollen wir zur Sache kommen?“, fragte er.

„Bitte setzen Sie sich“, sagte Kimball.

Ein Sitzplatz an Susans rechter Flanke wurde wie durch ein Wunder frei und Luke nahm ihn dankend an.

Auf dem Bildschirm erschien das Foto eines großen Dammes. Groß war nicht ganz das richtige Wort. Massiv war der bessere Ausdruck. Ein sechsstöckiges Gebäude stand vor dem Damm. Es handelte sich um das Kontrollzentrum. Sechs teilweise offene Schleusen waren deutlich zu sehen. Das Gebäude wurde durch den dahinter aufragenden Damm in den Schatten gestellt. Entlang der Kante befand sich ein Wasserkraftwerk mit einer Reihe von Transformatoren.

„Luke, das ist der Black-Rock-Damm“, sagte Kurt Kimball. „Er ist ungefähr fünfzig Stockwerke hoch und staut den Black Rock See, der 25 Kilometer lang und 120 Meter tief ist und etwa 280 Milliarden Liter Wasser enthält. Wie Sie wahrscheinlich in den Nachrichten gesehen haben, öffneten sich die sechs Schleusen, die Sie hier sehen, heute Morgen kurz nach sieben Uhr vollständig und blieben dreieinhalb Stunden lang offen, bis die Techniker sie vom Computersystem abkoppeln und schließlich manuell schließen konnten.“

Kimball benutzte einen Laserpointer, um auf die Schleusen zu zeigen.

„Wenn Sie die Schleusen im Verhältnis zum Gebäude betrachten, sehen Sie, dass sie ziemlich groß sind. Jede von ihnen ist zehn Meter hoch, was bedeutet, dass sechs dreistöckige Wasserstrahlen auf einmal ausgestoßen wurden. Der Wasserdruck des Black Rock Lake schickte die Flut mit etwa dreißig Kilometern pro Stunde stromabwärts, was sich erstmal nicht so schnell anhört, bis man selbst davorsteht. Bis heute Morgen befand sich fünf Kilometer südlich des Dammes das Black Rock Resort. Es bestand fast ausschließlich aus Holz. Die Flut hat das Resort komplett zerstört und soweit wir wissen, waren die einzigen Überlebenden eine Handvoll Leute, die schon früh aufgebrochen waren, um auf dem Damm zu wandern oder auf nahegelegenen Panoramastraßen zu fahren.“

„Wie viele Leute waren im Resort?“, fragte Luke.

„In ihrem Online-Reservierungssystem waren 281 Gäste aufgeführt. Vielleicht 20 von ihnen haben das Resort entweder vor der Flut verlassen oder sind aus dem einen oder anderen Grund nie dort angekommen. Alle anderen wurden weggefegt und sind aller Wahrscheinlichkeit nach tot. Zusammen mit den anderen Katastrophen flussabwärts wird es noch mehrere Tage dauern, bis wir eine genaue Anzahl von Toten haben.“

Luke verspürte ein seltsames, vertrautes Gefühl. Es kam zurück wie ein alter Freund, den man lange nicht gesehen hatte und von dem man eigentlich gehofft hatte, ihn nie wieder zu treffen. Es fühlte sich an, als wäre ihm schlecht. Es war der Tod, der Tod von Unschuldigen, die einfach nur ihrem eigenen Leben nachgegangen waren. Luke hatte sich viel zu lange mit solchen Vorfällen beschäftigen müssen.

„Hat jemand versucht, sie zu warnen?“, fragte er.

Kimball nickte. „Die Arbeiter im Kontrollzentrum des Staudamms riefen das Resort an, sobald sie merkten, dass die Schleusen geöffnet waren, aber anscheinend hatte die Flut dort bereits Einzug gehalten, als sie jemanden erreicht haben. Jemand nahm ab, aber das Gespräch endete fast sofort.“

 

„Mein Gott. Und was waren die Katastrophen flussabwärts, die Sie erwähnten?“

Eine Karte erschien auf dem Bildschirm. Sie zeigte den See, den Damm, das Resort und weitere Städte in der Nähe. Kimball zeigte auf eine Stadt. „Die Stadt Sargent liegt weitere 25 Kilometer südlich des Resorts. Es ist eine Stadt mit 2.300 Einwohnern und eine Anlaufstelle für Besucher des Nationalparks. Sargent liegt größtenteils auf einem kleinen Hügel und die Stadt wurde etwas besser gewarnt als das Resort. Sie wurden sogar früh genug gewarnt, dass die Notfallsirenen der Stadt ertönten, bevor die Flut kam. Mit den zusätzlichen 25 Kilometern, die das Wasser bis dahin zurücklegen musste, traf es die Stadt etwas weniger hart, und viele der Häuser und Gebäude hielten stand und wurden nicht weggespült. Mehr als vierhundert Menschen aus Sargent werden jedoch derzeit vermisst oder für tot gehalten.“

Luke starrte auf den Bildschirm, als Kimballs Laserpointer auf die Städte Saphir, Greenwood und Kent fiel, jede etwas weiter vom Damm entfernt als die vorherige, und jede auf ihre eigene Art betroffen. Das Ausmaß der Katastrophe war verheerend, und obwohl die Schleusen inzwischen geschlossen waren, würde die Flut selbst in den nächsten Tagen weiter nach Süden und bergab fließen. Zwei Dutzend Städte waren evakuiert worden, aber weitere Todesfälle waren praktisch garantiert. Einige Menschen in den entlegenen Gebieten wollten oder konnten nicht fliehen.

„Und Sie glauben, dass Hacker dahinterstecken? Wie ist das möglich?“

Kimball blickte sich im Raum um. „Hat jeder hier die Sicherheitsfreigabe, den nächsten Teil zu hören? Können wir bitte jeden rausschmeißen, der keine Freigabe hat?“

Leises Murmeln ging durch den Raum, aber niemand bewegte sich. „Okay, ich gehe davon aus, dass jeder, der hier ist, auch hierhergehört. Wenn nicht, ist das euer Problem. Vergesst das nicht.“

Er wandte sich wieder an Luke.

„Der Damm wurde 1943 gebaut, um während des Krieges dringend benötigten Strom zu erzeugen. Er wurde von der Tennessee Valley Authority erbaut und wird bis heute von ihr betrieben. Die Schleusen werden heute noch mit der gleichen Technologie von damals gesteuert. Jede Fernbedienung für Garagentore ist heutzutage fortgeschrittener. Vor etwa zwanzig Jahren begann die TVA nach Möglichkeiten zu suchen, Geld zu sparen. Sie wollte die Verwaltung ihrer Dämme automatisieren. Kontrollzentren in alten Wasserkraftwerken sind nach modernen Standards unglaublich ineffizient. Es befinden sich rund um die Uhr Mitarbeiter vor Ort, die nichts anderes tun als Logbücher lesen, ausfüllen und von Zeit zu Zeit die Überläufe öffnen und schließen. Die Schleusentore selbst werden fast nie geöffnet.“

„Die TVA dachte, sie könnte zehn oder zwanzig Staudamm-Kontrollzentren zu einem zentralen Kontrollzentrum zusammenfassen. Also rüsteten sie mehrere Dämme mit einer fernsteuerbaren Computersoftware nach. Black Rock war einer von ihnen. Wir sprechen von einer sehr einfachen Software – sie hat nur zwei Zustände, ‚ja‘ für offen und ‚nein‘ für geschlossen. Aus irgendeinem Grund haben sie das zentrale Kontrollzentrum jedoch nie fertiggestellt. Die Software war internetbasiert und sie haben sie laufen lassen, für den Fall, dass sie sich doch einmal für den Bau des Zentrums entscheiden sollten. Das Problem an der Sache ist, dass Verschlüsselung damals kaum existierte und die Software nach ihrer Installation nie aktualisiert wurde.“

Luke starrte ihn fassungslos an.

„Sie machen Witze.“

Er schüttelte den Kopf.

„Es war kinderleicht, dieses System zu kapern. Es hatte nur nie jemand daran gedacht, es zu tun. Welcher Terrorist sollte überhaupt wissen, dass dieser Damm existiert? Er liegt in einer abgelegenen Ecke eines ländlichen Staates. Sargent, North Carolina ist nicht gerade das prestigeträchtigste Ziel. Aber wie wir festgestellt haben, sind die Ergebnisse so verheerend, als hätten sie Chicago oder eine andere Großstadt angegriffen.“

Susan sprach zum ersten Mal. „Und das Schlimmste daran ist, dass es Hunderte solcher Dämme in den USA gibt. Wir wissen nicht einmal, wie viele genau es sind und wie viele von ihnen auf die gleiche Art gehackt werden könnten.“

„Und warum glauben wir, dass die Chinesen es getan haben?“, fragte Luke.

„Unsere eigenen Hacker bei der NSA verfolgten die Infiltration zu einer Reihe von IP-Adressen in Nordchina zurück. Diese Adressen wiederum haben mit einer Internetverbindung in einem Motel in Asheville, North Carolina kommuniziert, hundert Kilometer östlich vom Black-Rock-Damm. Die Kommunikation fand innerhalb von 48 Stunden vor dem Angriff statt. Ein SWAT-Team des Amtes für Alkohol, Tabak und Schusswaffen ist in dieser Region gerade tätig und führt Razzien in nicht lizenzierten Brennereien und Brauereien durch. Dieses Team haben wir zum Motel geschickt, wo sie einen 32-jährigen Chinesen namens Li Quiangguo festnehmen konnten.“

Das Bild eines chinesischen Mannes, der von einer Gruppe großer und breiter ATF-Offiziere aus einem kleinen, unscheinbaren Motel geführt wird, erschien auf dem Bildschirm. Ein weiteres Bild erschien daneben. Es war der gleiche Mann, wie er auf einer schmalen Straße gegenüber eines Stausees steht. Er stand vor einer historischen Tafel mit der Aufschrift Black-Rock-Damm – 1943, und einer kurzen Beschreibung darunter.

„Obwohl seine Reisedokumente und sein Pass echt aussehen, glauben wir nicht, dass das sein wirklicher Name ist. Wie Sie wissen, ist die Namensreihenfolge in China umgekehrt – zuerst kommt der Nachname, gefolgt vom Vornamen. Li ist einer der häufigsten Namen in China, so wie Smith hier bei uns. Und Quiangguo bedeutet auf Mandarin so viel wie starke Nation. Ein Name mit militaristischer Konnotation, der nach der chinesischen Revolution sehr verbreitet war. Aber seit ungefähr 40 Jahren benutzt ihn so gut wie niemand mehr. Außerdem wurden bei Li eine Handfeuerwaffe und ein kleines Fläschchen mit Zyanid-Pillen gefunden. Wir glauben, dass er ein chinesischer Spion ist, der unter einem Decknamen operiert und sich umbringen sollte, falls er geschnappt wird.“

„Aber scheinbar hat er kalte Füße bekommen“, sagte Luke.

„Entweder das, oder er ist nicht rechtzeitig an seine Pillen gekommen.“

Luke schüttelte den Kopf. „Nach einer Operation wie dieser würde ein Agent, der sich tatsächlich umbringen will, die Pillenflasche ständig in der Hand halten oder sie zumindest in der Tasche haben. Was genau hat er nach China geschickt?“

„Eine Reihe von verschlüsselten E-Mails. Wir haben die Verschlüsselung noch nicht geknackt und es könnte auch noch Wochen dauern. Die NSA hat uns mitgeteilt, dass sie so eine Verschlüsselung noch nie gesehen haben. Sehr komplex, sehr schwer zu entschlüsseln. Also haben wir im Moment keine Ahnung, was der Inhalt der E-Mails ist.“

„Hat er gestanden?“, fragte Luke.

Kimball schüttelte den Kopf. „Er wird in einer Hütte in einem FEMA-Gefangenenlager in Nord-Georgia festgehalten, etwa hundertfünfzig Kilometer südöstlich des Damms. Er besteht darauf, dass er einfach ein Tourist ist, der zur falschen Zeit am falschen Ort war.“

„Deshalb haben wir Sie angerufen“, sagte Susan. „Wir möchten, dass Sie sich mit ihm unterhalten. Wir dachten, mit Ihnen würde er reden.“

„Mit ihm unterhalten, wie?“, sagte Luke.

Susan zuckte die Achseln. „Ja.“

„Ich soll ihn zum Reden bringen?“

„Ja.“

„Dafür brauche ich wahrscheinlich mein Team“, sagte Luke.

Susan, Kurt Kimball und Kat Lopez sahen einander an.

„Vielleicht sollten wir das lieber unter vier Augen besprechen“, sagte Kimball.

*

„Okay, Susan, jetzt kommt der Teil, wo du mir wieder sagst, dass das Special Response Team aufgelöst wurde, richtig?“

„Luke…“, begann sie.

Sie saßen oben in Susans Arbeitszimmer. Das Arbeitszimmer war genau so, wie Luke es in Erinnerung hatte. Ein großer rechteckiger Raum mit Hartholzboden und einem weißen Teppich in der Mitte. Der Teppich diente als Mittelpunkt für eine Sitzecke mit großen, bequemen, aufrechten Stühlen und einem Couchtisch.