Lagezentrum: Ein Luke Stone Thriller – Buch 3

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Aus der Reihe: Ein Luke Stone Thriller #3
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An einer Wand des Arbeitszimmers war ein raumhohes Bücherregal. Das Bücherregal erinnerte Luke an The Great Gatsby.

Und dann waren da noch die Fenster. Riesige, anmutige, vom Boden bis zur Decke reichende Fenster, die eine großartige Aussicht auf das weitläufige Gelände des Marine-Observatoriums ermöglichten. Die Fenster waren nach Südwesten ausgerichtet und ließen das Tageslicht herein.

Die Tage wurden deutlich kürzer. Obwohl es noch nicht einmal 19 Uhr war, ließ das Sonnenlicht bereits nach. Der Tag ging zu Ende. Luke dachte noch einmal kurz an sein Gespräch mit Becca, als er Gunner abgesetzt hatte. Er schüttelte die Erinnerung schnell ab. Jetzt war nicht die Zeit, darüber nachzudenken.

Er saß auf der der Präsidentin gegenüberliegenden Seite des Couchtisches. Kurt Kimball saß zwischen den beiden. Kat Lopez stand hinter Susan, etwas rechts von ihr.

„Ja“, sagte Susan. „Das Special Response Team gibt es nicht mehr. Die meisten der ehemaligen Mitarbeiter wurden an andere Positionen innerhalb des FBI versetzt. Das, was Sie als Ihr ehemaliges Team betrachten, ist nicht mehr wiederherzustellen.“

„Susan“, sagte Luke. „Ich möchte Sie daran erinnern, dass Sie mich wieder aus dem Ruhestand holen wollen. Wissen Sie, was ich in den letzten zwei Monaten getan habe? Ich werde es Ihnen sagen. Campen, angeln, wandern, segeln. Ein bisschen jagen. Ein bisschen tauchen.“ Er rieb sich den Bart. „Ausschlafen.“

„Sie sind also ausgeruht und damit diensttauglich“, sagte Kurt Kimball.

Luke schüttelte den Kopf. „Ich bin total eingerostet. Ich brauche mein Team. Ich vertraue ihnen. Ohne sie kann ich nicht wirklich funktionieren.“

„Luke, wenn Sie einfach geblieben wären, anstatt zu verschwinden, wären Sie jetzt vielleicht Chef einer kleinen Behörde…“

„Ich habe versucht, meine Ehe zu retten“, sagte er trocken.

Susan starrte ihn direkt an. „Wie ist es gelaufen?“

Er schüttelte den Kopf. „Bislang nicht allzu gut.“

„Es tut mir leid, das zu hören.“

„Mir auch.“

Susan blickte hinter sich. „Kat, können wir den Status von Lukes ehemaligen Teammitgliedern erfahren?“

Kat Lopez blickte auf das Tablet in ihrer Hand. „Sicher. Mark Swann verließ das FBI für einen Job bei der National Security Agency. Er arbeitet in ihrem Hauptquartier hier in DC. Er ist seit dreieinhalb Wochen dort. Es wird noch ungefähr einen Monat dauern, bis er die nötige Sicherheitsfreigabe hat, dann wird er mit dem PRISM Data Mining Projekt anfangen können.“

„Edward Newsam ist immer noch beim FBI. Er war fast den ganzen Juni und Juli krankgeschrieben. Seine Hüftrehabilitation ist abgeschlossen und er wurde inzwischen dem Geiselrettungsteam zugeteilt. Er befindet sich derzeit in Quantico in Ausbildung für eine mögliche Arbeit beim Auslandsgeheimdienst, die im Laufe des Jahres beginnen soll. In seiner Akte steht ein Vermerk, dass die Details seiner Anstellung wahrscheinlich innerhalb der nächsten Wochen als Top Secret eingestuft werden. Ab diesem Zeitpunkt ist alles streng geheim, wenn es um seinen Status und seinen aktuellen Aufenhtaltsort geht.“

Luke nickte. Beides war keine große Überraschung. Swann und Newsam gehörten zu den Besten in ihrem Fach. „Können wir sie ausleihen?“, fragte er.

Kat Lopez nickte. „Wenn wir sie anfordern, werden die Behörden unserer Bitte nachkommen.“

„Und Trudy?“, fragte Luke. „Sie brauche ich auch.“

„Luke, Trudy Wellington ist im Gefängnis“, sagte Susan.

Luke fühlte sich, als hätte ihm jemand in den Magen geschlagen. Er starrte ganze fünf Sekunden lang in den Raum und versuchte, diese Worte zu verarbeiten.

„Was?“, sagte er schließlich.

Susan schüttelte den Kopf.

„Ich kann nicht glauben, dass Sie das nicht wissen. Was haben Sie gemacht, sich unter einem Stein versteckt? Lesen Sie keine Zeitung?“

Er zuckte die Achseln. „Ich habe Ihnen gesagt, was ich die letzten Monate getan habe. Ich war untergetaucht. Dort wo ich war, gab es keine Zeitungen und den Computer habe ich zu Hause gelassen.“

Kat Lopez las von ihrem Tablet ab. Ihre Stimme klang mechanisch, fast schon roboterhaft.

„Trudy Wellington, 30 Jahre alt, war mindestens ein Jahr lang Don Morris' Geliebte während der Planung der Anschläge vom 6. Juni. E-Mail-, Telefon-, SMS- und Computeraufzeichnungen deuten darauf hin, dass sie bereits im vergangenen März von dem Plan wusste, den Präsidenten sowie die Vizepräsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika zu ermorden, und wer die Attentäter waren. Sie wurde wegen Verrat, Verabredung zum Verrat, Veraredung zum Mord in mehr als dreihundert Fällen, sowie wegen einer Reihe anderer Vergehen angeklagt. Momentan befindet sie sich ohne Kaution im Frauengefängnis in Randal, Maryland. Wenn sie verurteilt wird, drohen ihr eine lebenslange Haftstrafe oder sogar die Todesstrafe.“

Luke fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Die Nachricht traf ihn wie ein Schlag auf den Kopf. Er dachte an Trudy, stellte sie sich mit ihrer merkwürdigen roten Brille vor, wie ihre Augen über den Bildschirm ihres Tablet-Computers huschten. Er dachte daran, wie er um 3 Uhr morgens in ihre Wohnung gekommen war, wie sie die Tür geöffnet hatte und nichts anhatte als ein langes, dünnes T-Shirt und die Pistole in ihrer Hand. Er dachte daran, wie ihre Haut sich in dieser Nacht auf seiner angefühlt hatte.

Sie war im Gefängnis? Das konnte nicht sein.

„Trudy Wellington steht die Todesstrafe bevor?“, wiederholte er.

„Kurz gesagt, ja.“

„Und das nur, weil sie Don nicht angezeigt hat?“

Susan schüttelte den Kopf. „Es ist Verrat, egal wie man es dreht oder wendet. Eine Menge Leute sind gestorben, einschließlich Thomas Hayes, der nicht nur der Präsident, sondern auch ein guter Freund war. Wellington hätte es möglicherweise verhindern können, aber sie entschied sich dagegen. Sie entschied sich, es nicht einmal zu versuchen. Die einzige Möglichkeit, wie sie sich noch retten könnte, wäre, gegen die Täter auszusagen.“

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie davon wusste“, sagte Luke. „Hat sie gestanden?“

„Sie leugnet alles“, sagte Kat Lopez.

„Ich würde dazu neigen, ihr zu glauben“, sagte Luke.

Kat hielt ihm ihr Tablet hin. „Es gibt etwa zweihundert Seiten Beweise. Wir haben Zugang zu den meisten davon. Lesen Sie sie sich gerne durch. Vielleicht denken Sie danach anders darüber.“

Luke schüttelte den Kopf. Er sah Susan an. „Und was bedeutet das für uns?“

Sie zuckte die Achseln. „Mark Swann und Ed Newsam können Sie für ein paar Tage haben, wenn Sie sie brauchen. Aber Trudy Wellington auf keinen Fall.“

Sie sah ihn an.

„Der Hubschrauber fliegt in einer Stunde.“

KAPITEL FÜNF

16. August

07:15 Uhr

Black-Rock-Damm, Great Smoky Mountains, North Carolina

Von Lukes Fenster aus war nichts Ungewöhnliches zu erkennen, als der elegante schwarze Hubschrauber tief über den Damm flog. Sie befanden sich über dem Black Rock Lake, der lang und malerisch unter ihnen lag und auf allen Seiten von dichter grüner Wildnis und steilen Hängen umgeben war. Eine schmale Fahrbahn erstreckte sich an einer Seite des Damms. Sie flogen an ihr vorbei und sahen den fünfzig Stockwerke hohen Abgrund, an dessen unterem Ende sich das Kraftwerk und die Schleusen befanden. Die Schleusentore schienen normal zu funktionieren. Nicht mehr als ein kleines Rinnsal floss aus ihnen heraus. Über eine Strecke von etwa 500 Metern spannten sich Stromtransformatoren, ein Spinnennetz aus Stahltürmen und Hochspannungsdrähten vom Damm weg. Sie schienen ebenfalls intakt zu sein.

„Es gibt nicht viel zu sehen“, sagte er in sein Headset.

Zu seiner Linken saß der große Ed Newsam und starrte aus dem Fenster auf der gegenüberliegenden Seite. Eds gebrochene Hüfte war geflickt, und es sah aus, als hätte er viel Zeit im Kraftraum verbracht. Seine ohnehin schon dicken Arme waren noch größer, als Luke sie in Erinnerung hatte, seine Brust und Schultern waren noch breiter, seine Beine sahen noch mehr aus wie Eichenstämme. Er trug Jeans, Arbeitsstiefel und ein einfaches blaues T-Shirt.

Im Sitz hinter ihnen saß Mark Swann. Er war groß und schlank, seine schlaksigen Beine waren ausgestreckt, seine Chuck-Taylor-Sneakers nur wenige Zentimeter von Lukes eigenen Füßen entfernt. Seine sandfarbenen Haare waren länger als zuvor und zu einem Pferdeschwanz gebunden, und er hatte irgendwann in den letzten zwei Monaten seine Fliegerbrille gegen eine runde John-Lennon-Brille getauscht. Er trug ein schwarzes T-Shirt mit dem Logo der Punkrock-Band The Ramones.

„Das Wasser läuft durch die Schleusen, genau wie es soll“, sagte der Hubschrauberpilot. Er war ein Mann mittleren Alters und trug eine schwarze Nylonjacke mit den Großbuchstaben FEMA in Weiß auf dem Rücken. „Es gab keine Schäden am Damm oder an den Einrichtungen und auch vom Dammpersonal ist niemand zu Schaden gekommen. Das einzige, was hier passiert ist, war, dass die Zufahrtsstraße weggespült wurde. Etwa fünf Kilometer südlich beginnt die eigentliche Katastrophe.“

Sie waren mit einem Secret Service Jet von Washington, DC aus zu einem kleinen städtischen Flughafen am Rande des Nationalparks geflogen. Sie waren kurz vor Sonnenaufgang angekommen, und der Hubschrauber hatte bereits auf sie gewartet. Auf dem Flug selbst hatten sie nicht viel geredet. Die Stimmung war angesichts der Umstände düster und Trudy Wellington als Geheimdienstlerin hätte normalerweise den größten Teil des Gesprächs geführt. Susan hatte Luke einen Ersatz angeboten, aber Luke hatte abgelehnt. Ihre Aufgabe war es sowieso, Informationen von ihrem Gefangenen zu erhalten. Sicher konnte er ihnen alles erzählen, was sie wissen mussten.

Luke wusste, dass sie alle gleichermaßen von Trudys Verlust betroffen und schockiert über ihren Verrat waren. Er wusste auch, oder vermutete es zumindest, dass seine ehemaligen Teammitglieder mit diesem Kapitel ihres Lebens abgeschlossen hatten. Sie alle hatten neue Aufgaben, neue Herausforderungen, neue Kollegen, auf die man sich freuen konnte. In zwei Monaten hatte sich viel geändert.

 

Das Special Response Team existierte nicht mehr. Luke hätte es bestimmt in irgendeiner Form retten können – nach dem Putschversuch und den Ebola-Angriffen hätte er den Erfolg genießen und das Team ausbauen können – aber er hatte sich dagegen entschieden. Jetzt war das SRT Vergangenheit und Luke Stones Rolle selbst ebenfalls. Er hatte sich zur Ruhe gesetzt. Nicht nur das, er war komplett untergetaucht und hatte sich nicht gerade Mühe gegeben, in Kontakt zu bleiben. Der Zusammenhalt eines Teams war ein wichtiger Bestandteil im Geheimdienst und unter Sondereinsatzkräften wie ihnen. Ohne Kontakt gab es keinen Zusammenhalt.

Was bedeutete, dass es im Moment auch kein Team gab.

Der Hubschrauber machte eine Kurve und flog nach Süden. Fast sofort wurde die Verwüstung deutlich. Das gesamte Gebiet unterhalb des Dammes war überflutet. Überall waren große Bäume ausgerissen und wie Streichhölzer herumgeschleudert worden. In wenigen Minuten erreichten sie das Gelände des ehemaligen Black Rock Resorts. Teile des Obergeschosses des Hauptgebäudes waren noch intakt und ragten aus dem Hochwasser heraus. Autos stapelten sich an der Außenwand des zerstörten Hotels, zusammen mit weiteren Bäumen, von denen einige ihre Äste zum Himmel streckten, wie Gläubige, die Gott um ein Wunder anflehen.

Die Autos, die Bäume und das Treibgut hatten sich zu einem Minidamm ineinandergeschoben, hinter dem sich ein breiter See gebildet hatte. Etwa ein Dutzend Zodiacs waren am Rande dieses Sees geparkt. Taucherteams in voller Montur bereiteten sich in mehreren Booten auf ihren Einsatz vor.

„Haben sie hier Überlebende gefunden?“, fragte Luke.

Der Pilot schüttelte den Kopf. „Keinen einzigen. Zumindest nach dem Stand heute Morgen. Allerdings fand man etwa hundert Leichen in der Cafeteria des Resorts. Sie bringen sie eine nach der anderen hoch. Ich glaube, sie haben noch nicht mit der Suche in den Zimmern begonnen. Vielleicht warten sie damit sogar, bis das Wasser abgesackt ist. Sich unter Wasser durch die Gänge zu bewegen ist gefährliche Arbeit und wahrscheinlich unnötig. Da unten lebt eh niemand mehr.“

Ed Newsam, der in seiner entspannten Art ausgestreckt dasaß, streckte sich und richtete sich nur einen Hauch auf. „Woher wollen Sie das wissen? Es könnte noch Luftblasen geben. Da unten könnten immer noch Leute sein, die auf Rettung warten.“

„Sie haben Unterwasser-Abhörgeräte auf den Booten“, sagte der Pilot. „Wenn da tatsächlich noch jemand am Leben ist, hat er gestern den ganzen Tag über keinen Mucks von sich gegeben.“

„Wenn ich das Sagen hätte, würden meine besten Taucher Raum für Raum durchgehen. Dass die Leute in der Cafeteria tot sind, wissen wir bereits. Und die Taucher wussten, dass ihr Job gefährlich ist. Die Zivilisten im Resort hatten jedoch keine Ahnung, was auf sie zukommt.“

Der Pilot zuckte die Achseln. „Wie dem auch sei, sie arbeiten so schnell sie können.“

Der Hubschrauber zog weiter nach Süden. Die Flut hatte eine Schneise durch das Tal geschnitten. Es sah aus, als wäre ein Riese durch den Wald gestapft und hätte die Bäume herausgerissen. Überall war Wasser. Das ursprüngliche Flussbett war nicht mehr zu erkennen.

Sie überquerten die Stadt Sargent, die immer noch mindestens zwei Meter hoch überschwemmt war. Die Verwüstung hier war allerdings nicht so verheerend. Es gab eine Menge leerer Grundstücke, wo vorher Häuser gestanden haben mussten – an anderen Ecken ragten Gebäude und Fastfood-Schilder noch wie Finger aus dem Wasser. Der Hubschrauber flog über ein Betongebäude, an dem sich ein Stapel von Autos und Geländewagen türmte. HONEST ABE'S GEBRAUCHTWAGEN besagte ein Schild, das halb aus dem Wasser ragte. Eines seiner Stützbalken war eingestürzt.

„Wie viele Tote gab es hier?“, fragte Luke.

„Fünfhundert“, sagte der Pilot. „Plus/minus ein paar Zerquetschte. Es fehlen immer noch 100 Menschen oder mehr. Es war früh am Morgen, und es gab keine große Vorwarnung. Viele Leute wurden noch in ihren Häusern weggefegt. Man liegt ruhig im Bett und auf einmal geht das alte Luftangriffssignal aus Zeiten des Kalten Kriegs los, was macht man da? Viele flohen anscheinend in ihre Keller. Das ist nicht gerade der Ort, an dem man sein sollte, wenn eine Flut kommt.“

„Niemand hat damit gerechnet, dass der Damm bricht?“, fragte Swann. Es war das erste, was er gesagt hatte, seit sie in den Hubschrauber gestiegen waren.

Der Pilot war mit seiner Steuerung beschäftigt. „Warum sollten man auch? Der Damm ist schließlich auch nicht gebrochen. Er wurde gebaut, um 1000 Jahre lang standzuhalten.“

„Okay“, sagte Luke. „Ich habe genug gesehen. Lasst uns mit dem Gefangenen reden.“

*

08:30 Uhr

Chattahoochee National Forest, Georgia

Das Lager erschien aus dem tiefen Wald wie eine Fata Morgana.

„Hübsch ist es ja nicht gerade“, sagte Ed Newsam.

Inmitten des Dunkelgrün des umliegenden Walds lag ein perfektes braun-graues Quadrat mit einer Seitenlänge von einem Kilometer. Als der Hubschrauber näher kam, konnte Luke Dutzende von Baracken ausmachen, die Reihe an Reihe standen, sowie ein großes, quadratisches Wasserreservoir in der Mitte des Lagers. Nebengebäude umgaben das Reservoir, das mit einem stählernen Laufsteg überquert werden konnte.

Der Hubschrauber begann seinen Landeanflug und Luke konnte zusehen, wie sich der Hubschrauberlandeplatz näherte. Er befand sich in einem Bereich in der äußersten westlichen Ecke des Lagers, mit einigen großen Verwaltungsgebäuden, einem Schwimmbad und ein paar Parkplätzen. Er konnte nun deutlich Betonflächen, eine Zufahrtsstraße, Straßen innerhalb des Lagers und eine Mauer mit Stacheldraht und Wachtürmen um den Rand des Lagers erkennen. Der Ort war wie eine offene Wunde inmitten des Waldes.

„Was ist das für ein Ort?“, fragte Luke in sein Headset.

Der Hubschrauberpilot war mit der Landung beschäftigt, aber nicht zu beschäftigt, um zu antworten. „Ich habe gehört, es heißt Camp Enduring Freedom“, sagte er. „Die Leute hier neigen dazu, es Camp Nirgendwo zu nennen. Offiziell gehört es zu uns, der Bundesagentur für Notfalleinsätze. Sie werden es auf keiner Karte finden. Ich schätze, es gibt keinen offiziellen Namen.“

„Also existiert es nicht?“, fragte Luke.

Der Hubschrauber flog jetzt tief, die grauen Gebäude des Lagers ragten um sie herum auf. Luke bemerkte, dass sich an den Gebäuden mit Stahldrähten verstärktes Glas befand.

Der Pilot schüttelte den Kopf lächelnd. „Was existiert nicht? Ich sehe hier nur unbewohnte Wildnis. Hier gibt es nichts als Wald.“

Ein Flugeinweiser in einer gelben Weste stand mit leuchtend orangefarbenen Stäben in der Hand seitlich des Hubschrauberlandeplatzes und winkte ihnen zu. Der Pilot setzte den Hubschrauber perfekt in der Mitte des Landeplatzes ab. Er schaltete den Motor ab und die Rotoren begannen sich sofort unter lautem Heulen zu verlangsamen.

„Wenn Sie den Chinesen sehen“, sagte der Pilot, „verpassen Sie ihm ein paar von mir.“

„So was machen wir nicht“, sagte Luke.

Der Pilot drehte sich um und lächelte. „Natürlich nicht. Ich fliege ständig Leute an solche Orte und zurück. Ich muss Leute wie Sie nur ansehen und weiß, wofür Sie hier sind, glauben Sie mir. Ein Blick hat mir gereicht und mir war klar, dass es für den Kerl langsam brenzlig wird.“

Er, Swann und Ed verließen den Hubschrauber mit eingezogenen Köpfen. Ein Mann wartete bereits auf dem Landeplatz, um sie zu begrüßen. Er trug einen grauen Geschäftsanzug und eine blaue Krawatte. Seine Haare wurden von den langsamen Rotorblättern des Hubschraubers umhergeblasen. Der Stoff seines Anzugs kräuselte sich. Seine schwarzen Schuhe waren auf Hochglanz poliert. Er sah aus, als sei er gerade aus einem Pendlerzug in Manhattan gestiegen. Er war so fehl am Platz, wie es nur möglich war.

Als Luke näher kam, betrachtete er sein Gesicht näher. Sein Alter war schwer zu schätzen – weder alt, noch jung, irgendetwas dazwischen. Er streckte seine Hand aus. Luke schüttelte sie.

„Agent Stone? Ich bin Pete Winn. Man sagte mir, die Präsidentin hätte Sie geschickt. Danke, dass Sie uns besuchen kommen.“

„Danke, Pete. Bitte nennen Sie mich Luke.“

Luke, Ed und Swann folgten Pete Winn vom Hubschrauber weg zu einer geriffelten Aluminiumhütte auf der anderen Seite des Platzes. Sogar der Hubschrauberlandeplatz war von Stacheldrahtzäunen umgeben. Der einzige Weg zum oder vom Hubschrauberlandeplatz war durch dieses Gebäude. Die Türen zum Gebäude waren kameragesteuert. Sie öffneten sich automatisch, als sich die Männer näherten.

„Was ist das hier für ein Ort?“, fragte Luke.

„Sie meinen unser bescheidenes Lager?“, fragte Winn.

„Ja.“

„Ah, nun ja. Lassen Sie mich Ihnen die Kurzpräsentation geben. Im Grunde ist es ein Internierungslager. Wir haben im Moment etwas über 250 Gefangene, darunter mehr als 70 Kinder. Die meisten sind illegale Einwanderer aus Mexiko und Mittelamerika, deren Leben durch Drogenkartelle oder kriminelle Banden gefährdet wäre, wenn sie nach Hause geschickt werden würden. Sie haben kein Asyl, also bleiben sie hier bei ihren Familien, bis die Einwanderungs- und Einbürgerungsbehörde entscheidet, was mit ihnen geschehen soll. Ihr Immigrationsstatus ist offiziell unbestimmt. Da dieser Ort quasi unsichtbar ist, haben die Banden keine Ahnung, wo sie sind.“

Sie gingen schnell durch das Gebäude. Es war im Grunde ein Pausenraum für Fluglotsen, Signalgeber und Piloten. Es gab ein paar Tische und Stühle, einige Funk- und Videoüberwachungsgeräte, einen Radarschirm, eine Kaffeemaschine und eine alte Schachtel mit abgestandenen Donuts auf dem Tisch.

„Also sitzen sie hier fest?“, fragte Swann.

„Nun ja, festsitzen ist etwas stark ausgedrückt“, sagte Winn. „Aber ja, die Familie, die am längsten hier ist, ist bereits seit sieben Jahren hier.“

Winn bemerkte ihre Blicke.

„Es ist nicht so schlimm, wie es sich anhört. Wirklich nicht. Alle Kinder gehen fünf Tage in der Woche zur Schule. Die Schule ist gleich hier auf dem Gelände. Es gibt jede Menge Aktivitäten, darunter zwei neue Filme an jedem Wochenende, die sowohl auf Englisch als auch auf Spanisch gezeigt werden. Es gibt Fußball und Basketball, und die Erwachsenen können Sprachunterricht und Berufstraining nehmen, zum Beispiel bei den Tischlermeistern, die wir hierher bringen.“

„Hört sich ja toll an“, sagte Swann. „Macht es euch was aus, wenn ich meinen Urlaub hier verbringe?“

„Sie wären überrascht“, sagte Winn. „Den Leuten gefällt es hier. Es ist viel besser, als nach Hause zu gehen und ermordet zu werden.“

Ein schwarzer Geländewagen wartete vor der Hütte auf sie. Sie fuhren durch das Lager und passierten einen weiteren Zaun, der mit Stacheldraht versehen war. Eine Handvoll Männer saßen auf Bänken auf der anderen Seite. Vier oder fünf von ihnen waren Weiße. Ein paar von ihnen waren schwarz. Sie trugen alle hellgelbe Overalls. Sie starrten durch den Zaun auf das vorbeifahrende Auto.

„Diese Typen sehen nicht wie Mexikaner aus“, sagte Ed Newsam.

Pete Winns Gesicht begann sich zu verändern. Zuvor war es freundlich, vielleicht sogar etwas nervös gewesen, Luke und sein Team zu treffen. Jetzt schien es fast abweisend.

„Nein, das tun sie nicht“, sagte er. „Wir haben hier auch ein paar waschechte Amerikaner.“

„Verstecken sie sich vor den Kartellen?“, fragte Swann,

Winn starrte geradeaus. „Meine Herren, ich bin sicher, es gibt Aspekte Ihrer Arbeit, die Sie nicht diskutieren dürfen. Das gilt auch für mich.“

Nach einigen Minuten waren sie am Hubschrauberlandeplatz und den Verwaltungsgebäuden vorbei auf die andere Seite des Lagers gefahren. Der Wagen hielt an. Es war niemand in der Nähe – keine Häftlinge, keine Arbeiter, überhaupt niemand. Eine kleine Hütte stand allein auf einem einsamen Stück Gelände.

Die Männer stiegen aus. Der Boden war unfruchtbare, harte Erde. Jegliches Gefühl von Geschäftigkeit, oder überhaupt irgendeiner Art von Leben war hier nicht mehr zu spüren.

Pete Winn gab Luke einen Schlüsselring. Es befand sich nur ein Schlüssel dran. Winns Gesicht verhärtete sich. Seine Augen waren stählern und kalt. Sein Verhalten hatte sich drastisch gerändert, von dem unsicheren Mann, der sie auf dem Hubschrauberlandeplatz begrüßt hatte, zu dem, was er jetzt war.

„Die Existenz dieser Hütte ist streng geheim. Offiziell existiert sie nicht, ebenso wenig wie dieser Gefangene. Ihr Besuch hier hat nie stattgefunden. Die chinesische Regierung hat keine Nachforschungen über den Verbleib eines Mannes namens Li Quiangguo angestellt, weder offiziell noch durch die Hintertür. Meines Wissens haben die Chinesen so getan, als hätten sie nichts zu verbergen oder zu befürchten und haben sogar Hilfe angeboten, um die Quelle des Hacks in das Betriebssystem des Staudamms zu finden.“

 

Er gestikulierte mit dem Kopf zur Kabine.

„Die Wände der Kabine sind schalldicht. Der Schlüssel öffnet einen Geräteschrank im Hinterzimmer. Wenn Sie meinen, Sie brauchen Hilfsmittel, um Ihre Befragung zu erleichtern, werden Sie dort vielleicht fündig.“

Luke nickte, sagte aber nichts. Ihm gefiel die Annahme nicht, die diese Leute alle zu machen schienen, dass er hierher gerufen worden war, um den Gefangenen zu foltern.

Hatte er schon mal Menschen gefoltert? Je nach Definition des Wortes, ja. Aber niemand hatte ihn je dafür einberufen mit der expliziten Aufgabenstellung, jemanden zu foltern. Es gab Leute, die sich viel besser damit auskannten als Luke. Wenn er früher Leute gefoltert hatte, hatte es sich stets aus der Situation heraus ergeben und er hatte improvisieren müssen, um an kritische Informationen zu gelangen, die Luke sofort hatte erfahren müssen.

Pete Winn fuhr fort, wieder etwas entspannter.

„Wenn Sie etwas brauchen, Mittagessen, Bier, Abendessen, oder wenn Sie zurück zum Landeplatz wollen, nehmen Sie einfach das Telefon in der Kabine und wählen Sie die Null. Wir schicken Ihnen, was Sie brauchen. Wenn Sie möchten, können wir Sie auch heute Nacht hier unterbringen und Ihnen zur Verfügung stellen, was Sie an Pflegeartikeln brauchen. Seife, Shampoo, Rasierer – wir haben alles da. Wir können Ihnen auch Kleidung zum Wechseln besorgen, wenn Sie sie brauchen.“

„Danke“, sagte Luke.

„Ich lasse Sie jetzt in Ruhe“, sagte Winn. „Viel Glück.“

Als er gegangen war, hielt Luke an, um mit seinen Männern vor der Hütte zu reden. Vor dem Lagerzaun türmten sich grüne Berge um sie herum auf. Das Lager schien sich in einem Talkessel zu befinden.

„Swann, wie viele Jahre warst du in China?“

„Sechs.“

„In welchem Teil?“

„Überall. Ich habe hauptsächlich in Peking gelebt, aber ich habe auch Zeit in Shanghai und Chongqing verbracht, auch ein wenig im Süden, in Guangzhou und Hongkong.“

„Okay, ich möchte, dass du den Kerl genau beobachtest und herausfindest, was du nur kannst. Egal was. Woher er kommen könnte. Wie alt er sein könnte. Sein Bildungsstand. Wie gut er sich mit Computern auskennt. Ob er überhaupt aus China stammt. Susan Hopkins' Leute haben mir gesagt, dass der Kerl fließend Englisch spricht. Wie stehen die Chancen, dass er hier in den Staaten, in Kanada oder Hongkong geboren wurde? Oder irgendwo anders. Chinesen gibt es überall.“

Swann schüttelte den Kopf. „Wenn der Kerl ein Agent ist, werde ich ihm diese Dinge nicht ansehen können. Er wird zu gut darin sein, seine Herkunft zu verbergen.“

„Sag mir einfach, was du denkst“, sagte Luke. „Das ist keine Matheaufgabe. Es gibt keine richtigen oder falschen Antworten. Ich will nur deine Meinung hören.“

Swann nickte. „Verstanden.“

Luke schaute ihn etwas genauer an. „Wie zimperlich bist du?“

Er hatte sich noch nie Sorgen um Swanns Persönlichkeit gemacht, aber jetzt kam es ihn in den Sinn, dass er so etwas wie ein schwaches Glied sein könnte.

„Zimperlich? Wie meinst du das?“

„Ed und ich müssen da drin vielleicht etwas die Muskeln spielen lassen, wenn du verstehst.“

„Nun, sag mir einfach Bescheid und ich mache einen kleinen Spaziergang.“

„Wink den Scharfschützen zu, wenn du schon dabei bist“, sagte Ed Newsam.

Etwa hundert Meter entfernt stand ein dreistöckiger Wachturm. Luke und Swann warfen einen Blick darauf. Ein Mann mit einem Gewehr stand im obersten Stockwerk und zielte scheinbar auf sie. Aus dieser Entfernung sah es so aus, als hätte er das Gewehr direkt auf sie gerichtet und als hätte er sie mit seinem Zielfernrohr im Blick.

„Kann er uns von dort aus treffen?“, fragte Swann.

„Vermutlich im Schlaf“, erwiderte Luke.

„Er übt doch nur“, sagte Ed. „Ihm ist bestimmt todlangweilig.“

Sie betraten die Hütte.

*

Der Mann trug einen knallgelben Overall. Er saß auf einem Metallklappstuhl mitten in einem leeren Raum. Er war groß, hatte breite Schultern, dicke Armen und Beine und einen ausgeprägten Bauch.

Er trug eine schwarze Kapuze über dem Kopf. Seine Handgelenke waren hinter seinem Rücken gefesselt, seine Beine an den Knöcheln zusammengebunden. Er war nach vorne gebeugt, als würde er schlafen. Mit der Kapuze über dem Kopf war es unmöglich, das zu erkennen.

Luke zog die Kapuze vom Kopf des Mannes ab. Der Mann zuckte scheinbar überrascht zusammen und setzte sich auf. Sein tiefschwarzes Haar war zerzaust – es stand an einigen Stellen in Büscheln auf, an anderen war es flachgedrückt. Unter der Kapuze trug er eine Schlafmaske – die Art, die man sich auf langen Flügen zum Schlafen aufzieht.

Er gähnte, als würde er von einem Mittagsschlaf erwachen.

„Li Quiangguo“, sagte Luke. „Ni hui shuo yingyu ma?

Auf Mandarin bedeutete das so viel wie Sprechen Sie Englisch?

Der Mann lächelte breit. „Nennen Sie mich Johnny“, sagte er. „Bitte. Den Namen benutze ich hier im Westen. Und lassen Sie uns Englisch sprechen. Das macht es für alle einfacher, besonders für mich.“

Sein Englisch klang auf jeden Fall amerikanisch, jedoch vollkommen akzentfrei und mit kaum Anzeichen eines regionalen Dialektes. Luke glaubte, einen leichten Dialekt aus dem mittleren Westen feststellen zu können. Aber das war nur schwer zu beurteilen. Er hätte genauso gut von einem Raumschiff heruntergebeamt worden sein können.

„Warum macht es das einfacher für Sie?“, fragte Luke.

„Es schont meine Ohren. Dann muss ich nicht zuhören, wie Sie die schöne chinesische Sprache verunstalten.“

Jetzt lächelte Luke. „Sagen Sie mir, Li. Warum haben Sie sich nicht umgebracht, als Sie die Chance dazu hatten?“

Li sah übertrieben überrascht aus, fast angeekelt. „Warum sollte ich das tun? Ich liebe Amerika. Und man hat mich bis jetzt ziemlich gut behandelt.“

Es war interessant so etwas von einem Mann zu hören, der über Nacht an einen Metallstuhl gefesselt worden war, mit einer schwarzen Kapuze und Flugzeugblenden auf dem Kopf und sich in einem Gefangenenlager befand, das nicht existierte, ohne die Möglichkeit, mit der Außenwelt Kontakt aufzunehmen. Technisch gesehen war er nicht einmal verhaftet worden. Einen Anwalt hatte er auch nicht sehen dürfen. Man würde nicht gerade viele Leute finden, die ihm zustimmen würden, wenn er sagte, er wäre gut behandelt worden. Er war bis jetzt zwar nicht gefoltert wurden, doch die meisten würden ihre Messlatte wohl etwas höher ansetzen.

Li schien Lukes Gedanken lesen zu können. „Ich habe heute Morgen die Vögel draußen zwitschern hören. Daher wusste ich, dass es ein neuer Tag war.“

Luke griff zog dem Mann mit einer Hand seine Schlafmaske ab. „Vogelzwitschern am frühen Morgen. Wie schön. Es freut mich zu hören, dass Sie Ihren Aufenthalt bisher genossen haben. Leider werden sich die Dinge bald ändern.“

„Ah.“ Die Augen des Mannes blinzelten in der plötzlichen Helligkeit. Er blickte umher und sah Swann und Ed Newsam an. Seine Augen richteten sich auf Ed.

Ed war an die Wand gelehnt. Er schien entspannt und gleichzeitig bedrohlich. Sein Körper bewegte sich kaum. Es war so viel potentielle Energie in ihm gespeichert, dass er wie ein Sturm aussah, der jeden Moment losbrechen konnte. Seine Augen wichen denen des Chinesen nicht aus.

„Ich verstehe“, sagte Li.

Luke nickte.

Lis Gesicht verhärte sich. „Ich bin nur ein Tourist. Das ist alles nur eine schreckliche Verwechslung.“

„Wenn Sie ein Tourist sind“, sagte Ed, „dann möchten Sie uns vielleicht die Namen und Kontaktinformationen Ihrer Familie geben, damit wir sie wissen lassen können, wo Sie sind. Sie wissen schon, und ihnen sagen, dass es Ihnen gut geht.“

Li schüttelte den Kopf. „Ich würde gerne die chinesische Botschaft kontaktieren.“

„Unsere Vorgesetzten haben das bereits für Sie getan“, sagte Luke. Das stimmte nicht, soweit er wusste. Er bluffte, aber er hatte das Gefühl, dass der Bluff sich auszahlen würde.