Buch lesen: «Die eiserne Ferse», Seite 2

Schriftart:

»Sie scheinen den Altar der Tatsachen anzubeten«, spöttelte Doktor Hammerfield.

»Es gibt keinen Gott außer der Tatsache, und Herr Everhard ist ihr Prophet«, zitierte Doktor Ballingford.

Ernst lächelte zustimmend.

»Ich bin wie der Mann aus Texas«, sagte er, und um eine Erklärung gebeten, fuhr er fort: »Ja, der Mann aus Missouri sagt immer: >Sie müssen es mir zeigen.< Der Mann aus Texas aber sagt: >Sie müssen es mir in die Hand legen.< Was beweist, dass er kein Metaphysiker ist.«

Als Ernst einmal geradezu sagte, dass die metaphysischen Philosophen nie den Wahrheitsbeweis erbringen könnten, fragte Dr. Hammerfield hastig: »Was ist der Wahrheitsbeweis, junger Mann? Wollen Sie uns freundlichst erklären, worüber klügere Leute als Sie sich so lange den Kopf zerbrochen haben?«

»Gern«, antwortete Ernst. Seine absolute Sicherheit irritierte die ändern. »Die klugen Leute haben sich den Kopf so über der Wahrheit zerbrochen, weil sie auf der Suche nach ihr ins Blaue gerieten. Wären sie auf dem festen Boden geblieben, so würden sie sie leicht gefunden haben — ja, sie hätten entdeckt, dass sie selbst mit allem praktischen Tun und Denken ihres Lebens eben den Wahrheitsbeweis erbrachte.

»Den Beweis, den Beweis«, wiederholte Dr. Hammerfield ungeduldig, »ohne Umschweife. Geben Sie uns, was wir so lange gesucht haben: den Wahrheitsbeweis. Geben Sie ihn uns, und wir werden Götter sein.«

Seine Worte und sein ganzes Benehmen zeigten einen unhöflichen, höhnischen Skeptizismus, an dem jedoch die meisten bei Tische heimliches Gefallen fanden. Nur Bischof Morehouse schien aufgebracht.

»Dr. Jordan hat es ganz klar ausgesprochen«, sagte Ernst. »Sein Wahrheitsbericht ist: >Wird es wirken? Willst du dein Leben daran wagen?<«

»Pah!« höhnte Dr. Hammerfield. »Sie haben nicht mit Bischof Berkeley gerechnet. Er wurde nie widerlegt.«

»Der prächtigste Metaphysiker von allen«, Ernst lachte. »Aber Ihr Beispiel ist unglücklich gewählt. Berkeley bezeugt selbst, dass seine Metaphysik wirkungslos sei.«

Jetzt war Dr. Hammerfield zornig, rechtschaffen zornig. Es war, als hätte er Ernst bei einem Diebstahl oder einer Lüge ertappt.

»Junger Mann«, stieß er hervor, »diese Behauptung ist allen ändern Äußerungen, die Sie heute abend getan haben, ebenbürtig. Sie ist eine niedrige, unverantwortliche Anmaßung.«

»Ich bin ganz zerschmettert«, murmelte Ernst demütig Nur weiß ich noch nicht, wodurch. Sie müssen es mir in die Hand legen, Herr Doktor.«

»Das will ich, das will ich«, sprudelte Doktor Hammerfield heraus. »Woher wissen Sie das? Woher wissen Sie, dass Bischof Berkeley bezeugte, seine Metaphysik sei wirkungslos. Sie haben keinen Beweis dafür, junger Mann, sie war immer wirksam.«

»Ich halte es für einen Beweis für die Unwirksamkeit von Berkeleys Metaphysik, dass« — Ernst hielt einen Augenblick inne — , »dass Berkeley die unabänderliche Gewohnheit hatte, durch Türen statt durch Mauern zu gehen. Dass er sein Wohl Brot und Butter und gebratenem Fleisch anvertraute. Dass er sich mit einem Messer rasierte, welches wirkte, indem es die Haare aus seinem Gesicht entfernte.«

»Aber das sind wirkliche Dinge«, rief Doktor Hammerfield. »Metaphysik ist etwas Geistiges.«

»Und sie wirkt — geistig?« fragte Ernst ruhig.

Der andere nickte.

»Dann können also unzählige Engel auf einer Nadelspitze tanzen — geistig«, fuhr Ernst sinnend fort. »Und ein pelzgekleideter, speckfressender Gott kann existieren und wirken — geistig; und es gibt keine Gegenbeweise — geistig. Ich nehme an, Herr Doktor, dass Sie geistig leben?«

»Mein Geist ist mein Königreich«, lautete die Antwort.

»Mit ändern Worten, Sie leben im Blauen. Aber ich bin überzeugt, dass Sie zur Erde herabkommen, wenn Essenszeit ist, oder wenn ein Erdbeben stattfinden sollte. Oder, sagen Sie, Herr Doktor, fürchten Sie beim Erdbeben nicht, dass Ihr unkörperlicher Leib von einem unkörperlichen Ziegelstein getroffen werden könnte?«

Im selben Augenblick fuhr Doktor Hammerfields Hand unbewusst nach dem Kopfe, wo er eine Narbe unter dem Haar hatte. Zufällig hatte Ernst ein passendes Bild gewählt.

Doktor Hammerfield wäre bei dem Großen Erdbeben fast von einem herabstürzenden Schornstein erschlagen worden. Alles brach in schallendes Gelächter aus.

»Nun?« fragte Ernst, als sich die Heiterkeit gelegt hatte. »Ihre Gegenbeweise!«

Aber Doktor Hammerfield hatte für einen Augenblick genug bekommen, und der Kampf nahm eine andere Wendung. Punkt für Punkt forderte Ernst die Geistlichen heraus. Behaupteten sie, die arbeitende Klasse zu kennen, so sagte er ihnen gründlich die Wahrheit, bewies ihnen, dass sie die arbeitende Klasse gar nicht kannten, und forderte sie auf, ihn zu widerlegen. Er wartete ihnen mit Tatsachen auf, bremste ihre Ausflüge ins Blaue und holte sie mit seinen Tatsachen auf den festen Boden zurück.

Wie klar sehe ich die Szene vor mir! Noch jetzt kann ich ihn mit dem kriegerischen Ton in seiner Stimme hören, wie er seine Gegner mit seinen Tatsachen quälte, deren jede wie ein Peitschenhieb war, und er war unerbittlich. Er verlangte keinen Pardon und gab keinen. Nie vergesse ich den Hieb, den er ihnen zum Schluss versetzte.

»Sie haben mehrmals, teils offen, teils unbewusst, bewiesen, dass Sie die arbeitende Klasse gar nicht kennen. Aber daraus mache ich Ihnen keinen Vorwurf. Wie könnten Sie etwas von ihr wissen? Sie wohnen nicht mit ihr zusammen. Sie wohnen mit der kapitalistischen Klasse zusammen in ändern Gegenden. Und warum nicht? Die kapitalistische Klasse bezahlt Sie, ernährt Sie, gibt Ihnen die Kleidung, die Sie tragen. Und dafür predigen Sie eben die Metaphysik, die Ihren Brotherren angenehm ist. Und diese Metaphysik ist Ihnen wiederum angenehm, weil sie die hergebrachte Gesellschaftsform nicht bedroht.« Bei diesen Worten erhob sich lärmender Widerspruch. »Oh ich stelle Ihre Lauterkeit nicht in Frage«, fuhr Ernst fort »Sie sind ehrlich. Sie predigen, was Sie glauben. Darin liegt eben Ihre Kraft und Ihr Wert — für die kapitalistische Klasse. Sollten Sie aber Ihrem Glauben irgendeine Richtung geben, die bedrohlich für die bestehende Ordnung wäre, so würde man Ihre Predigten unangenehm empfinden und Sie Ihres Amtes entheben. Hin und wieder geschieht das ja auch wohl nicht wahr?«

Diesmal erhob sich kein Widerspruch. Die Geistlichen saßen stumm ergeben da, und nur Dr. Hammerfield sagte:

»Wenn ihre Anschauungen unrichtig sind, werden sie ersucht, ihren Abschied zu nehmen.«

»Mit ändern Worten, wenn diese Anschauungen unbequem sind«, antwortete Ernst und fuhr dann fort: »Und darum sage ich Ihnen, machen Sie weiter, predigen Sie und verdienen Sie sich Ihr Geld damit, aber lassen Sie um Himmels willen die arbeitende Klasse in Frieden. Sie stehen im Lager des Feindes. Sie haben keine Gemeinschaft mit der arbeitenden Klasse. Ihre Hände sind weich von der Arbeit, die andere für Sie getan haben. Sie essen so viel, dass Sie schon Bäuche haben. (Hier fuhr Doktor Bailingford zusammen, und alle Augen richteten sich auf seinen mächtigen Bauch. Man sagte von ihm, dass er seit Jahren seine eigenen Füße nicht mehr gesehen hätte.) Sie haben keine anderen Lehren im Kopfe als die, welche die mächtigen Grundpfeiler der herrschenden Ordnung sind. Sie sind Söldner — ehrliche Söldner, gebe ich zu — genau wie die Leute der Schweizer Garde.

Bleiben Sie Ihrem Salz und Sold treu. Behüten Sie mit Ihren Predigten die Interessen ihrer Brotherren, aber steigen Sie nicht zur arbeitenden Klasse hinab und dienen ihr als falsche Führer. Als ehrliche Menschen können Sie nicht in zwei Lagern auf einmal stehen. Die arbeitende Klasse ist ohne Sie ausgekommen. Glauben Sie mir, sie wird es auch ferner. Und mehr noch, sie wird besser ohne Sie auskommen.«

Anklagen

Als die Gäste gegangen waren, warf mein Vater sich auf einen Sessel und brach in ein schallendes Gelächter aus. Seit dem Tode meiner Mutter hatte ich ihn noch nie so lachen hören.

»Ich wette, Doktor Hammerfield ist noch nie in seinem Leben so aufgebracht gewesen«, meinte er dann. »>Die Höflichkeit geistlicher Unterhaltung!< Hast du es bemerkt, wie er sanft wie ein Lamm anfing — Everhard, meine ich —, und wie schnell er zum brüllenden Löwen wurde? Er hat einen glänzend geschulten Geist. Er hätte einen vorzüglichen Wissenschaftler abgegeben, wenn seine Energie in die Richtung gelenkt worden wäre.«

Ich brauche kaum zu sagen, dass Ernst Everhard mich ungeheuer interessierte. Es war nicht allein das, was er gesagt, und wie er es gesagt hatte, sondern der Mann an sich. Nie war ich einem solchen Manne begegnet. Ich glaube, es kam daher, dass ich trotz meiner vierundzwanzig Jahre noch nicht verheiratet war. Er gefiel mir, das gestand ich selber.

Und mein Gefallen an ihm beruhte auf Dingen, die jenseits von Intellekt und Argument lagen. Ungeachtet seiner schwellenden Muskeln und seines Preisboxer-Halses machte er auf mich den Eindruck eines geistreichen jungen Mannes. Ich hatte das Gefühl, dass unter der Maske eines intelligenten Eisenfressers ein zarter, empfindsamer Geist lebte. Woher dies Gefühl kam, weiß ich nicht, aber es muss wohl meine weibliche Intuition gewesen sein.

In dieser tönenden Stimme lag etwas, das mir zu Herzen ging. Sie klang mir noch in den Ohren, und ich fühlte, dass ich sie gern wiederhören und ebenso gern das Lachen in seinen Augen wieder sehen würde — dieses Lachen, das den leidenschaftlichen Ernst seines Antlitzes Lügen strafte.

Und eine ganze Reihe wirrer, unbestimmter Gefühle regten sich in mir. Schon damals liebte ich ihn, wenn ich auch überzeugt bin, dass, hätte ich ihn nie wieder gesehen, diese unklaren Gefühle vergangen wären und ich ihn mit Leichtigkeit vergessen hätte.

Aber ich sollte ihn wieder sehen. Das neu erwachte Interesse meines Vaters für Soziologie, die Gesellschaften, die er gab, waren die Ursache. Mein Vater war nicht Soziologe. Seine Ehe mit meiner Mutter war sehr glücklich gewesen, und in den Forschungen, die er in seiner eigentlichen Wissenschaft, der Physik, anstellte, hatte er ebenfalls Glück gehabt. Als aber meine Mutter starb, konnte seine Arbeit nicht die entstandene Leere ausfüllen. Zuerst befasste er sich ein wenig mit Philosophie, dann ließ er sich, als das Interesse wach wurde, in das Studium der Nationalökonomie und der Soziologie hineintreiben. Er hatte einen starken Gerechtigkeitssinn und fasste bald eine wahre Leidenschaft, geschehenes Unrecht wiedergutzumachen. Diese Zeichen neuerwachten Lebensmutes nahm ich dankbar wahr, wenn ich mir auch nicht träumen ließ, was dabei herauskommen sollte. Mit der Leidenschaft eines Jünglings stürzte er sich in diese neuen Studien, unbekümmert, wohin sie ihn führten.

Er war stets gewohnt gewesen, im Laboratorium zu arbeiten, und so wurde unser Esszimmer bald zu einem soziologischen Laboratorium. Hierher kamen zum Essen Männer aller Art und Klassen — Gelehrte, Politiker, Bankleute, Kaufleute, Professoren, Arbeiterführer, Sozialisten und Anarchisten. Er reizte sie zur Diskussion und analysierte ihre Gedanken über Leben und Gesellschaft.

Ernst hatte er kurz vor dem »Pastoren-Abend« kennen gelernt. Und als die Gäste gegangen waren, erfuhr ich, wie er seine Bekanntschaft gemacht hatte. Beim Passieren einer Straße war er eines Abends stehen geblieben, um einem Mann zuzuhören, der auf einer Seifenkiste stand und zu einer Schar von Arbeitern redete. Der Mann auf der Kiste war Ernst. Aber er war kein gewöhnlicher Seifenkistenredner. Er stand in hohem Ansehen bei der sozialistischen Parteileitung, war einer der Führer, und zwar der anerkannte Führer in der sozialistischen Philosophie. Aber er hatte eine klare bestimmte Art, Schwerverständliches in einfachen Worten auszudrücken, er war der geborene Erklärer und Lehrer und verschmähte die Seifenkiste nicht als ein Mittel, den Arbeitern seine Parteilehren darzulegen.

Mein Vater war stehen geblieben, um zuzuhören, hatte Interesse gefasst, ihn angeredet und ihn, nachdem die Bekanntschaft gemacht war, zum »Pastoren-Abend« eingeladen. Nach der Gesellschaft erzählte mir mein Vater das wenige, was er von ihm wusste. Er stammte aus der Arbeiterklasse, wenn er auch zu den Everhards gehörte, die schon vor mehr als zweihundert Jahren in Amerika ansässig gewesen waren. Im Alter von zehn Jahren musste er schon in der Mühle arbeiten, und später kam er in die Lehre und wurde Hufschmied. Er war Autodidakt, hatte sich selbst Deutsch und Französisch beigebracht, und fristete nun sein Leben durch das Übersetzen wissenschaftlicher und philosophischer Werke für einen schwer kämpfenden sozialistischen Verlag in Chikago. Seine Einnahmen wurden vermehrt durch das geringe Honorar, das seine eigenen volkswirtschaftlichen und philosophischen Schriften ihm eintrugen.

So viel erfuhr ich, ehe ich zu Bett ging, und lange lag ich wach und hörte im Geist noch den Klang seiner Stimme. Ich erschrak vor meinen eigenen Gedanken. Er war so anders als die Männer meiner Klasse, so fremdartig und so stark. Seine Überlegenheit entzückte und erschreckte mich zu-gleich, denn meine phantastischen Gedanken trieben ihr mutwilliges Spiel so weit, bis ich mich dabei ertappte, dass ich ihn mir als meinen Geliebten, als meinen Gatten vorstellte. Ich hatte stets gehört, dass die Stärke eines Mannes eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf Frauen ausübte; aber er war zu stark. »Nein! Nein!« rief ich. »Es ist unmöglich, unsinnig!« Und am Morgen erwachte ich mit der Sehnsucht, ihn wieder zu sehen. Ich wollte ihn sehen, wie er andere Männer mit dem kriegerischen Klang seiner Stimme in der Diskussion abtat; ihn sehen, in all seiner Sicherheit und Kraft, wie er sie aus ihrer Behaglichkeit herausriss und aus ihren ausgetretenen Gedankenbahnen rüttelte. Warum er seine Klopffechterei betrieb? Um seinen eigenen Ausdruck zu gebrauchen, weil es »zog«, Effekt machte. Und zudem war seine Klopffechterei ein prachtvolles Schauspiel. Sie erregte einen wie der Angriff zur Schlacht.

Mehrere Tage vergingen, in denen ich Ernsts Bücher las, die mein Vater mir lieh. Er schrieb, wie er sprach, knapp, klar und überzeugend. Eben diese klare Schlichtheit war es, die selbst dann überzeugte, wenn man noch zweifelte. Er hatte die Gabe, Klarheit um sich zu verbreiten. Er war der vollendete Erklärer. Und doch war ich trotz seines Stils in vielem nicht mit ihm einverstanden. Er legte zuviel Gewicht auf das, was er Klassenkampf nannte -- den Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital, den Streit der Interessen. Vater erzählte mir mit großem Vergnügen das Urteil, das Doktor Hammerfield über Ernst gefällt hatte, und das in der Behauptung gipfelte, Ernst sei »ein frecher junger Laffe, den sein bisschen sehr unzureichendes Wissen aufgeblasen hätte«. Doktor Hammerfield wünschte auch nicht wieder mit ihm zusammenzutreffen.

Dagegen erklärte Bischof Morehouse, dass Ernst ihn interessiere, und dass er ihn gern wieder sehen wolle. »Ein starker junger Mann«, sagte er. »Und lebhaft, sehr lebhaft. Aber er ist zu sicher, zu sicher.«

Eines Nachmittags kam Ernst mit Vater. Der Bischof war bereits anwesend, und wir tranken Tee auf der Veranda. Dass Ernst so oft in Berkeley war, erklärte sich aus der Tatsache, dass er an der Universität Vorlesungen über Biologie hörte, und dass er ferner stark an seinem neuen Buche »Philosophie und Revolution« arbeitete.

Die Veranda schien plötzlich zu eng geworden, als Ernst kam. Nicht, dass er außergewöhnlich groß gewesen wäre — er maß nur ein Meter fünfundsiebzig —, aber er schien eine Atmosphäre von Größe auszustrahlen. Als er mich begrüßte, verriet er eine leichte Verlegenheit, die befremdend wirkte und nicht im Einklang stand mit seinem kühnen Blick und seiner festen, sicheren Hand, die die meine im Augenblick der Begrüßung drückte. Und eben in diesem Augenblick waren seine Augen ruhig und sicher. Er betrachtete mich lange, und eine Frage schien in seinem Blick zu liegen.

»Ich habe gerade in Ihrer >Philosophie der arbeitenden Klasse< gelesen«, sagte ich und sah seine Augen zufrieden auf leuchten. »Sie haben doch natürlich das Publikum in Betracht gezogen an das das Buch sich richtet«, antwortete er. »Ja, und eben deshalb muss ich ein Wörtchen mit Ihnen reden«, sagte ich herausfordernd.

»Ich habe auch einen Strauß mit Ihnen auszufechten, Herr Everhard«, sagte Bischof Morehouse.

Ernst hob die Schultern und nahm eine Tasse Tee, die ich ihm reichte.

Der Bischof ließ mir mit einer Verbeugung den Vortritt. »Sie schüren den Klassenhass«, sagte ich. »Ich halte es für unrecht und sträflich, all die niedrigen und rohen Instinkte der arbeitenden Klasse wachzurufen. Klassenhass ist unsozial, und, wie mir scheint, antisozialistisch.«

»Falsch«, erwiderte er. »Weder im Wortlaut noch im Geist irgendeiner meiner Schriften ist Klassenhass.« »Oho!« rief ich vorwurfsvoll, nahm sein Buch und schlug es auf. Er nippte lächelnd an seinem Tee, während ich die Seiten überflog.

»Seite hundertzweiunddreißig«, las ich laut. >»Daher gibt es im jetzigen Stadium der sozialen Entwicklung als einziges Mittel den Klassenkampf zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern.<«

Ich blickte ihn triumphierend an.

»Keine Spur von Klassenhass«, gab er lachend zurück.

»Aber Sie sprechen doch von Klassenkampf«, sagte ich.

»Etwas ganz anderes als Klassenhass«, erwiderte er. »Und glauben Sie mir, wir schüren den Hass nicht. Wir sagen, dass der Klassenkampf eine Folge der sozialen Entwicklung ist. Wir sind nicht dafür verantwortlich. Wir schaffen den Klassenkampf nicht. Wir erklären ihn nur, wie Newton das Gesetz der Gravitation erklärt hat. Wir erklären lediglich das Wesen des Interessenkonflikts, der den Klassenkampf hervorruft.«

»Aber es sollte keinen Interessenkonflikt geben!« rief ich.

»Da bin ich völlig mit Ihnen einig«, antwortete er. »Das ist es ja, was wir Sozialisten erstreben — die Beendigung des Interessenkonflikts. Entschuldigen Sie bitte einen Augenblick; lassen Sie mich vorlesen.« Er nahm das Buch und blätterte darin. »Seite hundertsechsundzwanzig: >Die Periode der Klassenkämpfe, die mit der Zersetzung der ursprünglichen Gütergemeinschaft und der Entstehung des Privateigentums begann, wird mit dem Aufhören des Privateigentums im Sinne des Sozialismus endigen.<«

»Aber da stimme ich nicht mit Ihnen überein«, fiel der Bischof ein, dessen blasses, asketisches Gesicht durch schwaches Erröten seine Erregung verriet. »Ihre Voraussetzung ist falsch. Es gibt nichts Derartiges wie einen Interessenkonflikt zwischen Arbeit und Kapital — oder, vielmehr, es sollte ihn nicht geben.«

»Danke«, sagte Ernst mit Nachdruck. »Durch diese Behauptung haben Sie mir meine Voraussetzung wiedergegeben .«

»Aber warum muss es einen Konflikt geben?« fragte der Bischof eifrig.

Ernst zuckte die Achsel. »Weil wir einmal so geschaffen sind, denke ich.«

»Aber das sind wir ja gar nicht!« rief der andere.

»Sprechen Sie vom Idealmenschen?« fragte Ernst. »Von dem selbstlosen, gottähnlichen Idealmenschen, der so selten ist, dass er praktisch gar nicht in Frage kommt, oder sprechen Sie vom gewöhnlichen Durchschnittsmenschen?«

»Vom gewöhnlichen Durchschnittsmenschen«, lautete die Antwort.

»Der schwach und fehlbar und Irrtümern verfallen ist?«

Bischof Morehouse nickte.

»Und kleinlich und selbstsüchtig?« Er nickte wieder. »Beachten Sie wohl,« sagte Ernst, »ich sagte >selbstsüchtig<.«

»Der Durchschnittsmensch ist selbstsüchtig«, gab der Bischof tapfer zu.

»Begehrt alles, was er bekommen kann.«

»Begehrt alles, was er bekommen kann — leider wahr.«

»Dann habe ich Sie.« Ernst ließ seine Kiefer wie eine Falle zuklappen. »Ich werde es Ihnen zeigen. Nehmen Sie einen Mann, der an der Straßenbahn arbeitet.«

»Er hätte diese Arbeit nicht, wenn das Kapital nicht wäre«, unterbrach ihn der Bischof.

»Stimmt, aber Sie werden mir zugeben, dass das Kapital zugrunde gehen würde, wenn die Arbeiter nicht die Dividenden verdienten.«

Der Bischof schwieg.

»Geben Sie das zu?« beharrte Ernst.

Der Bischof nickte.

»Dann heben unsere Behauptungen sich gegenseitig auf«, sagte Ernst geschäftsmäßig, »und wir sind wieder, wo wir waren. Also lassen Sie uns wieder von vorne anfangen. Die Arbeiter bei der Straßenbahn liefern die Arbeit. Die Aktionäre liefern das Kapital. Durch die vereinigte Wirkung von Arbeit und Kapital wird das Geld verdient. Das verdiente Geld wird zwischen ihnen geteilt. Der Verdienstanteil des Kapitals heißt >Dividende<, der der Arbeit >Lohn<.«

»Sehr richtig«, bemerkte der Bischof. »Und es ist kein Grund vorhanden, dass die Teilung nicht auf friedlichem Wege erfolgen sollte.«

»Sie haben schon vergessen, worüber wir uns einig waren«, erwiderte Ernst. »Wir waren uns darüber einig, dass der Durchschnittsmensch selbstsüchtig ist. Er ist der Mensch der Tatsache. Sie sind ins Blaue geflogen und haben einen Unterschied zwischen den Menschen aufgestellt, wie sie sein sollten, aber nicht sind. Kehren Sie wieder auf die Erde zurück. Der Arbeiter, der selbstsüchtig ist, will bei der Teilung haben, was er bekommen kann. Der Kapitalist, der auch selbstsüchtig ist, will ebenfalls bei der Teilung haben, was er bekommen kann. Wenn es aber nur soundso viel zum Teilen gibt, und wenn zwei alles haben wollen, dann ist der Interessenkonflikt zwischen Arbeit und Kapital ein unversöhnlicher. Solange es Arbeiter und Kapitalisten gibt, werden sie sich über die Teilung streiten. Wenn Sie heute abend in San Franzisko wären, müssten Sie zu Fuß gehen. Dort fährt nicht eine Straßenbahn.«

»Wieder Streik?« fragte der Bischof erschrocken. »Ja, sie streiten sich über die Verteilung des Gewinns der Straßenbahn.«

Bischof Morehouse wurde erregt.

»Es ist unrecht«, rief er. »Es ist so kurzsichtig von den Arbeitern. Wie können sie Sympathie von uns erwarten —« »Wenn wir gezwungen werden, zu Fuß zu gehen«, Ernst schmunzelte.

Aber Bischof Morehouse beachtete ihn nicht und fuhr fort: »Ihr Horizont ist zu eng. Menschen sollten Menschen sein und keine wilden Tiere. Jetzt wird es wieder Gewalt und Mord, trauernde Witwen und Waisen geben. Kapital und Arbeit sollten Freunde sein. Sie sollten Hand in Hand zu gegenseitigem Nutzen arbeiten.«

»Ach, jetzt schweben Sie wieder im Blauen«, bemerkte Ernst trocken. »Kommen Sie auf die Erde zurück. Vergessen Sie nicht: Wir waren uns einig, dass der Durchschnittsmensch selbstsüchtig ist.«

»Aber er sollte es nicht sein«, rief der Bischof.

»Da stimme ich mit Ihnen überein«, lautete Ernsts Erwiderung- »Er sollte nicht selbstsüchtig sein. Aber er wird es sein solange er unter einem sozialen System lebt, das auf einer Schweine-Ethik beruht.«

Der Bischof war entsetzt, und mein Vater schmunzelte.

»Ja, Schweine-Ethik«, fuhr Ernst unbarmherzig fort, »das ist das kapitalistische System. Und dafür tritt Ihre Kirche ein, die predigen Sie, so oft Sie die Kanzel besteigen. Schweine-Ethik! Es gibt keine andere Bezeichnung dafür.«

Bischof Morehouse wandte sich flehend zu meinem Vater, aber der nickte lachend.

»Ich fürchte, Herr Everhard hat recht«, sagte er. »Laissez-faire, die Unterlassungspolitik, jeder für sich, und den Rest soll der Teufel holen. Wie Herr Everhard neulich sagte, ist es die Aufgabe von euch Männern der Kirche, die bestehende Gesellschaftsordnung aufrechtzuerhalten, und auf dieser Grundlage steht die Gesellschaft eben.«

»Aber das ist nicht die Lehre Christi!« rief der Bischof.

»Die heutige Kirche lehrt nicht Christus«, warf Ernst schnell ein. »Deshalb will der Arbeiter nichts mit der Kirche zu tun haben. Die Kirche sanktioniert die furchtbare Brutalität und Grausamkeit der Kapitalisten gegen die arbeitende Klasse.«

»Die sanktioniert die Kirche nicht«, wandte der Bischof ein.

»Jedenfalls protestiert die Kirche nicht dagegen«, erwiderte er. »Und wenn die Kirche nicht protestiert, sanktioniert sie; denn vergessen Sie nicht, dass die Kirche von der kapitalistischen Klasse unterhalten wird.«

»In diesem Licht habe ich es noch nicht gesehen«, sagte der Bischof naiv. »Sie müssen unrecht haben. Ich weiß wohl, dass manches in dieser Welt hässlich und schlecht ist. Ich weiß, dass die Kirche das — das Proletariat, wie Sie es nennen, verloren hat.«

»Sie haben das Proletariat nie gehabt«, rief Ernst. »Das Proletariat ist abseits von der Kirche und ohne sie entstanden.«

»Ich verstehe Sie nicht«, sagte der Bischof verzagt.

»Dann lassen Sie es mich Ihnen erklären. Mit der Einführung der Maschine und des Fabriksystems gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts wurde die große Masse der arbeitenden Bevölkerung heimatlos gemacht. Das alte Arbeitssystem war zusammengebrochen. Das arbeitende Volk wurde von seinen Dörfern vertrieben und in Fabrikstädten zusammengepfercht. Mütter und Kinder mussten an den neuen Maschinen arbeiten. Alles Familienleben hörte auf. Die Bedingungen waren furchtbar. Es ist eine blutige Geschichte.«

»Ich weiß, ich weiß«, unterbrach Bischof Morehouse ihn mit schmerzlicher Miene. »Es war schrecklich. Aber das ist anderthalb Jahrhunderte her.«

»Und damals, vor anderthalb Jahrhunderten entstand eben das moderne Proletariat«, fuhr Ernst fort. »Und die Kirche kümmerte sich nicht darum. Während die Kapitalisten aus der Nation ein Schlachthaus machten, blieb die Kirche stumm. Sie protestierte damals so wenig, wie sie es heute tut. Wie Austin Lewis, wenn er von jener Zeit spricht, sagt, haben die, an welche das Gebot >Weidet meine Lämmer< ergangen ist, ruhig zugesehen, wie diese Lämmer in die Sklaverei verkauft wurden und sich zu Tode arbeiten mussten. Damals war die Kirche stumm, und ehe ich fortfahre, bitte ich Sie, mir zu sagen, ob Sie mir recht geben oder nicht. War die Kirche damals stumm?«

Bischof Morehouse zögerte. Wie Dr. Hammerfield war er einen solchen »Zusammenprall«, wie Ernst es nannte, nicht gewohnt.

»Die Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts ist geschrieben«, sagte Ernst schnell. »Wäre die Kirche nicht stumm, würde sie in den Büchern nicht schweigen.«

»Ich fürchte, die Kirche war stumm«, gestand der Bischof.

»Und die Kirche ist heute noch stumm.«

»Da muss ich widersprechen«, sagte der Bischof.

Ernst machte eine Pause, sah ihn forschend an und nahm dann die Herausforderung an.

»Also schön«, sagte er. »Lassen Sie uns sehen. In Chikago gibt es Frauen, die die ganze Woche für nur neunzig Cents arbeiten. Hat die Kirche dagegen protestiert?«

»Das ist mir ganz neu«, lautete die Antwort. »Neunzig Cents die Woche! Das ist ja schrecklich.«

»Hat die Kirche dagegen protestiert?« beharrte Ernst.

»Die Kirche weiß das nicht.« Der Bischof war offenbar in schwerer Bedrängnis.

»Aber der Kirche ist doch befohlen: >Weidet meine Lämmer«, höhnte Ernst. Und im nächsten Augenblick sagte er: »Verzeihen Sie meinen Hohn, Herr Bischof. Aber können Sie sich wundern, wenn wir die Geduld mit Ihnen verlieren? Wann haben Sie je bei Ihren kapitalistischen Verbänden gegen die Verwendung von Kindern zur Arbeit in den Baumwollspinnereien des Südens protestiert? Sechs -und siebenjährige Kinder arbeiten jede Nacht in Zwölfstundenschichten. Sie sehen nie die Sonne. Sie sterben wie die Fliegen. Die Dividenden werden mit ihrem Blute bezahlt. Und aus den Dividenden werden in Neuengland prachtvolle Kirchen gebaut, in denen Ihresgleichen den schlauen, dickbäuchigen Beziehern dieser Dividenden Plattheiten predigen.«

»Das wusste ich nicht«, murmelte der Bischof leise. Sein Gesicht war bleich, und ihm schien übel zu werden.

»Dann haben Sie also nicht dagegen protestiert.«

Der Bischof schüttelte den Kopf.

»Dann ist die Kirche heute noch so stumm, wie sie es im achtzehnten Jahrhundert war?«

Der Bischof schwieg, und Ernst gab dem Gespräch unvermittelt eine andere Wendung. »Sie wissen, dass ein Geistlicher, der protestieren wollte, entlassen würde.« »Ich glaube kaum, dass das leicht ist«, lautete die Erwiderung.

»Wollen Sie protestieren?« fragte Ernst. »Zeigen Sie mir solche Schäden, wie Sie sie anführen, in unserer eignen Gemeinde, und ich werde protestieren.«

»Ich werde sie Ihnen zeigen«, sagte Ernst ruhig. »Ich stehe Ihnen zur Verfügung. Ich will mit Ihnen eine Wanderung durch die Hölle machen.«

»Und ich werde protestieren.« Die Glieder des Bischofs strafften sich, und seine feinen Züge nahmen die Härte eines Kriegers an. »Die Kirche soll nicht stumm sein.«

»Man wird Sie entlassen«, sagte Ernst.

»Ich werde Ihnen das Gegenteil beweisen«, lautete die Antwort. »Ich werde beweisen, dass die Kirche nur aus Unwissenheit geirrt hat. Und mehr noch, ich bin überzeugt, dass, was auch immer Schreckliches in der Industrie vorkommt, nur durch die Unwissenheit der kapitalistischen Klasse ermöglicht wird. Sobald sie es erfährt, wird sie alles Unrecht gutmachen. Und dass sie es erfährt, soll Sache der Kirche sein.«

Ernst lachte. Er lachte brutal, und mich trieb es, dem Bischof beizustehen.

»Vergessen Sie nicht«, sagte ich, »dass Sie nur die eine Seite der Sache sehen. Es ist viel Gutes in uns, wenn Sie es auch nicht sehen wollen. Bischof Morehouse hat recht. Das Unrecht der Industrie ist schrecklich, aber er sagt, es rührt nur von der Unwissenheit her. Der Schlund, der zwischen den verschiedenen Schichten der Gesellschaft klafft, ist zu breit geworden.«

»Der wilde Indianer ist nicht so roh und grausam wie die kapitalistische Klasse«, erwiderte er, und in diesem Augenblick hasste ich ihn.

»Sie kennen uns nicht«, antwortete ich. »Wir sind nicht roh und grausam.«

»Beweisen Sie das«, forderte er mich auf.

»Wie kann ich es Ihnen beweisen?« Ich wurde zornig.

Er schüttelte den Kopf.

»Ich verlange ja nicht, dass Sie es mir beweisen sollen. Beweisen Sie es sich selber.«

»Ich weiß Bescheid«, sagte ich.

»Sie wissen nichts«, erwiderte er grob.

»Aber Kinder«, sagte Vater besänftigend.

»Es ist mir ganz einerlei — «, begann ich unwillig, aber Ernst unterbrach mich.

»Ich glaube, Sie — oder Ihr Vater, was dasselbe ist — haben Geld in den Sierra-Spinnereien angelegt.«

4,99 €