Raunen dunkler Seelen

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3. Kapitel

Lorca

Behutsam legte ich meinen weichen Mantel um die schlafende Prinzessin. Lange hatte sie schweigend vor mir gesessen und die vorbeiziehende Landschaft in sich aufgesaugt. Ich konnte deutlich spüren, wie sie ihre mit Schuldgefühlen vollgefressenen Gedanken wach hielten. Doch die rasende Magie, die uns noch Stunden zuvor wortwörtlich den Arsch gerettet hatte, hatte Reena so viel Energie geraubt, dass sie schlussendlich den Kampf gegen ihre bleischweren Augenlider aufgeben musste und schläfrig gegen meine Brust gesunken war.

Nichts hatte sie seither aufwecken können. Weder das empörte Geschrei von Mira, als sie Ellion dabei erwischt hatte, dass er sich nicht umgedreht hatte, während sie ihr Geschäft erledigen wollte, noch der anhaltende Nieselregen, der durch den frostigen Wind zu einer Plage geworden war. Reena musste wirklich erschöpft bis in die Knochen gewesen sein und ich war mehr als froh, ihr die Sicherheit schenken zu können, sich richtig auszuruhen.

Tief hinter der schwarzen Kapuze versteckt, sah ich gerade noch genug, um die nahe Umgebung neben Tamo und Mira zu erkennen. Normalerweise wäre ich dadurch eine leichte Beute für jegliche Angreifer. Schließlich würde ich ihr Heranschleichen nur mehr im letzten Moment erkennen. Zu unser aller Glück befand sich genau aus diesem Grund auch Suna in unserer Mitte. Sie würde jede herannahende Person anhand ihrer fließenden Lebenskraft erspüren und uns schon weit im Vorhinein warnen können.

Definitiv ein angenehmer Pluspunkt jemanden so Mächtigen in den eigenen Reihen wissen zu dürfen. Für die gegnerische Seite immer wieder ein schwerer Schlag. Noch dazu wusste kaum jemand von den magischen Fähigkeiten dieser Schwestern Bescheid und wenn ich mich nicht täuschte, würde der verschollene Drillingsbruder auch noch so manch eine Überraschung in sich versteckt halten.

So gesehen, dürfte sich uns dann niemand in den Weg stellen können. Friede könnte wieder unter den Menschenvölkern herrschen. Nur leider gab es immer wieder zu machtgierige und bösartige Kreaturen, die sich ihre eigenen Schlupflöcher bohrten und die Welt ins Verderben stoßen wollten. Dramatisch. Zum Teufel nochmal. Seit wann war ich denn so theatralisch geworden? Das war doch sonst immer Corvins Part gewesen, als wir zusammengekuschelte Straßenratten um etwas Brot und Tee gebettelt hatten. Die reichlich ausgeschmückten Fantasien meines kleinen Bruders hatten uns des Öfteren eine etwas erträglichere Unterkunft beschert.

„Brrrr.“ Beinahe wäre ich in Onkel Tamo hineingeritten. Mit erhobener Hand und wachsamen Blick hatte er sein braunes Pferd angehalten. Mit einem sanften Druck gab ich meinem treuen Reittier zu verstehen, sich neben unseren Anführer zu platzieren. Auch meine Schwester und Ellion wagten sich nach vorne. Ein kurzer Blick in Sunas fragendes Gesicht bestätigte meine Annahme, dass kein Grund zur Sorge bestand. Zumindest nicht, was gegnerische Krieger betraf. Dieser kleine Stopp war auf Onkel Tamos Mist gewachsen und ich würde zu gerne wissen, welche Gründe es dafür gab.

„Irgendwelche auffälligen Energien in der Nähe?“ Die Frage war ganz eindeutig an Suna gerichtet. Niemand sonst hatte ein Radar für menschliche Energieströme in seinem schlauen Köpfchen. Die Einzige, die hierbei noch infrage käme, wäre unsere Lichte Prinzessin, die derzeit noch tief und fest in ihrem seelenruhigen Schönheitsschlaf schlummerte und wahrscheinlich sowieso keine Ahnung hatte, wie sie ihre Magie kontrollieren könnte. Was nicht weiter böse gemeint war. Es war bloß ein Fakt. Schließlich hatte auch Suna ihre Trainingszeit benötigt, um ihre übermenschliche Macht uneingeschränkt in Anspruch nehmen zu können.

Angestrengt kniff meine Schwester die wunderschönen Augen fest zusammen, um sich vollends auf das Erspüren der Energieströme zu konzentrieren. Es waren kaum ein paar Sekunden verstrichen, als sie sie wieder öffnete und Tamo ernst ansah.

„Niemand in unserer Nähe“, antwortete sie schließlich mit fester Stimme.

„Gut. Dann werden wir jetzt hinabsteigen. Wir haben uns lang genug auf feindlichem Boden befunden. Zeit, nach Hause zurückzukehren und unsere Leute zu warnen.“ Auf Tamos Zeichen hin, reihten wir uns wieder hintereinander ein und folgten unserem Fürsten zum wohl versteckten Eingang der Unterwelt. Mein Herz schlug in rasendem Tempo gegen meine Rippen und pumpte Unmengen an dickflüssigem Blut durch meine Venen. Es fühlte sich so unwirklich an. Mein Verstand wollte einfach nicht verstehen, dass wir es geschafft hatten. Wir hatten unsere zum Scheitern verurteilte Mission gemeistert. Leider mussten wir etliche Verluste dazuzählen, aber zumindest konnte ich behaupten, dass meine engere Familie überlebt hatte.

Unruhige Bewegungen krochen in Reenas schläfrigen Körper hinein. Wie von einer Tarantel gestochen, setzte sie sich kerzengerade auf, wobei sie dabei den wärmenden Mantel von sich schob und dem kalten Regen ausgesetzt wurde. Verwirrt, beinahe schon panisch, blickte sie sich um und rieb sich fröstelnd die bereits feuchten, anklebenden Ärmel. Ich wollte sie wieder näher zu mir ziehen, doch ich war mir nicht sicher, ob das angebracht war. Schließlich war ich immer noch auf irgendeine Art und Weise ein Fremder. Nur ein bekanntes Gesicht. Dieser Gedanke schürte mir die Kehle zu. Ich wollte mehr für sie sein als ein vertrauenswürdiger Geist aus dem vergangenen Sommer.

Nach kurzer Zeit hatte sie alle Anwesenden genug analysiert, um keine Gefahr zu schnuppern. Weitaus entspannter kuschelte sie sich wieder an meine Brust und zog meinen warmen Mantel über sich zurecht. Mitten in der Bewegung hielt sie dann inne. Fragend drehte sie sich zu mir um. Ihre schüchternen Augen suchten die meinen. Als dann auch ihre Wangen einen rötlichen Ton annahmen, musste ich über ihre unschuldigen Art lächeln.

„Keine Sorge, du hast vorhin schon an meiner Schulter gesabbert, mach es dir ruhig wieder gemütlich.“ Ich genoss es, wie ihr meine Worte noch mehr peinliche Röte ins Gesicht zauberten. Reena war einfach zu süß. Und dennoch kannte ich auch die rebellische, ehrliche Art an ihr, die ihr nicht erlaubte, ein Menschenleben ohne schlechtes Gewissen auszulöschen. Schließlich hatte sie sich auch um mich gekümmert, wie ich als der geflohene Feind vor ihrer Hauptstadt im Sterben lag. Ich hatte zwar keine Ahnung, ob Prinzessinnen in Katalynia eine vernünftige Kampfausbildung erhalten, was ich auf jeden Fall stark bezweifelte, trotzdem fand ich es mehr als mutig, einem fremden, verfolgten Krieger zu helfen.

„Bilde dir nur jetzt ja nichts ein. Nur weil ich dich unbewusst angesabbert habe, schulde ich dir noch lange nichts.“ Leicht eingeschnappt drehte sie ihr errötetes Gesicht, das nun mehr einer reifen Tomate glich, nach vorne. Sie wand sie aus dieser peinlichen Situation wie ein Huhn kurz vor dem Schlachten. Nur mit Mühe konnte ich mein belustigtes Lachen zurückhalten. Was mir nur leider auch nicht ganz zu gelingen schien. Schlussendlich endete ich in einer halb prustenden, halb erstickenden Hustenattacke. Wie sagt man so schön: ‚Die kleinen Sünden strafen die Götter zuerst.‘

„Schön, dass ich dich so wunderbar unterhalte.“ In Reenas Stimme schwang leichter Missmut mit. Mit ungutem Schuldgefühl in der Magengrube zwang ich mich, dem stechenden Hustenreiz nicht mehr nachzugeben. Schließlich wollte ich ihr Vertrauen erlangen. Zu gerne würde ich wieder dieses unglaubliche Glitzern in ihren meerblauen Augen sehen. Diese ungestüme Leidenschaft, ihre ungeteilte Liebe. Oder war ich einfach nur ein von den flatternden Schmetterlingen geblendeter Narr, der sich das alles damals eingebildet hatte.

Plötzlich überschlugen sich meine rasenden Gedanken. Eifersucht lähmte meinen kribbelnden Körper, Schweiß rann entlang meiner Wirbelsäule hinunter. Was wäre, wenn sie ihr Herz in der Zwischenzeit bereits jemand anderem geschenkt hatte? Jemand würdigerem. Vielleicht sogar Ragnar. Ihr schien sehr viel an ihm gelegen zu haben.

Es war mehr als falsch auf einen Toten eifersüchtig zu sein. Nur sah das mein wild hämmerndes Herz etwas anders. Grundsätzlich schien mir Ragnar auch ein sehr feiner Typ gewesen zu sein. Jemand, der Prinzessin Reenas Herz verdient gehabt hätte. Obwohl ich den morodekischen Boten kein bisschen gekannt hatte, schien er mir definitiv wie ein treuer Freund und liebevoller Partner. Jemand, der einem nicht von der Seite wich, und alles für die Gesundheit und das Glück des anderen tun würde.

Bilder von den Sekunden vor seinem grausamen Tod schossen mir durch die Gedanken. Trotz der unerträglichen Schmerzen hatten seine Augen weiterhin von seiner unsterblichen Liebe zu seinem wunderschönen, intelligenten und starken Schützling gezeugt. Sein großes Herz hatte bereits Reena gehört. Wie unvorstellbar schmerzhaft es für sie gewesen sein musste, den Mann, der sie stets beschützt hatte, der seit Wochen Seite an Seite alle gewaltsamen Erlebnisse mit ihr gemeinsam durchlebt hatte, sterben zu sehen.

Meine Stimmung war nun endgültig im Eimer. Fehlte nur noch ein abschätziger Kommentar von Ellion oder eine provozierende Herausforderung von Suna. Dann könnte ich mich genauso gut gleich schlafen legen und der katalynischen Prinzessin die ledernen Zügel überlassen. Dieser Tag konnte einfach nicht mehr schlechter werden.

„Wenn du noch länger so finster auf Reenas ungeschützten Rücken starrst, muss ich mir bald Sorgen machen, dass du meiner gerade erst geretteten Nichte etwas antun möchtest. Komm Junge, wir sind bald zu Hause. Unsere Probleme lösen sich nicht einfach so in Luft auf. Außerdem sollten wir versuchen, nicht noch mehr davon einzusammeln.“ Mit einer väterlichen Geste klopfte Tamo mir motivierend auf die Schulter und durchbrach somit auch den letzten Rest meiner eisigen Starre.

 

Noch etwas neben der Spur sah ich mich um. Ich musste wohl angehalten und auf keine verbalen Zusprüche mehr gehört haben. Alle beobachteten mich. Wobei mich die beiden Schwestern besorgt musterten, Mira mich mit ihrem unergründlichen Blick zu durchbohren schien und Ellion herablassender denn je meinen emotionalen Kampf verurteilte. Nur Onkel Tamo schien sich schon wieder vollends auf die Mission zu konzentrieren.

Ich gab mir innerlich einen Ruck und nahm wieder meine alte, kriegerische Haltung an. Emotionslose Maske, aufrechter Rücken, fester Griff um die abgewetzten Zügel, undurchdringlicher Blick. Mein zu zerbrechen drohendes Herz durfte unserer Gruppe nun nicht zum Verhängnis werden. Ich war ein Nyajamar. Ein morodekischer Krieger. Selbst wenn mir Reena offenbaren würde, dass sie meine Liebe nicht teilte, musste ich für ihre Sicherheit sorgen. Das stand außer Frage. Sie gehörte nun so oder so zur Familie.

„Nje mikae. Nje krüye.“ Meine brummige Stimme war kaum ein Flüstern und doch fühlte sich unser Motto wie ein laut, geschrienes Versprechen an die gesamte Lichte Welt und friedliche Unterwelt an.

Irritiert und gleichzeitig fasziniert sah mich Reena aus großen, runden Augen an. Ich konnte direkt die tausend Rädchen in ihrem schlauen Köpfchen rattern hören, derartig zermalmte sie ihre Erinnerungen nach der wahren Bedeutung dieser zwei kurzen Sätze. Irgendwann schien sie aufgegeben zu haben. Ohne ein Wort darüber zu verlieren, drehte sie mir wieder ihren Rücken zu und zog den schweren Mantel über uns zurecht.

Lange lauschte ich einfach dem beruhigenden Geräusch von dicken Wassertropfen auf getrockneten Blättern. Erstaunlich, wie etwas derartig Simples, so eine starke Auswirkung auf den momentanen Gefühlszustand haben kann. Nur noch langsam ritten wir durch das sich vor uns öffnende Schluchtenlabyrinth. Ein felsiger Irrgarten in der Neutralen Zone, den die meisten Menschen, die nur etwas Intelligenz aufwiesen, mieden. Und das nicht ohne Grund, schließlich schaffte es kaum jemand wieder lebend heraus.

Für morodekische Boten und die Nyajamar war dieser irreführende Landesabschnitt Teil der abschließenden Prüfung ihrer Ausbildung zum Krieger. Es wurde vorausgesetzt, sich in diesem steinigen Labyrinth gut genug auszukennen, um sich gleichzeitig hier hineinflüchten zu können und bewaffnete Gegner abzuhängen.

Bei dem gewaltigen Anblick der hohen Felswände begann Reena unruhig im Sattel hin und her zu rutschen. Ihr gefiel unsere folgende Aktion ganz und gar nicht. Was auch weitergehend nicht verwunderlich war, wenn man bedachte, was sich über diese Naturgewalt erzählt wurde. Diese Horrorgeschichten wurden schließlich unglaublich ausgeschmückt von den Wanderern weitererzählt. Selbst meine jüngeren Geschwister und ich hatten dem knochigen Wanderer an den aufgeplatzten Lippen gehängt, als dieser seine Reise in die Unterwelt verlagert hatte und sich eines Tages durch unsere gewohnten Gassen schleppte.

„Keine Sorge, als morodekischer Krieger kennt man das irreführende Labyrinth wie seine eigene Hosentasche. Sicheres Terrain“, sagte ich beinahe tonlos in Reenas Ohr.

„Einfacher gesagt als getan. Mir erscheint das Ganze immer noch wie eine ganz, ganz schlechte Idee.“ Ihr war die Nervosität deutlich anzuhören. Ich konnte nur hoffen, dass ihr meine Nähe etwas Geborgenheit schenken würde.

„Sag was!“, überrumpelte sie mich kurz darauf mit ihrer unverständlichen Aufforderung.

Verwirrt zog ich meine Augenbrauen zusammen und musterte das zierliche Mädchen vor mir. Es war weiterhin ein unlösbares Rätsel für sich. „Was soll ich sagen?“

Frustriert schnaufte sie laut aus. „Irgendetwas. Lenk mich ab. Aber mach, dass ich nicht in Panik ausbreche und dann vielleicht die Kontrolle verliere.“ Natürlich. Die Bilder der toten Gul spukten ihr weiterhin unaufhaltsam in ihrem Köpfchen herum. Ich wollte ihr helfen. Helfen, zu vergessen. Sie hatte es nicht verdient, mit einer derartigen Last beladen zu werden.

„Lass mich kurz überlegen.“ Angestrengt suchte ich nach einem unverfänglichen Thema, das keine noch so kleine Verbindung mit dem blutigen Ereignis von heute aufweisen würde. Das Motto, schoss es mir plötzlich durch den Kopf. „Nie vergessen. Nie versagen.“

Stille. Reena dachte ganz deutlich darüber nach, nur konnte sie keinen logischen Zusammenhang aufdecken. „Was?“ Es schien zu funktionieren. Komplett abgelenkt vom felsigen Irrgarten vergaß sie ihre Angst. Sogar ihre gesamte Körperhaltung schien sich zu lockern.

„Nje mikae. Nje krüye. Das ist Morodekisch und bedeutet so viel wie ‚Nie vergessen. Nie versagen.‘ Ein Versprechen, eine Lebenseinstellung. Das Motto der Nyajamar, der bestausgebildeten Krieger von Morodek. Sozusagen der Leibwächter und Spezialgarde der Fürsten.“ Ich konnte meinen Stolz nicht verbergen. Zwar würde ihr die ganze Bedeutung dieses Titels noch nicht bewusst sein, aber ihr allein schon die Wahrheit über meine kriegerische Identität verraten zu dürfen, war schon genug. Nun musste ich nicht mehr darauf achten, mein verstecktes Land geheim zu halten. Ich konnte ihr jede Kleinigkeit aus meiner Vergangenheit vom ausgehungerten Straßenkind bis zu den lebensgefährlichen Missionen in der Lichten Welt erzählen. Das Mädchen mit den wunderschönen meerblauen Augen, in denen ich mich ausgeschlossen verloren hatte, in deren Unendlichkeit meine eiternden Wunden gepflegt wurden, würde mich nun endlich kennenlernen können. Und vielleicht, ja, nur vielleicht, würde diese wunderschöne Prinzessin mit diesem übermenschlich großen Herzen dieselbe Liebe empfinden wie ich. In diesem Moment war mir mehr als klar, dass ich alles, wirklich alles, für dieses unglaubliche Mädchen tun würde, um sein Herz zu gewinnen.

„Onkel Tamo war früher ebenso ein Nyajamar, aber seit er die Rolle des Obersten Fürsten übernommen hat, darf man ihn eigentlich nicht mehr zu der Spezialeinheit dazuzählen. Nur dank ihm haben Suna, Corvin und ich nun dieses abenteuerliche Leben und eine liebevolle Familie. Mira und Ellion hingegen sind Boten. Schnelle Läufer, taktische Denker, unzählige Charaktere, und vor allem geborene Lügner. Sie sind unsere sicheren Informationsquellen und in allen Lichten Königreichen und in der Glasscherben Ebene vertreten. Manchmal werden Boten auch in die Neutrale Ebene wie auch in die Gipfelebene ausgesandt, um neue Grenzverschiebungen, Population und illegalen Handel ausfindig zu machen. Für uns in Morodek ist es sehr wichtig, über alle kleinen wie auch großen Geschehnisse Bescheid zu wissen. Dadurch können wir unsere versteckte Unterwelt bestmöglich vor euren Leuten verbergen und eine ungewollte Übernahme und Ausbeutung umgehen. Natürlich gibt es da dann auch noch …“

„Stopp! Stopp! Stopp! Stopp! Stopp! Stopp! Nochmal ganz langsam. Ihr spioniert uns allen nach und merkt nicht einmal, dass das unsere Privatsphäre verletzt. Ihr gebt staatliche Geheimnisse weiter, schleicht euch bei uns ein und manipuliert uns, damit wir euch vertrauen? Findest du nicht, dass das etwas unmenschlich ist?“ Den Schock in ihrer hohen Stimme konnte man nicht überhören. Ich war aber auch ein Idiot. Ohne zu überlegen, hatte ich ihr etwas über unser spionageartiges Staatssystem erörtert und dabei restlos vergessen, dass sie in einem dieser besagten Königreiche aufgewachsen war und das nicht nur als eine belanglose Einwohnerin, die gerade so über die Runden kam. Nein, ich hatte der katalynischen Prinzessin geradewegs ins Gesicht gespuckt, dass sie seit ihrer Geburt von unzähligen eingeschlichenen Augenpaaren auf Schritt und Tritt beobachtet worden war. Wenn mir das nun jemand so unter die Nase reiben würde, hätte mein Gegenüber bald nur mehr den Wunsch gehegt, mir niemals über den Weg gelaufen zu sein.

Schuldbewusst wich ich ihren entsetzten Blick aus. Mit dieser undurchdachten Offenbarung hatte ich wohl meine Chancen weit unter die Nullgrenze in den Minusbereich geschraubt. Innerlich klopfte ich mir für diese heldenhafte Tat auf die Schulter. Gedankliche Notiz: vorher denken, dann sprechen. Wie würde ich das nur wieder in Ordnung bringen können?

„Ragnar war auch ein Bote, oder?“ Ich konnte direkt fühlen, wie diese Erkenntnis in sie hineinsickerte. Es musste schrecklich sein, nun der Wahrheit so viel näher zu sein. Allem Anschein nach hatte es Ragnar nie für notwendig gehalten, seinem wertvollen Schützling mehr über seine wahre Identität zu verraten. Wobei, wenn man seine Gefühle für Reena bedachte, war klar, dass er den schwierigen Teil seiner Mission für sich behielt. Schließlich wirkte eine ungewollte Beschattung nicht unbedingt anziehend. Vielleicht war aber auch einfach nie der richtige Zeitpunkt gekommen, um über derartig ernste Themen zu reden.

„Ja, er hatte schon als sechsjähriger Junge eine Spezialausbildung erhalten, um dann in Onayas die beste Stellung zu erlangen, um dir und deinem Bruder so nahe zu sein, wie nur möglich. Er sollte für eure Sicherheit garantieren, obwohl kaum ein merkbarer Altersunterschied vorlag. Es war der Wunsch eurer Mutter, einen von Tamos Leuten in greifbarer Nähe zu wissen, um bei einer spontanen Flucht jemanden zu haben, der den Weg nach Morodek kannte.“ So gut es ging, hielt ich meinen stechenden Blick auf Miras Rücken gerichtet, die mit Onkel Tamo nur wenige Meter vor uns ritt. Doch selbst dadurch entgingen mir Reenas unglückliche Blicke nicht. Sekunden des Schweigens quälten mich. Keiner sagte mehr ein Wort. Die Spannung zwischen uns war kaum auszuhalten und doch wagte ich es nicht, die unangenehme Stille zu durchbrechen. Sekunden wurden zu Minuten. Innerlich tobte ein Sturm in mir. Riss an etliche Mauern und brachte sie gewaltsam zum Einbrechen. Überwältigende Gefühle rasten durch meinen elektrisch geladenen Körper. Lange würde ich es nicht mehr aushalten. Ich brauchte die Gewissheit, dass ich diese frische Verbindung zu ihr nicht komplett zerrissen hatte.

„Er war so viel mehr als nur ein Bote. Ragnar war ein Freund. Sein Auftrag bleibt nebensächlich“, flüsterte die katalynische Prinzessin mit überzeugter Gewissheit, dass sich die schwerer werdende Last in Luft aufzulösen schien. „Auch wenn ich den Gedanken, ein Leben lang ausspioniert worden zu sein, hasse, wird das nichts zwischen uns ändern. Das Hier und Jetzt zählt. Was geschehen ist, liegt in der Vergangenheit. Ich hoffe nur, das sehen hier auch alle so, denn wenn ich zur Familie zähle, will ich auch so behandelt werden.“ Unsicherheit. Sie fürchtete sich vor meiner Antwort und wahrscheinlich traute sie mir auch nicht mehr einhundertprozentig über den Weg. Das starke Vertrauen zwischen uns beiden war nun etwas angeknackst, doch ich würde alles geben, um Reena zu zeigen, dass alles Misstrauen umsonst war.

„Das versteht sich von selbst. Kein Auspionieren mehr, keine Geheimnisse. Versprochen.“ Ich legte so viel Ausdruck in meine Stimme, wie mir zu diesem Zeitpunkt gerade möglich war. Für mich würde es kein Problem darstellen, dieses großherzige Mädchen in alles Wichtige einzuweihen, und ich schätze, dasselbe galt für Suna. Bei Onkel Tamo war ich mir sicher, dass er seine Nichte ebenbürtig behandeln würde. Nur bei Corvin wusste ich nicht so recht, wie er mit unserem neuen Familienmitglied umgehen würde. Ich kannte meinen jüngeren Bruder gut genug, um zu wissen, dass es einige Zeit dauern würde, bis er Reena offenherzig entgegenkommen würde.

Misstrauen. Etwas, das in jedes Menschen Herzen schlummert. Manchmal eine finstere Macht, die das komplette Kommando über jede einzelne Entscheidung übernimmt. Ein tiefsitzender Instinkt, der schon so manche Menschen in den Wahnsinn getrieben hat, sogar ganze Völker dem Untergang geweiht hatte. So schwarz, so dunkel. Hat es einmal seine dreckigen Klauen in ein Herz gekrallt, ist ein Entkommen beinahe schon unmöglich.

Mir schien es, als hätten wir, meine Familie und alle meine Freunde, diese Balance zwischen gesundem Misstrauen und endgültigem Vertrauensverlust gut im Griff. Hingegen schien mir der wahnsinnige König aus Aronien nicht mehr alle Tassen im Schrank zu haben. Wenn man meinem unguten Bauchgefühl Glauben schenken wollte, würde es definitiv darauf hinauslaufen, König Kan als Irren zu bezeichnen und als einen der neuen Gezeichneten der Dämonen. Sein unzerstörbarer Hass konnte einfach keinen natürlichen Ursprung besitzen.

Meine rasenden Gedanken sprangen von Thema zu Thema, fanden Verbindungen, wo ich beim besten Willen vorhin noch keine gesehen hatte. Diese ganze Erkenntnis, oder besser gesagt, meine unausgereifte Idee über die tiefsitzenden Wurzeln von König Kans Hinverbranntheit, würde ich dann, sobald wir sicher in Hevin angekommen wären und uns mit den restlichen Fürsten Morodeks ausgetauscht hätten, kund tun. Bestimmt würde der eine oder andere meine Meinung teilen.

 

„Lorca?“ Reenas fragende Stimme riss mich aus meinen gedanklichen Diskussionen mit mir selbst.

„Mmh?“

„Ist Corvin dein richtiger Bruder? Also nicht, dass Suna keine richtige Schwester für dich ist, oder sowas, ich meine nur, seid ihr blutsverwandt? Oder seid ihr euch auf der Straße begegnet?“ Schüchtern sah sie zu mir zurück, als könnte diese halb gestotterte Frage einen wunden Punkt treffen. Natürlich wäre diese fälschliche Annahme verständlich, da ich im Sommer bei unserer ersten Begegnung kein Wort über meinen Bruder verloren hatte. Wenn ich ehrlich war, hatte ich mich grundsätzlich ziemlich zurückgehalten, was persönliche Informationen anging. Schließlich dachte ich zu dieser Zeit, ich würde diesem hilfsbereiten Mädchen nie wieder begegnen.

„Corvin und ich sind richtige Brüder, wenn du es so betiteln willst. Unser Vater war kurz nach seiner Geburt an einer seltenen Krankheit verstorben. Auch wenn ich ziemlich klein war, kann ich mich noch mehr als deutlich an Mutters Kummer erinnern. Er hatte sie innerlich aufgefressen. Eines Tages kam sie dann nicht mehr von der Arbeit nach Hause. Ich habe bis heute keinen blassen Schimmer, was mit ihr geschehen war. Ob sie sich das Leben genommen oder uns einfach verlassen hatte. Beides wäre möglich. Danach lebten wir auf der Straße, bettelten, stahlen. Wir waren kaum von den dreckigen Ratten zu unterscheiden. Jede Nacht sah ich zitternd zu, wie uns die ekeligen Viecher in den dunkeln Bereichen unseres Landes nur mit viel Glück nicht entdeckt hatten. Jede Nacht aufs Neue betete ich für unser Leben.

Irgendwann waren wir dann deiner Schwester begegnet. Sie war raffiniert, flink und besaß ein außergewöhnliches Talent für Theater. Gemeinsam mit ihr waren unsere Überlebenschancen drastisch gestiegen. Unsere vielseitigen Spitznamen waren in etlichen Kleinstädten bekannt. Doch das half uns auch nicht weiter. Sobald die Sonne die hintersten Ecken der Unterwelt nicht mehr mit Licht speiste, krochen diese albtraumartigen, dämonischen Kreaturen wieder aus ihren stinkenden Löchern und machten Jagd auf alles, das atmen konnte.

Als hätte eine höhere Macht Mitleid mit uns staubigen, ausgehungerten Menschenkindern gehabt, tauchte eines Tages Fürst Tamo mit seinem treuen Gefolge in einem der heruntergekommenen Dörfer auf. Natürlich hatten weder Corvin, Suna noch ich eine Ahnung was dieser edle Herr in unserem Gebiet trieb und so naiv wie wir eben waren, heckten wir einen gewaltigen Plan aus, der uns so einige Goldmünzen einbringen sollte. Doch unsere Mission ging gewaltig schief.

Festgenommen, wurden wir vor Onkel Tamo gezerrt und man sollte denken, nun wäre der Punkt gekommen, an dem man sich vor Reue auf die Knie schmeißt und um Verzeihung fleht. Aber nein! Wir drei Rotzbengel hoben bloß trotzig unser Kinn und starrten in unterschiedlichste Richtungen, nur nicht in seine. Als wären wir etwas Besseres. Als wäre einer der angesehensten Männer Morodeks unser nicht wert.

Doch anstatt uns böse zu sein, fragte Tamo nur mitfühlend nach unseren Namen und gab uns etwas zu essen. Später nahm er uns alle mit in die Hauptstadt und erteilte uns strengen Unterricht in Lesen, Schreiben und Benimmregeln. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie viele Nerven es unsere Lehrer gekostet haben musste. Eines kann ich Jahre danach auf jeden Fall behaupten: Wir waren alle drei freche kleine Nervensägen, doch vor allem Suna schien sich keine Grenzen vorschreiben zu lassen. Ihr schien es auch am schwersten zu fallen, ihr gewohntes Verhalten abzulegen und sich an die neuartige Lebenssituation anzupassen.“

Reenas Mundwinkel zogen sich langsam zu einem kleinen Lächeln hoch. Ihr schien diese rebellische Art ihrer Schwester sehr gut zu gefallen. Diese weit zurückliegende Vergangenheit aus dem Leben ihrer versteckten Familie. Es musste sich komisch anfühlen, beinahe nichts übereinander zu wissen, obwohl man ja doch neun verdammte Monate zusammen im schützenden Bauch der Mutter verbracht hatte.

Zumindest schien ich richtig gut darin zu sein, sie von ihren lähmenden Ängsten abzulenken. Auch ein Talent, das nicht jeder besaß und wer weiß schon, wofür das noch gut sein könnte. In dem kommenden Krieg werden wir auf jeden Fall von allen möglichen Fertigkeiten Gebrauch machen müssen, um unser friedliches Land beschützen zu können. Allein der Gedanke darin schien schon so surreal. Noch nie zuvor war es jemanden gelungen, ohne unserer Zustimmung nach Morodek zu gelangen, geschweige denn, auch nur über die geheim gehaltene Existenz zu erfahren. Eingeweiht wurden nur die wenigsten Lichten Bewohner. Darunter König Triton von Katalynia.

„Ich hatte nie gedacht, dass du so gesprächig sein kannst. Nicht falsch verstehen. Ich finde das super. Ehrlich gesagt höre ich dir gerne zu. Es ist schön, mehr von dir und Suna zu erfahren. Ich hätte euch gerne schon viel früher kennengelernt. Jetzt wo ein gewaltiger Krieg vor der Tür steht, fühlt es sich an, als würde uns die Zeit davonlaufen. Wenn du verstehst, was ich meine.“ Nur zu gut. Die Zeit schien uns wirklich wie Sand zwischen den Fingern hindurchzurinnen. Nicht mal Suna schien die Macht zu besitzen, diesen natürlichen Prozess des Alterns aufhalten zu können. Einfach mal die Zeit stoppen. Anhalten. Einfrieren.

Tamo hielt an und ließ Mira vom Pferderücken heruntergleiten. Geschickt tastete sie die rauen Felswände um uns nach dem geheimen Eingang ab. Die katalynische Prinzessin beobachtete sie dabei interessiert. Innerlich machte sie sich bestimmt einige Notizen darüber. Nicht viel später hörte ich das vertraute Klicken und die graue Felswand schob sich ein Stückchen auf. Genau weit genug, um ein ausgewachsenes Pferd hindurchzuquetschen. Nacheinander passierten wir den versteckten Eingang und ließen uns von der knisternden Finsternis verschlucken. Abwartend standen wir nun wie aufgereihte Hühner hintereinander und sahen der sich selbstschließenden Tür geduldig zu, bis sie auch den letzten Tagesschein vollständig ausgesperrt hatte.

So nahe an Reena, spürte ich, wie ihr schmächtiger Körper unkontrollierbar zu zittern begann. Ob aus Angst oder der erfrischenden Kälte wegen, konnte ich nicht sagen. Aus Reflex drängte ich mich näher an sie heran. Körperwärme war das einzige, was ich gerade zu bieten hatte. Alle Kleidung war feucht und kalt vom leichten Nieselregen der letzten Stunden. Zu meiner Überraschung lehnte sie sich dankbar gegen mich. Mein Herz begann wieder einmal wie wild zu pochen. Würde ich hier und jetzt einen Herzinfarkt erleiden, würde es mich kein bisschen wundern.

Langsam gewöhnten sich meine Augen an die erstickende Finsternis und ließen nach und nach schattenhafte Formen erscheinen. Wir hatten es geschafft. Mit etwas gemächlicherem Tempo setzten wir unsere anstrengende Reise durch die versteckten Tunnel nach Morodek fort. Bald. Bald wären wir zu Hause.

***

„Bringt ihn um!“

Die schmerzerfüllten Schreie meiner Tochter zerbrachen mir das Herz.

Ich sah einfach keinen anderen Weg.

Es verstieß gegen unsere Gesetze.

Und Gesetze waren wichtig.

Sie brachten uns Sicherheit und ein angenehmes Leben.

„Vater, bitte, willst du deine zweite Tochter auch noch verlieren?“

Abrupt drehte ich mich zu meinem einzigen Sohn um.

Er hatte sich vor mir aufgebaut und sah mir flehend in die Augen.

„Er liebt sie. Siehst du das denn nicht? Er wird uns nicht verraten.“