Raunen dunkler Seelen

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1. Kapitel

Malik

Platsch.

Genervt fuhr ich mir mit der kalten Hand übers Gesicht. Musste das sein? Ich wollte doch nur schlafen und nicht mit der unerträglichen Realität konfrontiert werden, in der ich wie ein hilfloses, dummes Hündchen an der viel zu kurzen Leine geführt wurde.

Platsch.

Energischer als zuvor zuckte mein steifer Körper von der kühlen Berührung des Wassertropfens. Musste genau über der Stelle, wo ich mich schlafen gelegt hatte, Wasser von der Decke tropfen? Mit geschlossenen Augen drehte ich meinen unbeweglichen Körper in eine angenehmere Position. Doch nichts half. Weiterhin tropfte es gemächlich auf mich herab, der harte Boden war feucht und uneben und die frostige Kälte zog sich trügerisch ihren Weg durch meinen Körper.

Irgendetwas war hier vollkommen falsch. Eigentlich sollte ich mich in einem luxuriösen Zimmer, welches inoffiziell als meine gemütliche Gefängniszelle galt, befinden. Auch Aaron und Halvar sollten sich mit mir dort aufhalten.

Hatten sie uns über Nacht in echte Kerkerzellen umquartiert? Hatten sich Kiral Theron und Jeb neue Maßnahmen für ihre Gefangenen überlegt? Nein. Das hätte ich mitbekommen. Plötzlich schossen mir die Erinnerungen an die wenigen Stunden vor meinem Wegnicken wieder ein.

Ein fremder Soldat, welcher sich als Corvin vorgestellt hatte, war mit seinen bewaffneten Leuten gekommen, um mich und meine Freunde zu befreien. Wir waren in das unterirdische Abwassersystem geklettert. Von hier aus sollten wir unbemerkt aus der Hauptstadt der Glasscherben Ebene gelangen.

Endlich machten sowohl Gestank als auch Wassertropfen einen Sinn. Seufzend rieb ich mir über die müden Augen. Wirklich erholsam konnte ich diese Nacht nicht bezeichnen. Nach und nach gewöhnten sich meine brennenden Augen an die schwarze Finsternis. Ich erkannte meine beiden Freunde, wie sie halb aufeinander lagen und schliefen. Beide schnarchten leise im Chor. Ihr verkrüppelter Anblick ließ mich schmunzeln. Zumindest waren mir diese beiden Spezialisten geblieben.

Forschend ließ ich meinen Blick weiterschweifen. Keiner von Corvins Soldaten schlief. Sie alle starrten nur finster vor sich her. Nur Corvin selbst schien sich auf seine Aufgabe, welche das auch immer war, zu konzentrieren. Mit zurückgezogenen Schultern stand er an der kalten Mauer und sah fokussiert auf ein zerknülltes Blatt Papier. Wahrscheinlich handelte es sich um eine Art Stadtplan. Immer wieder drehte er den Plan in verschiedene Richtungen. Als würden sich dadurch seine Probleme erklären lassen.

Als hätte Corvin meinen aufmerksamen Blick gespürt, sah er mich aus funkelnden Augen an. Ich fühlte mich wie ein offenes Buch. Der fremde Soldat schien kaum älter als ich zu sein und doch strahlte er ein übermächtiges Wissen und Erfahrung aus. Jemanden wie ihn wollte man nicht zu seinen Feinden zählen.

Gedankenverloren wandte ich mich wieder der stinkenden Finsternis zu. Lange würden wir wohl nicht mehr hier unten im Dreck warten. Hoffte ich zumindest. Ich wollte nur mehr aus dieser verdammten Stadt heraus. Weit weg von diesem jungen Herrscher und diesem verdammten Lügner Jeb. Allein ein winziger Gedanke an ihn brachte die aufgestaute Enttäuschung in mir zum Brennen.

Wie konnte ich mich nur so derartig in einem Menschen irren? War ich derartig blind vor Liebe gewesen? Nur würden mir die ganzen Selbstzweifel nun auch nicht weiterhelfen. Ich musste mich auf meine Aufgaben konzentrieren. Zuerst herausfinden, wo sich Reena derzeit aufhielt und sie dann aus den tödlichen Fängen der Piraten holen. Dann würde ich ihr so schonend wie möglich den Tod ihrer besten Freundin beibringen müssen, wie auch den jahrelangen Verrat von Jeb. Wenn das erledigt wäre, müssten wir irgendwie unsere verschollene Mutter befreien und dann, zu guter Letzt, wäre da noch dieser aufkommende Krieg, für den sich alle mir bekannten Königreiche aufrüsteten.

Räuspernd setzte sich Corvin neben mich auf den nassen Steinboden. Trotz seiner eisigen Distanziertheit strahlte der Krieger eine beruhigende Gelassenheit aus, die sich sanft um mein inneres nervöses Chaos legte. Verwundert musterte ich sein in die schwarze Dunkelheit gerichtetes Gesicht.

„Glaubt mir, ich verstehe eure Sorgen“, raunte er. Wollte er gerade wirklich den Einfühlsamen spielen? Ich brauchte sein Mitleid nicht.

„Ach ja?“ Meine zischende Stimme war unbeabsichtigt aggressiv. Doch Corvin überging meine gefühlbetonte Frage mit einem einfachen Achselzucken.

„Meine gesamte Familie, jede einzelne Person, die mir am Herzen liegt, befindet sich gerade auf der gefährlichen Mission, deine zauberhafte Schwester zu retten. Also wag es ja nicht, mir zu unterstellen, ich wüsste nicht was es heißt, nichts tun zu können.“ Seine Geduld mit mir war im Wanken. Ich konnte es so deutlich spüren, wie das unangenehme Kribbeln um mein pochendes Herz.

„Das wusste ich nicht“, gestand ich etwas beschämt. Ich hatte keine Ahnung, was er sich von mir erwartete. Informationen? Hilfe?

„Woher denn auch? Ihr seid nur ein Prinz aus einem der lichten Königreiche, der sich seit Wochen auf der Flucht vor seinem eigenen Land befindet, weil er einen der gefährlichsten Männer unserer Zeit befreit hat. Ihr wisst einen Dreck, was außerhalb eures geliebten Königreiches passiert“, fuhr er mich an.

Als hätte sich mit einem falschen Wort die ganze Lage verändert. Wütend und frustriert sah ich ihn nun direkt an. „Nun, wenn ich so unwissend bin, wie du mich gerade darstellst, dann klär mich doch auf, allwissender Retter meiner Wenigkeit.“ Das mir nun schon so vertraute Knistern kehrte zurück in meine Adern. Es gab mir Kraft, verlieh mir äußerste Konzentration auf alles in meinem nahen Umfeld. Doch nun wusste ich es auch schon zu kontrollieren. Die Magie wartete auf meinen Befehl. Dieses Mal würde ich Corvin nicht grillen. Vorher würde er mir noch einiges erklären müssen.

„Kurz nachdem ich auf meine Mission in die Glasscherben Ebene beordert wurde, kam die Nachricht in unsere Kommandozentrale, dass Prinzessin Reena von den Piraten geschnappt wurde. Doch erst als herauskam, wo sie hingebracht wurde und ein Befreiungsplan ausgetüftelt war, wurde mir einer unserer schnellsten Boten hinterhergeschickt. Er sollte mich nicht nur über die schrecklichen Neuigkeiten informieren und mich noch vor Grenzschließung nach Morodek zurückholen, sondern auch benachrichtigen, wenn etwas schiefginge und mein Onkel oder meine Geschwister nicht mehr zurückkämen, und ich somit übergangsweise zum obersten Fürsten der Unterwelt erhoben werden würde. Euch zu befreien war ein spontanes Vorhaben, das uns die schon äußerst schwierige Ausreise noch um einiges verschlimmert hatte. Also tut mir den Gefallen, und seid etwas weniger der unausstehliche, arrogante Prinz, den Ihr mir gerade so gut vorspielt.“

Es schwang kein bisschen Bedauern in seiner Stimme mit und doch fühlte ich mich ein kleines bisschen schuldig. Corvin hatte mich trotz hohem Risiko befreit. Obwohl er mich und meine Freunde weder kannte noch eine großartige Bezahlung erwarten konnte. Und doch verstand ich kein bisschen, warum er mir nun seine gesamte Lebensgeschichte erzählte.

„Warum erzählst du mir das alles?“

Schnaubend drehte er sich mir wieder zu und grinste mich an. „Um das zu verstehen, müsste ich dir einiges mehr erzählen, wofür wir derzeit definitiv keine Zeit haben. Aber eines kann ich dir sagen, wenn mein Onkel, oberster Fürst von Morodek, persönlich an der Rettung deiner Zwillingsschwester interessiert ist, muss es einen sehr guten Grund haben. Da kann es nicht schaden, auch ihren königlichen Bruder zu retten. Hoffentlich liege ich mit meiner Einschätzung nicht allzu falsch und in dir steckt mehr als ich derzeit in dir sehe.“

Autsch. Das hatte gesessen. Der Typ sprach nicht nur in Rätseln, sondern war selbst eines. Na wunderbar. Doch ich kam nicht dazu, mich darüber zu ärgern. Schwungvoll hob er sich vom kalten Boden ab und richtete sich an unsere kleine Versammlung.

„Wir brechen auf. Packt euer Zeug zusammen und bewaffnet euch. Ich bin mir sicher, wir werden noch auf die eine oder andere Überraschung treffen. Kiral Theron liebt Spielchen, also lasst uns unsere ersten Züge setzen.“

Zustimmendes Gemurmel erklang von allen Seiten. Nur Halvar, Aaron und ich sahen uns verwirrt an. Was sollte das nun schon wieder heißen? ‚Den ersten Zug setzen‘? Ich fühlte mich ja wie beim Schachspielen mit Ragnar. Vielleicht war das einfach eine Sache, auf die diese fremden Soldaten standen. Mit steifen Schritten gesellte ich mich zu meinen beiden Freunden. Ihre neugierigen Blicke schienen Löcher durch meinen menschlichen Körper zu fressen. Sie hatten mein Gespräch mit dem Anführer unseres überraschenden Rettungstrupps gesehen. Nun zappelten beide vor mir herum und platzten beinahe vor Neugierde. Nun, dies würde warten müssen. Für Erklärungen war gerade einfach keine Zeit.

***

Seit Stunden, zumindest fühlte es sich für mich nach einer halben Ewigkeit an, wanderten wir schweigend durch die matschige Brühe hintereinander her. Ich sah kaum meine eigene Hand, deren steifen Finger sich krampfhaft um das abgenutzte Heft meines Dolches krallten. Zurzeit hatte ich ihn mit der Spitze nach unten gerichtet, um meinen von der Dunkelheit verschluckten Vordermann nicht aus Versehen zu erstechen, doch wäre ich trotzdem für einen feindlichen Angriff mehr als bereit.

Corvins Worte über das Spielchen spielen hallten gruselig durch meinen Kopf. Ich fühlte mich mehr wie in einer der alten Horrorgeschichten, die Reena und ich immer gemeinsam von reisenden Händlern erzählt bekommen hatten. Damals war es mir nie in den Sinn gekommen, dass Erwachsene derartig ticken würden, wenn es um die endgültige Ausschaltung der verfeindeten Kräfte ging.

 

„Macht euch bereit!“, hallte die befehlshabende Stimme des morodekischen Kriegers von den feuchten Wänden ab. Es würden zwar sicher noch ein paar Abbiegungen auf uns warten, bevor wir aus diesem stinkenden Loch kriechen würden, aber dann wäre das Risiko zu hoch und unser Überraschungsmoment, wenn alles schiefginge, ungenutzt verstrichen..

Wie jagende Panther stapften wir, darauf bedacht, so wenige Geräusche wie möglich zu machen, weiter durch die Dunkelheit. Was ein Ding des Unmöglichen zu sein schien, da jeder Schritt von einem ekelhaften Schmatzer begleitet wurde. Nur mit großer Mühe konnte ich mich davon abhalten, über den genaueren Inhalt dieser stinkenden Brühe nachzudenken. Ich zählte jede noch so kleine Biegung mit. Wenn es nötig wäre, würde ich Halvar und Aaron hier irgendwie wieder rausbringen. Auch wenn die fremden Soldaten bis jetzt keinen Grund für Zweifel an ihrer guten Tat geboten hatten, wollte ich Corvin und seinen Männern nicht bedingungslos vertrauen.

Sieben Mal. Sieben Biegungen. Davon drei nach links und vier nach rechts. Ich wiederholte diese Zahlen wie ein altes Mantra. Zu sehr auf meine konzentrierten Gedanken fokussiert, prallte ich ungebremst in einen morodekischen Soldaten vor mir hinein. Statt mich darauf gereizt anzumaulen, beließ er es auf ein drohendes Knurren. Ich biss mir auf die Zunge, um keine Entschuldigung von mir zu geben. Erstens schickte es sich nicht für einen Prinzen, sich für seine Taten zu entschuldigen. Zweitens würde jedes gesagte Wort eine Chance zum Fliehen vernichten können.

Wir waren endlich angekommen. Es dauerte keine fünf Wimpernschläge, als auch schon ein kleiner Spalt an der tropfenden Decke geöffnet wurde und uns etwas frische Nachtluft und schimmerndes Mondlicht geschenkt wurden. Mein Herz macht dabei wilde Freudensprünge. Unsere Freiheit war zum Greifen nahen und doch würde uns noch ein langer, komplizierter Weg bevorstehen. Zumindest konnten wir endlich diese bestialisch stinkenden Tunnelsysteme hinter uns lassen.

Nacheinander erklommen wir die eiserne Leiter und hoben uns aus der unangenehm riechenden Kanalisation heraus. Ausgespuckt wurden wir dabei in einer abgelegenen, einsamen Gasse in einem der äußeren Stadtviertel. Selbst hier, weit entfernt vom modernen Machtzentrum, konnte man den ungeheuren Reichtum der Glasscherben Ebene spüren. Die rötlich braunen Hausmauern waren säuberlich aneinandergereiht und von etlichen Balkonen drang der Duft blühender Rosen zu uns herab. Aus keinem einzigen Fenster schien Licht auf die leeren Gassen.

Es war also mitten in der Nacht. Zwar neigte es bereits zu den frühen Morgenstunden, dennoch war es noch weit zu früh, um aus den warmen Bettlaken zu kriechen und sich auf den Weg zur Arbeit zu machen.

„Kein Schnee? Wie ist das möglich? Hier sollte doch schon mindestens Ende Herbst sein?“ Aarons verwunderte Stimme legte sich wie ein tiefer Schatten über diese Erkenntnis. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Wir befanden uns hinter der eisigen Gipfelebene und selbst im sonnigen Katalynia könnten wir mittlerweile schon die letzten schneefreien Tage zählen. Dieses geheimnisvolle Land war mehr als nur merkwürdig und tief in mir drinnen machte sich das ungute Gefühl breit, dass uns Kiral Theron noch etliche Schwierigkeiten verschaffen würde.

Geduckt schlichen wir nun über gepflasterte Wege weiter hinaus aus der schlafenden Stadt. Es schien mir nun zur unbewussten Gewohnheit zu werden, ungesehen verschwinden zu wollen. Nur lagen wir, oder zumindest meine beiden Freunde und ich, im klaren Nachteil, da wir nicht wirklich eine Ahnung von dem irrgartenähnlichen Aufbau von Calor hatten.

„Sscht!“

Wie auf ein Kommando verharrten wir alle in unserer an die raue Mauer gepressten Haltung. Gespannt hielt ich meinen Atem an und lauschte in die ruhige Nachtluft. Nichts. Falschalarm? Gut möglich, da wir unter extremer Spannung standen, würde selbst das Fiepen eines grauen Mäuschens für Aufregung sorgen. Ich nutzte den vorübergehenden Halt, um mit meinen zusammengekniffenen Augen die umliegenden Häuserdächer abzusuchen. Wieder nichts.

„Weiter!“, drang Corvins Stimme an mein Ohr. Doch ich nahm unsere wieder in Bewegung gekommene Gruppe nur im Hintergrund wahr. Rehbraune Augen starrten mich unentwegt aus einem der gegenüberliegenden Fenster an. Ich hatte noch nie so viel Bedauern, Wut und Hoffnungslosigkeit auf einmal gesehen. Trotz Jebs Verrat an mir und meiner Familie, regten sich erwartungsvolle Gefühle in meiner kribbelnden Magengrube.

Plötzlich veränderte sich Jebs emotionaler Blick in eine gefühlskalte Maske. Neben ihn gesellte sich ein dunkel gekleideter Soldat und richtete ein metallenes Rohr in unsere Richtung. Solch eine Waffe hatte ich noch nie in meinem Leben gesehen. Ja, die tödlichen Schusswaffen im Süden waren mir bestens bekannt. Doch ein derartiges massives Gerät verhieß nur noch mehr Zerstörung.

„Runter!“ Ich hörte meine panische Stimme wie in einem furchtbaren Traum. Verwirrte Blicke musterten mich empört. Ich war schließlich nicht ihr Anführer. Wieso sollte ich meine Stimme in diesem befehlshabenden Ton an sie richten?

Plötzlich ging alles ganz schnell. Ein explosiver Ton fraß sich in meine Ohren und hinterließ ein taubes Gefühl. Panik brach aus. Wildes Geschrei. Weitere Schüsse fielen, doch ich konnte mich einfach nicht vom Platz bewegen. Ich fühlte mich wie versteinert. Eingefroren durch den kühlen Blick des Mannes, der trotz seines miesen Verrates weiterhin Gefühle in mir auslöste, die mir den letzten Rest meines Verstandes und Überlebenswillens zu rauben schienen. Eine menschliche Salzsäule.

Wie in Zeitlupe flogen die metallischen Geschosse an mir vorbei und durchbohrten jedes erdenkliche Material, das ihnen in den Weg kam. Je länger ich meine vor Enttäuschung triefenden Augen auf den ehemaligen Stallburschen richtete, desto mehr schien er eine undurchdringbare Mauer um sich selbst zu bauen. Es könnte auch alles nur reine Einbildung sein. Sehr wahrscheinlich wollte ich mir einfach nur einreden, Jeb hätte etwas

Ähnliches für mich empfunden, wie ich für ihn. Ich war so naiv.

Klebrige Finger schlossen sich um mein offenliegendes Handgelenk und navigierten mich durch den undefinierbaren Hagel aus tödlichen Patronen. Es glich schon einem Wunder, dass mein menschlicher Körper nicht wie eine hölzerne Zielscheibe durchlöchert wurde. Erst als ich durch den verkrampften Griff des Mannes zu Boden gerissen wurde, wurde mein Geist ebenfalls wieder in die grausame Realität zurückkatapultiert. Mein Blick wurde von Jeb weggerissen und die Sicht deutlich und klar.

Fluchend rollte sich Corvin über das schmutzige Pflaster. Eine der metallischen Kugeln hatte seinen Oberschenkel gestreift und eine blutende Wunde hinterlassen. Eilig rappelte ich mich auf und schob mich hilfestellend unter seinen vor Schmerzen bebenden Körper. Dankend nickte er mir zu, während nun ich an der Reihe war, den schnellsten Weg außer Reichweite der unbekannten Geschosse zu finden.

Immer wieder wurden wir nur knapp verfehlt. Mauerteile rieselten auf unsere ungeschützten Körper herab, als würde es Asche schneien. Trotz des typischen Anführerblickes, sah ich dem morodekischen Krieger seinen Verlust an. Gemeinsam sprangen wir über die leblos zusammengesackten Körper seiner Männer. Ihr frisches Blut klebte unter unseren ledernen Fußsohlen. Für sie war es bereits zu spät. Das beständige Knistern, das ich in jeder lebenden Person spürte, hatte sie bereits verlassen. Diese Erkenntnis wog schwer. Ich konnte mir nicht erklären, warum ich das so genau wusste. Ein gut versteckter Teil in mir brachte mich lediglich dazu, es zu glauben und zu akzeptieren.

Endlich schossen Corvin und ich gemeinsam um die nächste rostbraune Häusermauer in eine unmenschlich enge Gasse und rannte einfach, ohne zu wissen wohin, weiter. An ihrem Ende stießen wir dann auf Aaron, Halvar, Eleonora und Yann. Die Einzigen, die Jebs versteckten Angriff überlebt hatten. Zu viele mussten wegen dieser verdammten Rettungsaktion ihr Leben lassen und ich kannte diese Leute nicht einmal. Sie waren mir nie etwas schuldig gewesen und doch starben sie nun, weil ich leben sollte. Frust breitete sich in mir aus. Ich würde keinen einzigen der Überlebenden noch blutend zurücklassen. Egal, was es kosten würde.

„Wir müssen hier raus. Jetzt wäre der perfekte Zeitpunkt, um in euer verstecktes Land zu kommen“, richtete ich schnaufend meine Stimme an die drei morodekischen Soldaten.

„Folgt mir.“ Schon flitzte Eleonora in unglaublicher Geschwindigkeit die schützenden Häusermauern entlang. Mühsam versuchte ich, mit Corvin an mich gestützt, der jungen Kriegerin nachzulaufen. Die oberflächliche Schusswunde machte ihm mehr zu schaffen, als man erwarten würde. Wenn mich nicht alles täuschte, war die tödliche Kugel vorher in Gift getunkt worden. Heiße Schweißperlen kullerten mir die Stirn und den Rücken hinunter. Unser kleines Rennen um Leben und Tod stellte sich als kräfteraubender heraus, als ich in dem stinkenden Abwasserkanal angenommen hatte.

Hinter mir vernahm ich getrost das angestrengte Schnaufen meiner beiden Freunde. Wären sie unter Jebs Befehl gefallen, hätte ich mich noch in dieser Nacht auf einen todessicheren Vergeltungstrip begeben.

Vor uns endete die gepflasterte Gasse in unregelmäßig angereihten Stufen. Des Öfteren hätte Corvin uns beide beinahe gemeinsam mit den Köpfen voraus nach unten geschickt. Nur mit Mühe hielten uns Aarons kräftige Hände von einem derartig fatalen Sturz ab. Meter für Meter eilten wir zwischen den still liegenden Häusern hindurch. Immer wieder erblickte ich unheilvolle schwarze Silhouetten auf den umliegenden Häuserdächern. Ihre bösartig glitzernden Augen brannten sich auf meine Kopfhaut. Doch kein einziger weiterer Schuss fiel. Es fühlte sich an, als würden wir exakt dorthin fliehen, wo Jeb uns haben wollte. Je weiter wir kamen, desto stärker verbreitete sich dieses ungute Gefühl in meiner Magenenge.

„Mir gefällt das gar nicht. Sie beobachten uns bloß, als hätten sie weiterhin die Fäden in der Hand“, sprach ich meine Sorgen laut aus.

„Da könntest du auch sehr gut recht behalten. In Calor geschieht nichts, was nicht in Kiral Therons Sinne ist. Es ist nun an uns, sie das bis zum Schluss glauben zu lassen und im letzten Moment unauffindbar von der Bildfläche zu verschwinden.“ Trotz der quälenden Schmerzen konnte sich Corvin ein verschmitztes Lächeln abringen. Der Mann wusste, was er tat. Hoffentlich auch seine verbliebenen Männer, denn er schien immer mehr sein Bewusstsein zu verlieren.

Endlich nahmen die schrägen Stufen ein Ende und der Weg öffnete sich wieder in einer breiteren Gasse. Obwohl ich keinen blassen Schimmer von dem irrgartenähnlichen Aufbau der mächtigen mysteriösen Hauptstadt hatte, konnte ich nun doch erahnen, dass wir uns nun in den äußeren Teilen aufhielten. Die Häuser verloren an Höhe und ermöglichten eine bessere Sicht auf den sternenklaren Nachthimmel, der immer mehr von der aufgehenden Sonne vertrieben wurde. Erste orange-rote Striemen hießen den neu geborenen Tag willkommen. Lange würde es nicht mehr dauern, bis auch die ersten nichtsahnenden Einwohner der Glasscherben Ebene erwachen würden. Uns lief die Zeit davon.

Zu sechst sprinteten wir durch die noch leeren Straßen von Calor. Stets begleitet und beobachtet von den kampfbereiten Männern auf den roten Ziegeldächern. Sie waren wie unheimliche Geister und doch so viel mehr. Nur eine einzige Bewegung und die metallischen Röhren würden wieder einen tödlichen Schuss abfeuern. Mir war mehr als bewusst, dass wir wie perfekte Zielscheiben umherliefen.

„Schnell. Da!“ Noch während Eleonora rannte, schoss ihr in Leder gehüllter Arm zur Seite und zeigte uns die besagte Richtung an. Ohne anzuhalten, stürmten wir nach rechts durch eine enge Öffnung in der Mauer. Nur mit Aarons Hilfe hoben wir Corvin, der nun komplett das Bewusstsein verloren hatte, durch das zerstörte Mauerwerk. Jeweils eine Seite stützend, trugen wir den schlaffen Körper weiter.

Die junge Kriegerin hielt uns mit gehetztem Blick die hölzerne Tür auf, die uns wieder auf einer engen Seitengasse ausspuckte. Damit hatten wir etwas Zeit erkauft. Hoffentlich genug, um den geheimen Eingang zu der mir unbekannten Welt zu erreichen. Deutlich langsamer als zuvor eilten wir unserer letzten Hoffnung entgegen. Doch selbst mir war klar, wie unwahrscheinlich es war, dass wir dieses Spiel gewinnen würden. Wenn es der Wahrheit entsprach, was Corvin in unserem luxuriösen Gefängnis über Jeb gemeint hatte, standen unsere Chancen bei null oder noch weniger. Einem der gefährlichsten Männer der Lichten Welt, dem persönlich auserwählten Wächter des Kirals, war man nun mal unterlegen. Noch dazu in seiner Heimatstadt.

 

Wir bogen um die nächste Ecke, als wir abrupt zum Stehenbleiben gezwungen wurden. Vier tiefschwarze Löcher der gefährlichen Schusswaffen waren auf uns gerichtet. Eine winzige Bewegung und jemand würde mit dem Leben bezahlen. Schon wieder. Ich blickte direkt in die rehbraunen Augen von Jeb. Er hatte seine beschützenden Mauern um seine Gefühle wieder aufgebaut. Nur eine unbesiegbare Entschlossenheit war aus seiner geraden Haltung herauszulesen. Unbändige Wut brach in mir aus. Ich konnte den Wall an Gefühlen nicht mehr zurückhalten.

„Worauf wartest du? Bring es zu Ende.“ Verbittert biss ich mir auf die rauen Lippen. Seinen Richter herauszufordern, war vielleicht nicht die beste Taktik. Ich wollte nicht, dass meine Freunde leiden müssen.

Jeb trat aus der geschützten Reihe seiner angriffsbereiten Männer und stellte sich so nahe vor mich hin, dass unsere Gesichter nur Millimeter voneinander entfernt waren. Ich konnte seinen heißen Atem auf meinen zusammengepressten Lippen spüren. Was wollte er? Wollte er sich noch mehr an meinen naiven Gefühlen ergötzen? Meine knisternden Nervenenden waren bis zum Zerreißen gespannt. Mein menschlicher Körper stand unter magischen Strom, welcher auf sein Opfer entladen werden wollte.

„Tu es! Lass uns brennen“, flüsterte Jeb. Verwirrt sah ich ihn an.

„Tu es. Du weißt was ich meine!“ Es war mehr als ein Befehl. In seinen Augen glitzerten Verzweiflung und Hass. Doch warum nur? Warum ließ er uns gehen?

Unsichtbare Verbindungen wurden hergestellt und ich ließ die unfassbare Energie auf unsere Gegner umleiten. Schreiend fielen sie zu Boden, zuckten wie an Land gespülte Fische. Es dauerte nicht lange und sie lagen leblos neben ihren tödlichen Schusswaffen. Nur Jeb stand noch vor mir. Weder er noch ich ließen den jeweils anderen aus den Augen.

„Geht! Euch bleibt nicht viel Zeit.“ Noch während der ehemalige Stallbursche zu uns sprach, wandte er sich zum Gehen ab. Halvar brachte ein erstauntes Raunen heraus. Der Rest stand sprachlos neben mir.

„Was ist mit dir?“ Ohne zu denken waren diese Worte aus meinem Mund geplatzt. Ich hatte keine Ahnung, was ich damit bezwecken wollte. Doch ein Teil von mir, wollte ihn immer noch beschützen.

„Irgendjemand muss euch noch etwas Zeit verschaffen.“

Eine einfache Feststellung, und doch würde dieses Vorhaben schwerwiegende Auswirkungen auf sein Leben haben. Für mich stand die Entscheidung fest.

„Wir schaffen das schon!“ Verwundert drehte Jeb sich zu mir um. Erneut ließ ich meine knisternde Energie auf einen anderen Körper überspringen. Nur war ich dieses Mal weitaus vorsichtiger. Es war Detailarbeit, die volle Konzentration erforderte. Sein sterblicher Körper sollte nicht unmenschlich verstümmelt werden. Ohne einen Laut von sich zu geben, brach er in sich zusammen. Das sanfte Heben seiner Brust war das einzige Zeichen von Leben.

„Warum hast du das getan?“, drang die empörte Stimme von Yann an mein Ohr. Es war mir egal.

„Los, weiter!“

Eleonora war viel zu geschockt und befolgte einfach meinen neuen Befehl, während sich Yann weiterhin genervt über meine spontane Aktion beschwerte. Sie wussten nur nicht, dass ich es mir nie verziehen hätte, hätte Jeb nun diesen Verrat zu unseren Gunsten auf seine Schultern geladen. Mein Herz hatte wohl weiterhin noch seine Finger im Spiel.