Raunen dunkler Seelen

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„Tut mir leid, die muss raus.“ Keine zwei Schritte und ich stand hinter ihm. Je schneller, desto besser. Sauber schnell zog ich den silbernen Dolch aus seinem Fleisch, was meinen besten Freund nur noch mehr zum Fluchen und Toben brachte. Halvar hingegen riss sich ein Stück Stoff von seinem weichen Umhang und band es Aaron um die Schulter. „Das müsste vorerst reichen“, murmelte Halvar.

Behutsam legte ich mir seinen unbeschadeten Arm um meine Schulter und zog Aaron mit mir. Hinter uns ertönte lautes Kriegsgeschrei. Doch da wir dank mir angehalten hatten, bestand weiterhin ein nennenswerter Vorsprung. Zumindest mit etwas Glück. Jedoch stellte sich fluchtartiges Laufen bei diesen schweren Schneemassen als eine anstrengende Herausforderung heraus. Auch unseren bewaffneten Feinden schien es nicht besser zu ergehen. Ein kurzer Blick über die Schulter reichte, um mir zu bestätigen, dass Yann vor Wut schäumend versuchte, uns einzuholen. Keine Chance. Egal wie sehr er uns mit seinem brennenden Blick töten wollte, seine metallischen Klingen würden die Distanz zwischen uns nicht überbrücken können.

Befehle um Befehle erklangen, nur erreichte uns kein einziger der bewaffneten Männer. Ich spürte meine verkrampften Muskeln protestieren, doch ich ließ nicht locker. Nicht jetzt. Zu dritt stapften wir uns unseren Weg in Sicherheit. Es dauerte Stunden, bis unsere Verfolger aufgaben, und uns ziehen ließen. Wahrscheinlich machte es auch einfach keinen Sinn, uns weiter zu verfolgen, da wir geradewegs auf ein gewaltiges Wintersturmgebiet zuliefen. Unsere Überlebenschancen waren damit drastisch gesunken und es war dennoch die einzige Möglichkeit gewesen. Was mit Corvin und Eleonora geschehen war, konnte ich nicht sagen. Mir war erst viel zu spät aufgefallen, dass sich keiner von beiden an unserer Seite befand. Ich konnte nur hoffen, dass sie noch lebten, obwohl mir das bei Erinnerung an Yanns vom Wahnsinn zerfressener Fratze als eher unwahrscheinlich erschien.

5. Kapitel

Suna

Drei Tage waren es nun gewesen. Drei lange Tage durch finstere Tunnel, in denen Kälte und unendliche Dunkelheit vorherrschte. Nur in den kurzen Momenten, in denen wir ein wärme- und lichtspendendes Feuer entfacht hatten, konnte ich meine müden Augen beruhigt schließen. Doch, sobald die schützenden Flammen erloschen waren, überprüften meine magischen Sinne tastend unsere Umgebung nach möglichen Gefahren. Ich konnte das nicht einfach abstellen. Es fühlte sich wie ein natürlicher Instinkt an.

Tamo und Lorca hatten während der letzten Tage immer wieder versucht, mich dazu zu überreden, einfach mal zu entspannen und meinem erschöpften Körper seinen wohlverdienten Schlaf zu gönnen. ‚Die Mykre wären doch schon längst auf uns aufmerksam geworden, wenn sie sich in diesem Teil des Tunnelsystems befänden‘ oder ‚Wir haben uns jahrelang darauf vorbereitet, von einem Mykre in den Tunneln überrascht zu werden. Wir bekommen das schon hin‘ oder aber auch ‚Ich bin schon so oft durch diese Tunnel gewandert und mir war kein Mykre über den Weg gelaufen. Diese Viecher sind fast ausgestorben. Die Wahrscheinlichkeit, dass uns einer angreift ist sehr gering.‘ Nichts, was sie zu mir sagten, konnte mir etwas Ruhe schenken.

Natürlich war mir klar, dass diese dämonischen Monster kaum mehr existierten. Dafür hatten Onkel Tamo und die anderen Unterweltfürsten gesorgt. Dennoch würde ich die panische Angst, die ich als Kind in diesen schrecklichen Nächten verspürt hatte, nicht einfach abschütteln können. Dafür hatten sich diese Erinnerungen zu sehr in mein Gedächtnis gebrannt. Diese schrillen Schreie. Das quietschende Schaben von eisernen Krallen über Steine. Das laute Knacken von Knochen, das schmatzende Reißen von Muskeln. Doch am schlimmsten waren die schmerzerfüllten Schreie der Opfer.

All das zusammen ließ mich trotz bleischwerer Augenlider munter bleiben. Niemals wieder würde ich Derartiges vernehmen wollen, wenn es sich aufhalten ließe.

Nun standen wir da. Aufgereiht nebeneinander. Mira rieb sich schläfrig über die immer noch geschwollenen Augen, während Reena der Mund vor Erstaunen offen stand. Vor uns lag das lange Tal von Morodek in seiner schönsten Pracht. Die abertausend Spiegelsplitter an der Decke brachten alles zum Leuchten und Erblühen. Felder. Winzige Dörfer. Und ganz weit in der Ferne konnte man bereits den Turm von Hevin ausmachen. Hoch oben flogen vereinzelt ein paar wunderschöne Eisvögel und begrüßten uns mit ihrem melodischen Gesang. Etwas, das ich so vermisst hatte.

Vor lauter Freude begann mein Körper wild zu kribbeln. Meine Angst war wie weggespült und es existierte nur mehr meine geliebte Heimat. Auch die anderen schenkten einander ein breites Lächeln. Der bevorstehende Krieg und unsere eigentliche Mission traten in den Hintergrund. Eben gerade in diesem noch so unscheinbaren Moment zählte nur das Hier und Jetzt. Ehrlich gesagt war dieser winzige Augenblick der schönste in den letzten Wochen.

„Nur mehr ein Katzensprung“, sprach ich unbewusst laut aus. Erst als mich alle meine Begleiter belustigt musterten, fiel es mir auf.

„Unsere Pferde brauchen eine Rast. Genau wie wir. Ich schlage vor, dass wir beim nächsten Bauern einkehren und uns alle ausruhen. Danach reisen wir dann direkt nach Hevin.“ Noch bevor Tamo geendet hatte, zog er sanft an seinen Zügeln und ritt voraus. Auch Reena und Ellion taten es ihm nach. Wie Gänse hintereinander aufgereiht, schlugen wir den holprigen Weg nach unten ein. Zufrieden ließ ich mich von der Müdigkeit in das Land der Träume ziehen. Das letzte, was ich vernahm, waren die erstaunten Kommentare meiner Schwester.

***

„Suna.“ Kräftige Hände schütteln mich so lange, bis ich meine Arme abwehrend in die Luft hob. Blinzelnd gewöhnten sich meine zusammenklebenden Augen nach und nach an die dämmernden Lichtverhältnisse. Ich saß immer noch auf dem Rücken unseres Pferdes. Ellion hinter mir meckerte genervt über die Götter und die lichte Welt. Ob er wohl schon lange versucht hatte, mich zu wecken? Wäre gut möglich. Nach den wenigen Stunden Schlaf, die ich mir in den letzten Tagen gegönnt hatte, befand ich mich offenbar im Nirvana. Zumindest schienen mich weder unrealistische Träume noch meine nervengeladene Gabe um meine Ruhe gebracht haben.

„Bin munter“, brachte ich heißer von mir. Wir befanden uns vor einem alten, ulkigen Vierkanter. Man sah der äußeren Holzverkleidung bereits die Jahre an, was sie nur noch heimlicher aussehen ließ. Rundherum erblühten die typischen morodekischen Blumen, Kambynitas: Eisblaue Blüten in der Form von einem federnden Flügel mit kleinen schneeflockenförmigen Pollenkristallen, die ein sanftes Glockenspiel von sich geben, wenn sie durch sanfte Windbrisen ins Schaukeln gebracht werden. Eine instrumentale Musik, die die gesamte Unterwelt zum Vibrieren bringt, sobald einer der zerstörerischen Stürme auf dem weiten Meer draußen wütet.

Doch das Beste an diesen besonderen Blumen war ihr süßlicher Nektar. In ihrer natürlichen Form ungenießbar für das menschliche Wesen. Nur durch die majestätischen Eisvögel ist es uns erst möglich geworden, aus dem klebrigen Süß eine unverzichtbare Köstlichkeit zu erschaffen. Wenn unsere fliegenden Freunde ihre Nahrung aus den Tiefen der Blüte ziehen, verändert sich die harte Konsistenz der Kristalle. Die durchsichtigen Kügelchen werden dann ganz weich, wie rote Beeren, und können ohne viel Kraftaufwand gepflückt werden.

Vom hölzernen Balkon hingen etliche Ranken von glühendem Efeu herab und würden selbst in den dunklen Winternächten noch ein sanftes Leuchten von sich geben. Zur Zeit der Jagd war dieses glühende Grün wie eine gehisste Flagge. Ein Wegweiser zu einer sicheren Unterkunft. Auf dem flachen Dach ragten etliche dichte Baumkronen gen Himmel. Ihr dicken Äste trugen saftige Früchte aller Art und ließen einem allein schon bei ihrem Anblick das Wasser im Mund zusammenlaufen.

Ihre alten Wurzeln schlängelten sich um das Haus wie eine hungrige Schlange um eine zittrige Maus. Jedoch ähnelte es mehr einer innigen Umarmung als einer ungemütlichen Situation, in der man dem Tod direkt in die gierigen Augen sehen musste. An unzähligen Enden hingen die kunstvoll ineinander verwobenen Nester der Eisvögel. Aus manchen konnte man sogar das hohe Piepsen der flauschigen Babyvögel vernehmen.

Mein fassungsloser Blick glitt zurück zu den blühenden Feldern der Kambynitas. Zwischen den eisblauen Blüten erkannte ich bei näherem Hinblicken auch vereinzelte Felder, an denen frisches Gemüse angepflanzt wurde. Hier schien alles zu wachsen, was man zum Leben brauchte. Reichlich Nahrung für eine hungrige Familie und spontane Gästen. Warum nur hatte ich noch nie einen dieser uralten Höfe aufgesucht? Mir war klar, dass sie nur mehr rar existierten. Die meisten wurden bei der großen Jagd nach Mykre zerstört und nie wieder neu aufgebaut. Dennoch waren allein schon die faszinierenden Geschichten über diese Höfe mehr als anziehend. Als kleines Straßenmädchen konnte ich nie genug davon hören. Es war wie ein fernes Paradies, von dem ich immer zu träumen erhoffte, sobald ich meine Augen in irgendeiner dreckigen Gasse schloss.

Langsam ließ ich mich vom ledernen Sattel heruntergleiten, was Ellion ein seufzendes ‚Na endlich‘ entlockte. Ich war wohl von dem unglaublichen Anblick zu sehr gefangen genommen worden, und schien meine nahe Umgebung komplett vergessen zu haben. Der morodekische Bote sprang ebenfalls vom Pferd und stapfte kopfschüttelnd an mir vorbei zu den anderen. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Reena ebenfalls unseren neuen Aufenthaltsort begutachtete. Ihr zarter Mund war leicht geöffnet und ihre Augen strahlten, wie die eines begeisterten Kindes.

Ich konnte mir ein Lachen nicht zurückhalten. Sie sah dafür einfach zu niedlich aus. Erschrocken von diesem entspannten Laut hielt ich mir den Mund zu, doch meine Schwester hatte es ebenfalls gehört. Ihre geweiteten Augen sahen mich zuerst unergründlich an, doch dann fiel sie in mein Lachen mit ein. Gemeinsam standen wir nun da, hielten uns unsere Bäuche und heulten Tränen. Unser Lachkrampf schien kein Ende nehmen zu wollen, dabei gab es nicht mal einen triftigen Grund. Es fühlte sich einfach richtig an.

 

Mira und Ellion sahen uns entgeistert an, während sich Lorca und Onkel Tamo verwirrt an den Köpfen kratzten und sich mit einem kurzen Blickaustausch nur bestätigten, dass der jeweils andere ebenfalls keinen blassen Schimmer hatte, was gerade bei uns vorging. Es dauerte einige Minuten, bis wir uns beide wieder beruhigt hatten und schnaufend nebeneinanderstanden. Auch ohne sie wirklich gut zu kennen, fühlte ich eine besondere Verbindung zu dem Wesen meiner Schwester. Ich konnte es kaum erwarten, sie näher kennenzulernen.

Plötzlich ertönte ein leises Knacken hinter meinen Rücken, das mich abrupt hellwach werden ließ. Mykre. Der erste und einzige Gedanke. Blitzschnell zog ich meine scharfen Klingen aus den Stiefeln und sprang vor Reena in Verteidigungsposition. Gleichzeitig ließ ich die magischen Fühler meiner Gabe nach jeglicher Art Lebensenergie voraustasten. Meine zusammengekniffenen Augen blickten jedoch nur in die weisen Augen eines majestätischen Hirsches. Das Tier war die Ruhe selbst. Selbstbewusst stand es einige Meter entfernt und sah uns bloß geheimnisvoll an. Sein riesiges Geweih ragte zauberhaft von seinem Kopf in die Luft und war mit glitzernden Kristallen bestickt. Schimmernde Fäden hingen in unterschiedlichen Längen herunter und wirkten wie ein Spinnennetz. Ein Spinnennetz in Tau eingewickelt.

In Morodek erzählte man sich, der Anblick eines Unterwelthirsches sei ein Zeichen für ein großes Ereignis. Nur wüsste man nie, ob es eher negativer oder positiver Natur sein wird. Langsam ging mein rasender Herzschlag wieder zurück und ich steckte die spitzen Dolche zurück in meine Stiefel. Dieser Ort war definitiv mehr als abstrakt und für unglaubliche Überraschungen zu haben. Einige Wimpernschläge später wandte sich das wunderschöne Tier von uns ab und wanderte seelenruhig durch die Kambynitas.

„Suna, Reena, kommt jetzt. Wir werden bereits erwartet“, erklang Tamos strenge Stimme. Seine Geduld war nun am Ende. Auch verständlich nach dieser anstrengenden Flucht. Ohne etwas zu sagen, zog ich meine Schwester mit mir. Gemeinsam traten wir in das von der Natur eroberte Haus. Es sah selbst von Innen nach einem versteckten Reich der Feen aus. Ich kam gar nicht mehr aus dem Staunen heraus. Den anderen schien es zumindest nicht minder so zu ergehen.

„Überlasst das Reden erstmal mir. Der Hof gehört einer alten Familie von Zyonnaith. Ich habe nicht viele Erfahrungen mit diesen uralten Familienstämmen, aber eines muss euch klar sein, sie alle haben eines gemeinsam: Sie lieben Geheimniskrämerei und mögen es nicht, wenn sich Fremde in ihre Angelegenheiten einmischen. Zusammengefasst, sie bleiben unter sich“, flüsterte Onkel Tamo eindringlich. Spannend. Wie diese Leute wohl sind? Freundlich? Oder eher abweisend? Kleidungsstil wie diese alternativen Wandervölker der neutralen Ebene oder der Bergarbeitervölker der Gipfelebene? Das würde jedoch mit ihrem kriegerischen Ruf nicht zusammenpassen. Immerhin sind sie ja doch die gefährlichsten Jäger unserer staubigen Geschichtsbücher.

Zögerlich traten wir nacheinander in die duftende Stube ein. Lorca stellte sich schützend neben Reena und beobachtete die ungewohnte Umgebung mit den aufmerksamen Augen eines Adlers. Neben dem dampfenden Herd stand eine alte Frau mit zerknitterter Schürze. Ihre langen grauen Haare waren zu einem unordentlichen Zopf zusammengebunden worden. Doch ihre aufrechte Haltung strahlte eine einschüchternde Kraft aus, sodass ihr vergangenes Kriegerdasein nicht geleugnet werden konnte. Ihre sanfte Stimme hingegen war die einer liebevollen Großmutter. Unbekümmert summte sie eine mir unbekannte Melodie vor sich hin und schnitt dabei frische Tomaten.

Onkel Tamo räusperte sich, um ihre Aufmerksamkeit zu erhalten. Gegen meine Erwartungen drehte sie sich weder um, noch schreckte sie zusammen. „Ich habe bereits gehört, dass ihr hier seid. Keine Notwendigkeit, blöd herumzuräuspern. Kommt gleich zu dem Teil, warum ihr meine Arbeit stört, dann kann ich euch auch sagen, ob ich euch helfen werde.“ Ihre faltigen Hände griffen nach der Zwiebel neben ihr, welche ebenfalls fein säuberlich kleingehackt wurde.

„Das hat doch keinen Sinn. Lass uns weiterreiten. Die Hexe will für sich bleiben“, maulte Ellion und wandte sich schon zum Gehen. Unhöflicher hätte er wohl nicht mehr sein können. Onkel Tamo hielt den morodekischen Boten am Ärmel fest und funkelte ihn böse an. Doch das schien diesen kein bisschen zu beeindrucken. Dämlicher Junge. Tamo war immer noch unser Oberster Fürst. Gegen seine Befehle zu verstoßen, war das eine, doch sich derartig kindisch zu benehmen, hieß mein Onkel ganz und gar nicht willkommen.

„Es wäre das Beste, du wartest draußen bei den Pferden und kümmerst dich darum, dass sie etwas zu fressen bekommen. Und damit das klar ist, das war ein Befehl und dieses Mal erlaube ich keine eigenständigen Einfälle. Verstanden?“ Tamo kochte beinahe vor Zorn über, hatte sich aber noch sehr gut im Griff. So wie es sich eben für einen guten Anführer gehörte. Der angespannte Unterton hatte selbst Ellion die Sprache verschlagen. Mit einem geschlagenen Brummen zog er sich aus der wohlig warmen Stube zurück.

Die alte Dame hingegen hatte weder ihre Arbeit unterbrochen noch einen zornigen Kommentar abgegeben. Eines war mir jedoch klar. Sie hatte alles aufmerksam verfolgt und ihre eigenen Schlüsse darüber gezogen. Ziemlich schlau. Damit würde sie ohne viele Fragen schon etwas über unsere Gruppe in Erfahrung bringen.

„Es tut mir schrecklich leid. Der Junge muss noch an seinem Benehmen arbeiten“, meinte Tamo. Doch die alte Frau winkte bloß ab und drehte sich zum ersten Mal, seit wir hier eingetreten waren, zu uns um. Eine wulstige Narbe zog sich über ihre gesamte linke Gesichtshälfte. Weitere verblasste Wunde waren ebenfalls auf ihrer faltigen Haut sichtbar. Definitiv eine Kriegerin. „Ich bin unhöfliches Pack gewöhnt. Nun aber wollt ihr mir verraten was mir die Ehre verschafft, den Obersten Fürsten in meiner Küche stehen zu haben?“ Ihre weisen Augen nahmen jeden einzelnen einmal genau ins Visier. Dabei fühlte ich mich wie ein offenes Buch. Oder ein nackter Aal. Unwohl spielte ich mit meinen Händen hinter dem Rücken mit einer kleinen Klinge aus meinem Ärmel. Wahrscheinlich hätte ich selbst im Überraschungsmoment kaum eine Chance gegen diese mysteriöse Frau. Der einzige Vorteil wäre meine magische Gabe.

„Wir bitten nur um einen Unterschlupf für eine Nacht, etwas zu Essen und Stallung für unsere drei Pferde.“ Tamo wollte noch etwas hinzufügen. Wahrscheinlich eine Höflichkeit, doch sie bat ihn, still zu sein. „Ihr sollt bekommen, wonach ihr fragt. Ich schätze, als unser Fürst wisst ihr über die Verhaltensregeln in unseren Gemäuern Bescheid und werdet auch nicht dagegen verstoßen. Die Ställe sind offen. Stellt eure Pferde in die freien Boxen. Die Treppe hoch bis ans Ende des Ganges, dort sind drei ordentliche Zimmer, die ihr beziehen dürft. Ich werde ein saftiges Essen vorbereiten. Ach, und noch etwas, wenn ihr meinem Enkel über den Weg lauft, sagt ihm, ich brauche ihn.“ Damit war wohl alles gesagt, denn sie drehte sich wieder ihrem Gemüse zu und überließ uns uns selbst. Zumindest konnten wir bleiben und wussten, wo wir die Nacht verbringen würden.

„Lorca, gehe bitte nach draußen und hilf Ellion mit den Pferden. Suna, ich möchte, dass du und Reena euch ein Zimmer aussucht und die Zeit nutzt, euch näher kennenzulernen. Berührt nichts unnötig. Wir sehen uns dann beim Essen.“ Damit verschwand auch Onkel Tamo irgendwo im Haus und ließ uns zurück. Mit einem gleichgültigen Schulterzucken verließ uns auch mein ältester Bruder. Na dann. Das würde spannend werden. „Lass uns nach oben gehen.“ Reena nickte zustimmend und folgte mir durch den seltsamen Flur. Die hölzerne Treppe war auch nicht wirklich besser. Sie knarrte bei jedem Schritt und hinterließ ein zerbrechliches Flair. Oben angekommen, fielen mir sofort die vielen Wurzeln auf, die sich durch die Decke gegraben hatten. Alles hier erinnerte mich mehr an eine zusammengefallene Kluft als an ein richtig bewohntes Haus. Dennoch schluckte ich mein ungutes Gefühl hinunter und schlängelte mich durch den verwachsenen Gang.

Obwohl ich bereits die fremde Lebensenergie verspürt hatte, schreckte ich dennoch zusammen, als die Tür zu meiner linken aufgerissen wurde und ein Mann Mitte zwanzig in voller Kämpfermontur heraustrat. Seine schwarzen Locken hingen ihm in die dunkelbraunen Augen und sahen mich feindlich an. Nichts an diesem Mann sah auch nur annähernd freundlich aus und dennoch strahlte sein gefährliches Auftreten etwas Anziehendes aus. Auch er musterte mich von Kopf bis Fuß. Dann glitt sein Blick hinter mich und wieder zu mir. Verwunderung mischte sich in seinen eisigen Blick und verschwand so schnell wieder, wie sie gekommen war. Das musste wohl der Enkel sein.

„Deine Großmutter braucht dich unten.“ Reena sprach so selbstsicher und zeigte kein bisschen Angst. Ich hatte ganz vergessen, dass sie wie eine Prinzessin aufgezogen worden waren. Richtiges Auftreten wurde dort wohl unterrichtet. Immerhin hätte sie die Königin von Watembra werden sollen. Gruselige Krieger durften einen da nicht einschüchtern.

Lange starrte er uns beide an und schob sich dann, ohne einen Laut von sich zu geben, an uns vorbei. Erst als seine knarrenden Schritte verhallt waren, ließ ich die Luft aus meinem Brustkorb entweichen. Mir war gar nicht aufgefallen, dass ich sie angehalten hatte. Verwirrt blickte ich zu meiner Schwester, welche ebenfalls dem Fremden mit gerunzelter Stirn nachstarrte. Trotz des unheimlichen Auftretens hatte er dennoch etwas Anziehendes an sich gehabt. Im Endeffekt bestätigte sein unfreundliches, fast schon feindseliges Verhalten nur Onkel Tamos Erläuterung zu den Zyonnaith.

Endlich lösten wir uns beide aus unserer Starre und schlurften den mit einem abgewetzten Teppich ausgelegten Gang entlang, bis wir zu den besagten Zimmern gelangten. Mit fragendem Blick überließ ich Reena die Entscheidung, welche der drei Räumlichkeiten wir beziehen sollten. Sie entschied sich schließlich ohne langes Überlegen für die letzte hölzerne Tür. Zuerst schien sich die rostige Türklinke nicht bewegen zu wollen, doch mit etwas mehr Kraftaufwand, schwang die alte Tür mit lautem Gequietsche schließlich auf. Ich hatte schon alles Mögliche erwartet: Eine meterhohe Staubschicht, Kakerlaken und Mäuse, bröckelnde Wände und ein ungemachtes Bett. Wie falsch hatte ich nur gelegen. Es sah mehr als sauber und gepflegt aus. Neben dem kleinen Kamin lagen aufeinandergestapelt einige Holzscheite, die dicken weinroten Vorhänge waren aufgeschoben und hießen noch die letzten Reste Tageslicht willkommen. Doch das einladende Bett zog meinen Blick am meisten auf sich: Die hellen Kissen und Decken waren aufgeplustert. Darin würde man sich definitiv wie auf einer flauschigen Wolke fühlen. Außerdem waren auf der gepolsterten Kiste einige weich aussehenden Decken platziert, in welche ich mich vor dem Schlafengehen einwickeln würde. Wie eine winzige Raupe in ihrem Kokon.

„Also, was ist der Plan?“, stellte Reena ihre allesbedeutende Frage in den Raum. Schweigen. Was sollte ich darauf antworten? Was war die exakte Frage? Unsere Mission gegen den Krieg? Ich? Die nächsten Minuten und Stunden in unserem heutigen Schlafgemach? Natürlich könnte ich mit einer einfachen Gegenfrage antworten, doch das wäre auch irgendwie abweisend und nicht wirklich das, was ich von meiner neu gewonnen Schwester in den ersten paar Sekunden mit ihr alleine hören wollte. Ich wollte, dass sie mir vertraute. Dass wir eine richtige Familie wurden. Zwar würden deshalb Corvin, Lorca und Tamo nicht weniger Familie sein, nur spürte ich zu meiner Drillingsschwester eine unzertrennbare Verbindung, nichts Neues, als wäre dieses Band seit unserer Geburt vorhanden.

„Erzähle mir etwas von dir. Von deiner Kindheit, von deinem, also eigentlich unserem Bruder, unserer Mutter. Wie bist du aufgewachsen? Hast du Freunde? Also ich meine, du hast sicher Freunde, aber du weißt schon, was ich meine. Tut mir leid, ich bin echt nicht gut im Anfangen von Gesprächen“, schüchtern sah ich zu dem lächelnden Mädchen, das mir selbst wie aus dem Gesicht geschnitten war. Immer noch sehr ungewohnt, seinem eigenen Spiegelbild täglich zu begegnen, ohne dass man es selbst war.

Reena hingegen schien weder ein Problem mit Gesprächen zu ihrer Vergangenheit oder ihrer Familie zu haben, noch schien sie meine Unsicherheit mitbekommen zu haben. Zwar gab es da noch die Option, dass sie meine unangenehme Zwickmühle einfach gekonnt ignoriert hatte, um mir damit einen Gefallen zu tun, jedoch wollte ich so nicht denken. Mir gefiel der Gedanke, dass sie nicht jede Gefühlsregung aus meiner angespannten Körperhalten entnehmen konnte.

 

„Na gut, also wie du wahrscheinlich weißt, bin ich in der Hochkönigsburg in der Hauptstadt von Katalynia geboren und auch aufgewachsen. Malik und ich haben uns schon immer prächtig verstanden. Natürlich gab es hin und wieder nicht nennenswerte Streitereien, die eben zwischen Geschwistern so vorkommen. Wir hatten eine schöne Kindheit trotz der Hochsicherheitsmaßnahmen. Unsere ständigen Begleiter waren bewaffnete Soldaten vom Sonderkommando, welche sich zumindest weitgehend versteckt hielten und auch keine auffallende Kleidung trugen. Freunde außerhalb des königlichen Hofes waren uns eigentlich nicht gestattet, weshalb ich mich schnell mit meinen Dienstmädchen und einem unserer Stallburschen angefreundet hatte. Malik hingegen begann recht früh sein Training zum Soldaten und Kriegerkönig, weshalb er Freunde aus den Reihen der Soldaten fand. Mein, also unser, Bruder und ich verbrachten die meiste Zeit gemeinsam. Der Unterricht am königlichen Hofe war meist langweilig, weshalb wir uns Spielchen ausdachten, womit wir die Gelehrten auf die Palme brachten. Ausflüge in die verbotenen Gänge standen an der Tagesordnung und brachten uns so einige Strafen ein. Vater, oder besser gesagt unser Onkel, wurde dabei immer stinksauer und sprach an manchen Tagen kein Wort mehr mit uns. Was auch nicht so schlimm war. Vater war nicht wirklich liebenswürdig und war meistens ziemlich grob mit uns umgesprungen.

Die Burg an sich war zwar wunderschön, riesig und man hatte immer einen atemberaubenden Ausblick. Doch wenn man darin wohnte, stellt man ziemlich schnell fest, dass das Leben in diesen Gemäuern langweilig und eintönig war. Nicht für alle, das verstand sich von selbst. Nur als weibliche Nachfolgerin des Königs wurde eben von einem erwartet, dass man sich immer ordentlich und den Regeln gerecht benahm, man nur in feinen Kleidern herumlief, immer freundlich lächelte, aber nicht zu viele Worte von sich gab. Schließlich war das Reden den Männern vorbehalten. Reiten war in Ordnung. Nur wilde Ausflüge, nach denen man dreckverschmiert und übersäht mit Gestrüpp heimkam, waren nicht gerne gesehen. Was den Anreiz nur noch verdoppelte, um es Vater und den königlichen Gelehrten noch mehr unter die langen Nasen zu reiben, dass ich nicht nach ihrer Pfeife tanzen wollte. Maliks Freunde brachten mir schließlich auch das Kämpfen und den richtigen, sicheren Umgang mit Waffen bei. Es war einerseits total anstrengend mitten in der Nacht hinauszuschleichen, um sich stundenlang von trainierten Kriegern den Hintern versohlen zu lassen. Andererseits hatte es mir immer sehr viel Spaß gemacht. Vater hätte das alles nie gutgeheißen, deshalb mussten wir immer besonders vorsichtig vorgehen.

Mutter hingegen ist die großherzigste, freundlichste, lustigste und beste Mum, die es je gegeben hat. Sie nahm sich so viel Zeit für Malik und mich, wie ihr möglich war, ging mit uns spazieren, erzählte uns wundervolle Geschichten, lachte über unsere Streite und konnte sich bei keinem einzigen unserer Scherze ein Grinsen verkneifen. Sie war immer für uns da.“

Aus dem Nichts rollte meiner Schwester eine glitzernde Träne über die rötliche Wange, welche sie blitzschnell mit dem Ärmel ihres Oberteiles wegwischte. Die Erinnerungen an unsere Mutter schienen sie trauriger zu stimmen, als sie es sollten. Kein Wunder, niemand wusste, wo sich die Königin von Katalynia derzeit aufhielt. Gerüchten zu Folge war jedoch etwas ganz Schreckliches vorgefallen. Niemanden würde es wundern, wenn Reena bei diesem Thema zusammenbrechen würde. Selbst mir lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Ich kannte die Frau, die mich geboren hatte, zwar nicht, dennoch war sie meine Mutter und ich wollte sie nur zu gerne kennenlernen. Zögerlich trat ich einen Schritt auf sie zu und nahm meine Drillingsschwester in den Arm. Ihr zierlicher Körper wurde von lautlosen Schluchzern erschüttert und es dauerte einige Momente, bis sie sich wieder vollends im Griff hatte. Danach schob sie mich sanft, aber bestimmt von sich und setzte sich an den Rand des Bettes.

„Du musst nicht weiterreden, wenn du nicht willst.“ Irgendwas musste ich schließlich sagen. Zu blöd, dass mir Trösten kein bisschen lag. Ich konnte gut mit Waffen umgehen, war flink und unsichtbar in meinen Aufträgen, trickste Händler mit sehr viel Geduld aus, obwohl mein Magen vor Hunger schon zu krampfen begonnen hatte. Mitgefühl war eben keine Fertigkeit, die man in den dreckigen Gassen lernte. Selbst nachdem uns Tamo zu sich geholt hatte, waren unsere Persönlichkeiten eher grob geblieben. Nur, wenn es um die Familie ging, Menschen, denen man bedingungslos vertraute, zeigte man auch mal seine weichen Seiten.

„Nein, nein, schon gut. Ich vermisse sie nur so sehr.“ Verständnisvoll nickte ich blöd vor mich hin. Zum Glück hatte sich Reena schnell gefangen und erzählte weiter von ihrer Vergangenheit. „Meine beste Freundin, ein schüchternes Dienstmädchen, heißt Madeleine. Du hättest sie wahrscheinlich nervig gefunden. Sie ist ein typisches Mädchen. Ihre Lieblingsfarben sind weiche Pastelltöne, sie liebt backen und verwendet viel Zeit, ihre Haare in unterschiedlichste Frisuren zu stecken. Sie war schon immer eine bessere Prinzessin gewesen als ich. Madeleine ist das warmherzigste Wesen auf dieser Welt. Nichts, aber auch gar nichts Böses steckt in ihr.

Dann ist da noch Jeb. Er ist unser Stallbursche. Ich weiß nicht mehr, wann er zu uns an den Hof gestoßen war, doch seine Nationalität war definitiv nicht katalynisch. Seine Eltern waren früh gestorben und er musste schnell lernen, für sich selbst zu sorgen. Dennoch schien ihn das nie abgehalten zu haben, glücklich und unbeschwert zu sein. Jeb liebt es, über alles und jeden, Witze zu reißen, denkt nicht zu viel nach, wenn es um etwas geht, das er gerne machen möchte. Jeb und Madeleine sind übrigens auch ein Paar. Anfangs wollten sie es vor mir verstecken, doch darin sind sie kläglich gescheitert. Trotz ihrer Beziehung schlossen sie mich nie aus. Davor hatte ich am meisten Angst. Ziemlich schnell hatte sich meine Sorge jedoch als unbegründet herausgestellt. Lustig ist auch, dass Malik Jeb nicht leiden kann. Er hat mit mir nie darüber geredet, aber ich habe es trotzdem bemerkt. Aber das ist etwas anderes. Halb so wichtig.

Kurz vor meiner Flucht haben wir dann alle gemeinsam, also meine Freunde, Malik und seine Soldatenkollegen und ich, einige Ausflüge im Land gemacht. Es waren die schönsten letzten Tage. Sie ließen mich sogar alle negativen Gefühle und Gedanken zu meiner bevorstehenden Hochzeit vergessen. Dann war es soweit. Jedoch ging alles anders, als ich erwartet hatte. Meine Mutter und Malik hatten eine Flucht für mich geplant. Ich wurde nur kurz davor eingeweiht. All die Informationen zu verdauen, beanspruchte Zeit, weshalb ich mich kein bisschen gewehrt hatte. Dann waren Ragnar, einer von Maliks besten Freunden, und ich ganz auf uns allein gestellt. Anfangs konnte ich ihn nicht wirklich leiden. Oder es lag auch einfach an der Tatsache, dass alles, das ich über ihn zu wissen schien, nicht der ganzen Wahrheit entsprach. Im Endeffekt kamen wir uns täglich näher. Die gesamte Bootsfahrt mit den Piraten war er bewusstlos. Ich hatte mir solche Sorgen um ihn gemacht. Auch im Sklavenlager in Aronien wurde es nicht besser. Erst als ihr vor unseren Gitterstäben aufgetaucht seid, hatte ich Hoffnung. Nur … “ Reena brach dieses Mal so richtig in Tränen aus. Der Tod ihres Freundes war noch nicht so lange her, als dass sie darüber sprechen hätte können. Ich persönlich kannte den morodekischen Krieger kein bisschen, und dennoch spürte ich sehr viel Respekt in mir aufkommen, wenn ich an Ragnar dachte. Er war Morodek, seiner Heimat und seiner Mission und seiner Stellung als Nyajamer mehr als gerecht geworden.

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