Raunen dunkler Seelen

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2. Kapitel

Reena

Nachdem ich die brennende Prozedur des Wundenreinigens über mich ergehen lassen hatte und mich nun noch mehr wie eine kleine nichtsnutzige Prinzessin fühlte, biss ich nun in das harte Stück Brot, das mir Tamo gereicht hatte. Das Kauen war beinahe ein Ding des Unmöglichen, so ausgetrocknet wie diese Teigmasse bereits war. Von den gewohnten Brötchen keine Spur. Doch wenn ich ehrlich mit mir selbst war, wann hatte ich denn das letzte Mal eine ordentliche königliche Mahlzeit zu mir genommen. Wochen? Monate? Seit wann war ich denn so pingelig?

Dem verfärbten, fallenden Blätterdach nach zu urteilen, müsste es mindestens schon Mitte Herbst sein. Wenn nicht sogar später. Das Schockierende an der ganzen Sache war bloß, dass meine geplatzte Hochzeit im heißen Hochsommer stattgefunden hatte. Immer wieder stahlen sich freundliche braune Augen in mein Sichtfeld. Augen, die mir mehr Geborgenheit versprachen, als mir je zuvor geschenkt worden war. Augen, in die ich mich verlieben hätte können. Nur würden diese wunderschönen Augen nie wieder das Licht der Welt erblicken. Erloschen.

Tief einatmen. Langsam wieder ausatmen. Meine emotionalen Erinnerungen an den beschützerischen Krieger brachten die aufgebauten Mauern um mein schmerzendes Herz immer wieder fast zum Einstürzen. Etwas, das ich mir nicht leisten konnte. Nein, nicht durfte. Ragnar war tot. Damit musste ich mich abfinden.

Das Einzige was mir noch blieb, waren die wenigen schönen Momente, die ich mit ihm geteilt hatte. Die Erinnerung an sein ehrliches Lächeln, an das herausfordernde Funkeln in seinen Augen. Ragnar war nie müde geworden, mich vor nahenden Gefahren zu beschützen. Er hatte von Anfang an gewusst, welche Risiken mein Schutz aufbringen würde.

Ich hätte mir noch mehr Zeit mit diesem wundervollen Menschen gewünscht. Das zeigt wieder einmal, wie sehr man die gemeinsamen Erlebnisse mit geliebten Menschen genießen sollte. Dies stellte sich nur in den letzten Wochen als eine gewisse Herausforderung heraus, da ich durch ständige Todesangst, Hunger und Einsamkeit etwas abgelenkt war.

Missmutig kaute ich weiter angestrengt auf meiner wenig nahrhaften Mahlzeit herum. Ich fühlte mich matt und ausgelaugt. Natürlich war mir klar, dass mein ausgehungerter Körper nach lebenswichtigen Nährstoffen verlangte. Unsere wenigen Optionen waren auch nicht unbedingt vielversprechend. Eine spontane Flucht entsprach eben nicht der Erfüllung menschlicher Bedürfnisse.

„Hej. Darf ich mich setzen?“ Wieder einmal verlor ich mich in den geheimnisvollen Augen von Lorca. Dem verletzten Krieger, dem ich in den warmen Sommernächten durch meine verbotenen Ausflüge das Leben gerettet hatte. Dem ich wahrscheinlich unbewusst mein Herz geschenkt hatte, nur hatte ich eben nie erwartet, ihm jemals wieder gegenüberzustehen. Mein wild pochendes Herz schien bei seinem kampfbereiten und gleichzeitig so beschützerischen Anblick auszusetzen. Wie konnte das sein? Wie konnten zwei so starke Gefühle für zwei verschiedene Personen parallel überleben? Müsste nicht das eine das andere auslöschen?

Ein kaum sichtbares Nicken war das Einzige, was ich zustande brachte. Da wären wir nun schon bei meinem zweiten innerlichen Konflikt angekommen. Nach den Wochen der grausamen Gefangenschaften, hatte ich mich verändert. Ob zum Guten oder zum Schlechten war schwer zu beurteilen. Hoffentlich mehr zum Positiven.

„Wie geht es dir?“ Eine ehrliche Frage. Innerlich fing ich laut an zu lachen. Dafür gebe es tausende von Antworten. Wie ging es mir wirklich? Einsamkeit fraß mich innerlich auf. Wut, Enttäuschung und Verlust schnürten mir die Kehle zu. Angst, um jeden der sich mit mir aufhielt oder mit mir in irgendeiner Verbindung stand. Panische Angst um meinen geliebten Bruder und meine Mutter. Und da wäre noch die unheimliche Gabe, die tief in meinem blutigen Inneren schlummerte und immer wieder unkontrollierbar an die Oberfläche kam. Flüsternde Stimmen, die durch meine Gedanken schlichen und zu irgendeinem Zeitpunkt zu sprechen begannen.

„Ganz gut, schätze ich.“ Ich traute mich nicht, ihm in die sorgenvollen Augen zu sehen, während ich diese unglaubwürdige Lüge über die Lippen brachte. Grundsätzlich würde ich mich als grottenschlechte Lügnerin bezeichnen, doch dieser morodekische Krieger schien sich noch weniger in die Irre führen zu lassen. Kaum merklich schien die angestaute Anspannung von seinem Körper zu fallen. Glaubte Lorca mir etwa? Erstaunt traute ich mich nun, den morodekischen Krieger von der Seite anzublicken.

„Du brauchst mir nicht die Wahrheit zu sagen, wenn du nicht willst, aber bitte spuck nicht mit Lügen auf mich herab.“ Enttäuschung und Frust. Ich hatte ihn verletzt. Nur fehlte mir die Kraft, diesen Fehler wieder in Ordnung zu bringen.

„Es tut mir leid.“ Mein Kopf drohte zu platzen. Etliche Stimmen in mir drängten mich dazu, mich Lorca zu öffnen. Doch ein weitaus stärkerer Teil von mir sperrte sich gegen dieses gierige Bedürfnis nach Verständnis. Ich war noch nicht bereit, meinen Schmerz zu teilen. Diese Leute, Fremde, sie hatten schon genug zu tun, um sich dann auch noch um die emotionale Lage einer hilflosen Prinzessin zu kümmern.

„Keine Sorge, mich wirst du nicht so schnell wieder los. Genauso wenig wie deine Schwester.“ Mit einem kurzen Nicken deutete er auf Suna hin, die wohl in ihren eigenen Gedanken versunken auf ihrem Brot herumkaute. „Und Onkel Tamo.“ Mein Blick glitt zu dem älteren Krieger, der keineswegs zu unterschätzen war. „Auch wenn wir uns noch nicht so gut kennen und alle Schwächen und Stärken voneinander im Schlaf aufzählen könnten, zählst du trotzdem zur Familie und wir schützen unsere Familie. Koste es, was es wolle.“

Seine aufmerksamen Augen hielten meinen Blick fest. Strichen sanft um meine von den letzten Wochen ausgehungerte Seele. Lorca wieder so neben mir sitzen zu haben, war besser als jeder wundheilender Verband. So gerne würde ich mich darin fallen lassen. Doch das würde unsere weltbewegenden Probleme auch nicht aus dem Weg räumen.

„Danke“, flüsterte ich kaum hörbar.

Bis zu unserem erneuten Aufbruch saßen wir schweigend nebeneinander. Jeder schwebte in seiner eigenen, verwirrenden Blase. Die nun getrockneten Kratzer auf meiner nackten Haut spürte ich kaum mehr. Nur der nagende Hunger schien kein sichtbares Ende zu nehmen.

„Komm.“ Hilfsbereit streckte mir Lorca seine von der Erde schmutzige Hand hin, um mir wie ein echter Gentleman aufzuhelfen. Mutter würde ihn lieben. Er hatte genau das richtige Maß an kriegerhafter Ernsthaftigkeit, menschlicher Fürsorge und liebevoller Einfühlungsgabe. Dankend schloss ich meine zittrigen Finger um seine und ließ mich schwungvoll auf meine Beine ziehen.

„Reena reitet mit mir. Natürlich nur, wenn das für dich in Ordnung geht, Onkel“, schoss es wie aus einem dieser metallenen Schießrohre aus seinem Mund. „Und natürlich muss es auch für dich in Ordnung gehen.“ Lorca traute sich kaum, mir in die Augen zu sehen, so sehr hatte er vor meiner Entscheidung Angst. Oder eher wollte er keine Abfuhr bekommen. Verletzung seines Stolzes oder so.

Mein noch vor Trauer verkrampftes Herz führte einen galloppähnlichen Marathon auf und drohte, mir jede einzelne Rippe qualvoll zu zerbersten. Hoffnungsvoll wandte ich mich Tamo zu, doch dieser konzentrierte sich vollends auf das befestigte Sattelzeug auf seinem zufrieden schnaufenden Pferd. Nur der breite Grinser auf seinen aufgeplatzten Lippen zeigte, dass er nichts dagegen auszusetzen hatte.

Erfreut begannen auch meinen trockenen Lippen, sich zu einem echten Lächeln zu formen. Es fühlte sich gut an. In all den dunklen Tagen, in denen man nicht mal wusste, ob es gerade Tag oder Nacht war, hatte ich schon beinahe verlernt, glücklich zu sein.

„Ja, ich würde gerne mit dir reiten.“

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sich Lorca sichtlich entspannte. Er hatte nicht mit einer Zustimmung gerechnet. Nur warum nicht? Konnte er nicht sehen, dass es, seit wir uns das erste Mal außerhalb der Mauern von Onayas gegenüber gestanden hatten, um mich geschehen war? Unser herzzerreißender Abschied damals konnte nicht einfach spurlos an ihm vorbeigegangen sein.

„Gut. Mira, dann reitest du nun mit mir. Macht euch fertig, wir haben heute Nacht noch eine lange Strecke vor uns.“ Zustimmendes Gemurmel war Antwort auf Tamos Befehl. Wenn alles nach Plan verlaufen würde, würde ich schon bald Fuß in das geheime und unvorstellbar gut gesicherte Land setzen. In die wunderbare Heimat meiner Schwester. Endlich würde ich mit eigenen Augen die Wunder, von denen mir Lorca in etlichen Nächten erzählt hatte, bestaunen können.

Von dort müsste ich dann auch die notwendige Hilfe bekommen können, um meinen zurückgelassenen Bruder vor unserem angeblichen Vater, dem falschen König von Katalynia, zu warnen und ihn aus seinen hinterlistigen Klauen zu befreien.

Plötzlich schoss es mir wieder ein. Malik befand sich doch schon längst nicht mehr in den finsteren Mauern der Hochkönigsburg. Irgendwo weit im Norden, hinter den schneebedeckten Bergen würde er seine eigenen schlauen Pläne, um zu mir zu gelangen, entwerfen. Hoffentlich würde er dabei nicht in irgendeine versteckte Falle tappen. Ich konnte nur hoffen, dass ihn Onkel Tamos Leute noch rechtzeitig vor kreativen Martyrerplänen abhalten können.

Während Lorca seine braune Stute von der stacheligen Hecke holte, sah ich mich wieder nach Suna um. Sie hatte schon lange keinen Laut mehr von sich gegeben. Ehrlich gesagt wusste ich auch nicht, wie nahe sie ihren gefallenen Freunden gestanden hatte. Ich war hin- und hergerissen, zwischen dem Gefühl, sie in den Arm zu nehmen und zu trösten, und ihr mehr Platz für sich selbst zu geben. Eigentlich, wenn ich noch mehr darüber nachdachte, war ich so sehr in meinem eigenen inneren Schmerz verloren gegangen, ohne zu merken, wie es meinen noch immer fremden Begleitern ging. Meiner neuen Familie. Jeder hier musste eine ganz individuelle Vorgeschichte mit den toten Kriegern gehabt haben.

 

„Komm, ich helfe dir.“

Ich hatte wieder einmal nicht mitbekommen, wie sich der morodekische Krieger zu mir gestellt hatte. Nun deutete er auf die sanfte Stute neben sich, als ich ihn nur verwirrt musterte. Was war nur los mit mir? Hatten mich alle guten Geister verlassen?

„Geht schon, danke“, brachte ich irgendwie heraus.

Schwungvoll hievte ich mich in den ledernen Sattel und wartete, dass sich Lorca zu mir gesellte. Als wäre es ein Tanz für sich, schwang er sich hinter mir hinauf. Ich spürte ganz deutlich, wie sich seine trainierten Brustmuskeln anspannten. Es war schön zu merken, dass nicht nur er eine einzigartige Wirkung auf mich hatte. Jede Faser, jedes Stückchen Haut begann unter seinen unbewussten Berührungen zu kribbeln. Als stünden wir unter Strom.

Sachte legte er seine muskulösen Arme um meine Taille und nahm die ledernen Zügel in die Hände. Freudiges Kribbeln überzog meine hochsensiblen Sinne. Lorca so nahe zu sein, lenkte mich auf eine gute Art und Weise von der einschüchternden Realität ab. Es zeigte mir, dass trotz der nicht enden wollenden Hölle immer ein Funken Glück und Hoffnung zu finden war. Man musste nur daran festhalten. Darum kämpfen.

Onkel Tamo ritt gemeinsam mit Mira voraus, während meine Schwester mit ihrem nie lachenden Reitpartner das konzentrierte Schlusslicht bildete. Es war ein langsames Aus-dem-Versteck-kriechen. Etliche Male hob Tamo seinen rechten Arm mit einem Tempo, dass er damit jeden seine Nahkampfgegner k.o. geschlagen hätte. Daraufhin hielten wir immer gespannt die Luft an und lauschten nach auffälligen Geräuschen.

Selbst als wir die stachelige Dornenhecke, oder besser gesagt das gemeingefährliche Dornenfeld, verlassen hatten, ging es nicht recht viel schneller voran. Tamo ließ sich Zeit. Nur warum? Ich dachte, wir hätten noch einen langen Weg vor uns und hatte er nicht vorhin gemeint, dass wir noch in diese wolkenverhangene Nacht in den Tiefen der Erde verschwinden wollten? Noch dazu, wie sollte ein solcher Eingang leicht zugänglich und gleichzeitig unauffällig versteckt für Unwissende und Suchende sein? Egal, wie gut etwas verborgen war, die Wahrscheinlichkeit, dass trotzdem jemand darüber stolpern würde, war dennoch vorhanden.

Ein schriller Pfiff ließ mich hochschrecken. Wir waren nun an den ungeschützteren Waldrand gekommen. Das offenliegende Weideland breitete sich wie eine unheilvolle Masse vor uns aus. Dort würden wir leichte Beute für jeden unserer Gegner sein. Doch auch unsere tödlichen Verfolger würden nicht lange unbemerkt bleiben.

Verwirrt beobachtete ich, wie Tamo und Suna sich mit wilden Gesten und herumwerfenden Armen unterhielten. Es sah mehr nach einem stummen Schauspiel für Kleinkinder aus. Einem unwichtigen Spiel. Doch ich ahnte schon, dass es sich hierbei um viel Wichtigeres handelte. Warum sonst würden sie sich nicht trauen, die Diskussion laut zu führen? Wir hatten also Gesellschaft. Doch woher wussten sie das?

Mit zusammengekniffenen Augen scannte ich die umliegende Umgebung mit all ihren heimtückischen Schatten ab, doch ich konnte keine nahende Bedrohung finden. Nichts deutete auf feindliche Soldaten hin. Kein Schaben von Hufen, kein leises Pfeifen, keine zischenden Befehle, keine bewegenden Schatten. Alles war ruhig. Nicht auffallend ruhig, so als würde die Welt die Luft anhalten für das, was geschehen würde. Nein, es war einfach friedlich.

Melodisches Vogelgezwitscher, trockene Blätter raschelten dort, wo sich ein kleines graues Mäuschen zu verstecken versuchte. Sogar ein rotbraunes Eichhörnchen wagte sich schüchtern den nächsten moosbewachsenen Baumstamm herunter. Schnuppernd nahm es unsere starke Präsenz wahr, stufte uns aber als unbedrohlich ein und wandte sich nun seiner Futtersuche zu.

Vorsichtig stupste ich Lorca mit meinem knochigen Ellbogen in die Seite. Sofort hatte ich seine bedingungslose Aufmerksamkeit. Sogar aus dem Augenwinkel konnte ich die Sorge in seinen funkelnden Augen nicht ignorieren. Irgendetwas stimmte nicht und ich wollte nun endlich auch eingeweiht werden.

„Was ist los?“, formte ich lautlos mit meinen Lippen. Ich hatte schon die Befürchtung, dass er es nicht verstehen würde. Schließlich hatte ich keine Ahnung, wie gut er sich im Lippenlesen schlagen würde. Lorca rückte noch näher an mich heran, was mir schon als ein Ding der Unmöglichkeit erschien. Zwischen uns war definitiv kein Platz mehr gewesen.

„Suna spürt fremde Essenzen auf uns zukommen. Schnell. Wahrscheinlich sind es König Kans Gul.“ Während er sprach, berührten seine weichen Lippen meine empfindliche Ohrmuschel. Ich konnte mich kaum auf seine lautlosen Worte konzentrieren, so sehr lenkte mich seine Nähe vom Hier und Jetzt ab. Ich fühlte, wie sich meine letzten Gehirnzellen verabschiedeten und zu einer trüben Brühe verwandelten.

Ungünstig. Sehr ungünstig. Reiß dich zusammen. Warum mussten meine Hormone auch nur eine solche Gewalt über meinen menschlichen Körper haben? Ich sollte mich konzentrieren. Jetzt.

„Was meinst du mit ‚sie spürt Essenzen‘?“ Angestrengt versuchte ich, meine piepsige Stimme so leise wie möglich zu halten. Es schien mir äußerst unpassend, unnötig Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Schließlich war ich so oder so schon eine schwerwiegende Last in dieser Mission.

Lorca stieß einen Seufzer aus, worin ich direkt die schwere Last von Verantwortung und Verlusten mitschwingen hörte. „Ich schätze, dass auch du spezielle Fähigkeiten hast. Suna, ich weiß nicht, wie ich das verständlich erklären soll, kann die Lebensenergie von jedem einzelnen Menschen spüren. In diese elektrisch geladenen Ströme eingreifen. Am besten, du fragst sie mal selbst danach. Suna kann das weitaus besser erläutern als ich.“

Nach und nach sickerte die Bedeutung seiner Worte in meinen Verstand. Einerseits glaubte ich zu verstehen, was mir Lorca erzählen wollte, andererseits fühlte ich mich wie vom Pferd gestoßen und links liegen gelassen. Es machte irgendwie auf seltsame Art und Weise Sinn, andererseits war es meilenweit entfernt von logisch.

„Was tun wir jetzt?“ Die einzige Frage, die mir gerade nicht zu unkompliziert schien, um sie deutlich in Worte zu fassen.

„Gute Frage. Das versuchen wir gerade herauszufinden. Leider bietet sich uns hier nicht wirklich ein einladendes Versteck, in dem wir ausharren könnten.“ Schützend legte er seinen linken Arm um meinen Bauch und drückte mich komplett an sich. Die ledernen Zügel umklammerte er beinahe schon krampfhaft. Seine rechte Hand wanderte unaufhaltsam an den abgewetzten Griff seines Schwertes. Lorca würde mich beschützen, das stand außer Frage. Auch die anderen unseres kampfbereiten Trupps würden ihr Leben für das meine geben.

Doch was konnte ich tun? Ich wollte nicht nur zusehen. Ich wollte ihnen helfen.

Wildes Geschrei hallte zwischen den blätterlosen Bäumen hervor. Mindestens sieben maskierte Gestalten rasten auf uns zu. Alle bestens bestückt mit den fiesen Schusswaffen aus der Glasscherben Ebene. Gul. Sie sahen genauso aus, wie die, die in den stinkenden Gassen Aroniens Ragnars Leben beendet hatten. Seelenlose Marionetten eines gefühlskalten Königs. Lebende Tötungsmaschinen.

Panische Angst breitete sich in meinem Körper aus. Lähmte mich. Nur die herzzerreißende Erinnerung an Ragnars Tod ließ mich klar und deutlich denken. Wie von der grellen Sonne geblendet, kniff ich meine Augenlider so fest zu, wie es nur möglich war. Ich konzentrierte mich nur mehr auf eines. Keine neuen Verluste.

Lass es einfach zu. Gib ihr Raum zum Atmen. Deine Sinne werden folgen.

Als würde mein Geist, meine Seele, mir zustimmen, begann alles in mir und um mich zu vibrieren. Farben begannen zu leuchten, Pflanzen sich zu verformen, der weiche Untergrund sich aufzulösen und die Luft um uns verdichtete sich zu einem tödlichen Nebel. Es war, als wüsste mein Verstand, was zu tun war. Ich traute mich nicht, die Augen zu öffnen. So nahm ich nur das schmerzerfüllte Geschrei wahr.

Erst als der letzte qualvolle Laut erstickt war, begann ich vorsichtig meine Augen zu öffnen. Was sich mir nun offenbarte, ließ mich meinen Atem anhalten. Alles, was sich mein Kopf noch wenige Sekunden vorher ausgemalt hatte, Farben, Formen, verblasste langsam. Die schwarz gekleideten Gul lagen verrenkt am Boden. Ihre grausigen Masken waren teilweise zur Seite gerückt und gaben einen Einblick auf die schäumenden Münder und rot geäderten Augen. Vergiftet.

Tamo, Lorca und Ellion sahen geschockt auf die leblosen Körper unserer Feinde, während mich Suna nur nachdenklich musterte. Natürlich war mir irgendwie bewusst gewesen, dass ich dieses grausame Schauspiel verursacht hatte, dennoch konnte ich es nicht wirklich glauben. Ich war keine Mörderin. Doch war es nicht genau das, was ich wollte? Ich wollte helfen. Meine Familie beschützen.

„Krass“, kam es plötzlich aus Ellions Mund. Seine aufgeplatzten Lippen formten ein verschmitztes Lächeln als er mir anerkennend zunickte.

„Tja, dann wäre das wohl auch erledigt“, sprach Suna so sachlich wie möglich in die Runde, doch ihre Augen sprachen eine andere Sprache. Mitgefühl. Sie wusste, wie ich mich jetzt gerade fühlte.

Die Leere war kaum aushaltbar. Es fühlte sich an, als hätte diese magische Illusion alle Gefühle aus meinem lebenden Körper herausgesaugt und ließ nun einen füllbaren Raum für Neues über. Als wäre ich ein ausgetrocknetes Stück Erde, das nur darauf warten würde, dass die harte Trockenzeit ein Ende nahm und endlich wieder lebenspendende Wassertropfen mein Angesicht küssen würden.

Suna kam in schnellen Schritten an meine Seite und legte tröstend ihre warme Hand auf meine angespannte Schulter. Ich war ihr unendlich dankbar. Egal, was sie gerade mit mir anstellte, es half. Ein sanftes Vibrieren strömte über ihre Fingerkuppen durch meine staubige Kleidung und schwärmte in meinem gesamten Körper aus. Es erfüllte jede winzige Zelle mit übernatürlicher Energie und löschte die alles schluckende Leere aus.

„Es kann sehr beängstigend sein, zu sehen, was man im Stande ist, zu tun. Doch man gewöhnt sich daran. Lernt damit umzugehen, es zu kontrollieren. Und außerdem hast du jetzt uns. Wir werden dir alle helfen.“ Ich wollte ihr so gern glauben. Nur leider verstörte mich der grausige Anblick der toten Gul in einem so unbeschreiblichen Ausmaß, dass ich glaubte, selbst sterben zu wollen. Nie würde ich jemandem einen derartig schmerzhaften Tod wünschen und nun war ich höchstpersönlich schuld an einem solchen Schauspiel. Wie sollte man mit dieser abartigen Last nur leben können?

„Gib nicht dir die Schuld. Sie hätten uns sonst getötet. Glaube mir, das macht dich nicht zu einem schlechten Menschen“, versuchte mich Lorca nun ebenfalls aus meiner Selbstabscheu herauszuziehen.

Jemand seufzte zutiefst erschöpft hinter uns auf. Doch es war mir egal, wie ich auf sie gerade wirkte. Sollen sie mich ruhig für ein verletzliches kleines Häufchen Elend halten. Ich hatte nie darum gebeten, an kriegerischen Verfolgungen teilzunehmen. Töten entsprach schlichtweg nicht meinem natürlichen Wesen.

Zwei starke Arme griffen nach meinen hängenden Schultern und schüttelten mich kräftig durch. Alles in mir geriet ins Schwanken und wurde wieder neu platziert. Stück für Stück erlangte ich meine verlorene Selbstbeherrschung wieder zurück.

„Reena, jetzt höre mir einmal zu. Es ist mehr als in Ordnung sich danach nicht wohl in seiner eigenen Haut zu fühlen. Töten sollte nie eine Selbstverständlichkeit oder ein Vergnügen werden. Man sollte sich immer bewusst sein, was es heißt, ein Leben auszulöschen. Einer atmenden Seele ihren Körper zu rauben. Dennoch muss das Leben weitergehen. Lass dich nicht davon runterziehen. Lass es dich stärker machen, ein härteres Schutzschuld um dich selbst errichten. Gib dich nicht auf. Es war notwendig.“ Onkel Tamo sah mich wild funkelnd an. Ich fühlte mich so verstanden. Er berührte etwas tief in mir. Reiß dich zusammen! Komm schon! Nickend ließ Tamo von mir ab. Er musste an meiner aufrechteren Haltung erkannt haben, dass ich seine Worte verstanden hatte.

„Geht es wieder?“, fragte der morodekische Fürst nun etwas sachlicher. Wir mussten uns wieder auf unsere Mission konzentrieren.

„Ja, ich glaube schon“, gab ich noch etwas unsicher von mir. Jeder musste das Zittern in meiner piepsigen Stimme vernommen haben, nur waren alle Anwesenden so freundlich, um es geflissentlich zu ignorieren.

 

„Also gut, dann schauen wir mal, dass wir von hier verschwinden. Das werden sicher nicht die Letzten gewesen sein, die uns noch auflauern werden. Reena, kannst du reiten?“ Tamo schwang sich elegant auf den Rücken seines grasenden Pferdes und streckte kurz darauf seine muskulöse Hand nach Mira aus, welche die ganze Zeit schweigend im Hintergrund gestanden hatte.

„Ähm, ja, kann ich.“ Etwas überfordert von allem und jedem, nahm ich Lorcas ausgestreckten Arm entgegen und ließ mich von ihm ebenfalls hochziehen. Gespannt wartete ich auf die Antwort. Was schwebte dem Anführer wohl im Kopf herum?

„Perfekt. Wir werden, wenn alles nach Plan verläuft, zwei bis drei Tage durchreiten und nur für menschliche Bedürfnisse anhalten. Reiter werden abgewechselt und der jeweils andere wird schlafen.“