Buch lesen: «In Your Arms», Seite 2

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Was sonst hätte sie dergestalt eingeschüchtert, denn ihr erster Zungenkuss?

Solchermaßen plötzlich wie ein neuer Donner über den Äther grollte, wurde er sich eines weiteren unglaublichen Details bewusst: Kein anderer Mann vor ihm hatte Liza berührt! Keine anderen Lippen hatten ihre liebkost. Kein anderer Mann hatte Liza jemals angefasst!

Einzig und allein ihm erwies sie die Ehre … einzig und allein bei ihm ließ sie es geschehen. Einzig und allein bei ihm. Bei ihm!

Sein Herz schlug Salti.

Sie ließ es wahrhaftig zu … presste sich abermals fester an ihn!

Hatten das Gewitter, die entfesselten Glücksgefühle und Lizas Lippen bereits den Großteil seines Verstandes hinfortgefegt, tat ihr blumiges Parfum noch das Übrige, um ihn vollends zu betäuben und seine Glut nach ihr ins Unermessliche zu steigern.

Um seinen Kuss intensivieren zu können, vergrub er seine linke Hand in ihrem Nacken.

Er erforschte sie weiter – zögerlich, behutsam, langsam. Ab und an ließ er für einen kurzen Augenblick von ihr ab, aus dem einzigen Grund sie darauf beträchtlich intensiver zu küssen, zu verwöhnen, zu entdecken.

Seufzte sie?

Er war sich nicht sicher – zu laut prasselte der Regen, zu wild schlug sein Herz …

Grundgütiger!

Kein Kuss zuvor hatte sich je solchermaßen schön angefühlt. Keine Berührung zuvor hatte sich solchermaßen verbindend angefühlt. Niemand zuvor hatte ihm solcherlei Emotionen zu entlocken vermocht.

Mit einer jeden verstreichenden Sekunde fühlte er sich freier, erleichterter, glücklicher.

Glücklich.

Wann hatte er dieses Gefühl das letzte Mal empfunden?

Er wusste es nicht mehr. Und es interessierte ihn nicht mehr. Das Einzige, das er begehrte, war der Stillstand der Zeit, damit dieser glückselige Moment niemals mehr ein Ende fand.

Ein nicht zu beschreiben vermögender haarsträubender Donnerschlag entriss ihm kurzerhand diese kostbare Emotion und brachte ihn dazu, brutal zusammenzucken wie nach Mut zu beten.

Weshalb konnte dieses schreckliche Gewitter kein jähes Ende finden? Weshalb musste dies ausgerechnet heute passieren?

Verzweiflung umschlang ihn.

Wenn er Liza nun losließe, würde sie sogleich verschwinden? Würde sie sich von ihm abwenden?

Er wollte sie nicht loslassen … er wollte sie keine Sekunde mehr missen! Zu sehr dürstete ihn, ihre Seele zu kosten, ihre Liebe zu spüren, in ihr Herz zu sehen.

Allmächtiger Gott!

Er begehrte sie mit Haut und Haar …

Der an Heftigkeit zunehmende Wind und die zusehends lauter werdenden Entladungen des Himmels nötigten ihn letztendlich, zögerlich von Lizas zuckersüßen Lippen abzulassen.

»Jan.«

Ihre gepresst-flüsternde Stimme brachte seine Welt erneut ins Wanken.

Sein Name aus ihrem Mund – so zärtlich, scheu, verunsichert – als spräche sie ihn zum ersten Mal aus.

Ein unvorstellbarer Drang, sie wieder an sich zu drücken und weiter zu küssen, raubte ihm schier den Atem.

Schluckend blickte er in ihre mit Tränen gefüllten blauen Augen. So hell sie leuchteten, vollbrachten sie nicht, eine ihm eiskalte Schauer auslösende Verzweiflung zu verbergen.

Was war geschehen?

Lag es an seinem Kuss? Lag es an dem Gewitter? Lag es an seinem Buch?

Hatte er eben den größten Fehler seines Lebens begangen? Hätte er Liza nicht küssen dürfen?

Niederzwingende Verzweiflung vermischt mit Trauer und Panik übermannte ihn – trieb brennende Tränen aus seinem aufgebrachten Inneren hervor.

Hatte er sich mit dieser Tat etwa alles verdorben?

Bei Gott!

Wenn dies tatsächlich der Fall war, was sollte er dann tun?



Kapitel 22 – Keine Kraft mehr


»Ich weiß nicht, wie oft ich dir das noch erklären soll!«

Anna hatte die Arme in die Hüften gestemmt. Die Haare trug sie heute perfektionistisch hochgesteckt. Mit ihren rehbraunen Augen, den einzelnen gewellten ihr ebenmäßiges Gesicht umrahmenden Strähnen, den roten Lippen und den farblich dazu passenden lackierten Fingernägeln wirkte sie wie eine Hollywood-Diva des letzten Jahrhunderts. Und genauso, wie diese mit ihrem Personal umzugehen pflegte, ließ sie mich heute wieder einmal spüren, wie unbedeutend und unfähig ich für das Team war.

»Der Betrag kommt in die rechte Spalte! Bist du echt so bescheuert?« Abgesehen von Annas wutentbrannten Stimme herrschte Totenstille im Büro. Entweder fühlten auch die anderen Kollegen sich eingeschüchtert, oder wollten diese bloß keine Beschimpfung versäumen, um meine Dummheit in der Mittagspause dann nochmals lang und breit durchkauen zu können.

Ich wusste es nicht.

Ich wusste gar nichts mehr.

Ich versuchte lediglich, meine Tränen zurückzuhalten.

»Ich verstehe nicht, wie du diesen Job überhaupt hast erhalten können!«, zeterte sie. »Es gibt so viele fähige Arbeitslose … aber gerade du bekommst eine Chance!«

Verkrampft hielt ich den Blick auf das Kassabuch gerichtet. »Ich habe den Betrag irrtümlich in die falsche Spalte eingetragen.«

Ich wusste, ich hatte einen Fehler begangen. Aber ebenso gut wusste ich, wohin der Betrag gehörte …

»Ja, sicher doch!« Ihre keifend ausgesprochene Entgegnung triefte vor Sarkasmus. »Du weißt ja so gut Bescheid.« Es folgte eine Kunstpause, in welcher sich erbarmungsloser Zorn auf ihre Gesichtszüge ausbreitete. »Versuche erst gar nicht, dich hier mit bescheuerten Aussagen herauszuwinden! Der Fehler ist da. Ich habe ihn selbst gesehen!«

Ich wollte ihn doch ausbessern!

»Ich habe mich geirrt«, versuchte ich verzweifelt zu erklären. »Weil ich eine Zeile weiter oben einen Eingangbetrag –«

»Das interessiert mich einen Scheißdreck!«

Ich zuckte zusammen.

»Es reicht mir! Endgültig! Ich habe lange genug zugesehen. Ich habe mir deine erbärmlichen Ausreden lange genug angehört und dich wieder und wieder korrigiert. Die ganze Zeit habe ich dir geholfen!«

Wie wahnsinnig begann mein Herz zu rasen, infolge dessen ich unwillkürlich nach Luft schnappte.

»Und du?!«, fuhr sie fauchend fort – es jagte mir heiß und kalt den Rücken hinunter. »Du hast nichts anderes zu tun, als deine Dummheit mit billigen Ausreden zu verschleiern!« Eine weitere Pause folgte – eine Pause, in der ich einzig das Rauschen meiner Ohren vernahm. »Ich habe mich die ganze Zeit hinter dich gestellt! Wenn ich unkollegial gewesen wäre, dann hätte ich dem Chef deine katastrophale Arbeit schon vor einem halben Jahr unter die Nase gerieben!«

Verzweiflung, Furcht und Wut schnürten mir die Kehle zu.

Ja, ich hatte Fehler gemacht … ein paar dumme Fehler – aber konnten diese nicht meine gesamte Arbeit schlechtmachen!

Zögerlich suchte ich ihre Augen.

Sie funkelten wie die eines Dämons.

»Was siehst du mich so an?!« Wie immer machte sie keinen Hehl daraus, ihre enorme Abneigung gegen mich durch abschätzige Blicke zum Ausdruck zu bringen. »Willst du mir neue Ausreden vorkauen?! Glaubst du echt, irgendjemand hier –« Sie vollführte eine ausladende Geste mit den Armen. »Kauft dir das noch ab?!«

Ausreden … Stets sprach sie von Ausreden … Wann hatte ich jemals eine Ausrede benutzt? Und warum schrie sie mich andauernd an? Ich hatte nie mit ihr geschrien! Nie! Kein einziges Mal!

Meine Wut wuchs an – sie kribbelte in meinem Bauch, beschleunigte meine Atmung, verspannte meine Muskeln.

Und dann passierte es.

»Ich wollte diesen Posten nie haben!«, kam es schneller über meine Lippen, als ich nachzudenken in der Lage war. »Ursprünglich war ich für die Buchhaltung nicht vorgesehen gewesen!«

Jetzt war es raus.

Das erste Mal hatte ich meine Meinung offen ausgesprochen.

Doch gleichermaßen schnell, wie Erleichterung sich in mir erhob, wurde diese von Panik verdrängt – ausgelöst durch Annas Make-up beladenes Gesicht, welches sich zu einer wutentbrannten hässlichen Fratze verzog.

»Ach ja?!« Ihre Stimme überschlug sich regelrecht – und mir krampfte es den Magen zusammen.

Langsam beugte sie sich zu mir – wie ein Raubtier, das kurz davor stand, seine Beute zu erlegen. »Du machst einen fürchterlichen Job und dann besitzt du noch die Frechheit, so undankbar zu sein?! In einer anderen Firma hätte man dich längst rausgeschmissen!«

Gänsehaut jagte mir über den Körper, meine Ohren schmerzten und mein Herz fühlte sich an, jede Sekunde zerreißen zu wollen.

»Saskia hat –«

Mit einer aggressiven Handgeste brachte sie mich zum Schweigen. »Willst du jetzt noch Saskia unterstellen, dass sie dir deinen Job weggenommen hat?« Sie drehte sich zu unseren Kollegen um. »Hört ihr das?«

Niemand von den Angestellten gab einen Laut von sich, wodurch Anna sich offenbar darin bestärkt fühlte, mit ihrer Schimpftirade fortzufahren.

»Lisa meint, Saskia wäre schuld, dass sie nicht zurechtkommt! Kann man sich das vorstellen?!« Damit wandte sie sich wieder mir zu. »Das ist so typisch! Weißt du das überhaupt?« Ein verächtliches Schnauben folgte. »Nein … natürlich nicht! Du bist ja viel zu blöd!« Das letzte Wort betonte sie eine beträchtliche Spur lauter. »Aber weil ich so nett bin, erkläre ich es dir trotzdem: Nur Versager suchen die Schuld bei anderen! Und du bist der größte Versager überhaupt!«

In meinen Wangen begann es ähnlich zu kribbeln wie in meinem Magen.

»Ich wollte den Fehler ausbessern!«

»Du wolltest gar nichts!«

»Aber –«

»Widersprich mir nicht!« Ihre rasiermesserscharfe Stimmlage zerschnitt mein Aufbegehren in tausend kleine Stücke.

Doch unerheblich wie groß meine Furcht anmutete – ich wollte nicht mehr klein beigeben. Ich wollte mich nicht mehr unterdrücken lassen! Ich wollte meinen Standpunkt erklären!

Eben war ich dabei weitere Argumente aufzubringen, da flackerte etwas Monströses über Annas Gesichtszüge – eine Gefühlsregung, welche ich in der Form noch nie zuvor bei irgendeinem Menschen erlebt hatte. Und obgleich diese Emotion beinahe nicht erkennbar war, spürte ich sie mit einer brachialen mir kurzzeitig den Atem raubenden Intensität. Sie entfesselte mir grauenhafte Adrenalinschübe, welche wie spitze Nadeln durch meine Adern brausten. Dies wiederum brachte meine Muskeln dazu, sich schmerzlich zusammenzuziehen.

Es klang verrückt, aber in dem Moment vermittelte Anna den Eindruck, unmittelbar davor zu stehen, die Beherrschung zu verlieren und sich auf mich stürzen zu wollen.

»Verdammt noch einmal!« Sie hatte diesen Fluch noch nicht gänzlich ausgesprochen, riss sie mir das Kassabuch bereits unter den Händen weg.

Es geschah derart schnell, für eine unbestimmte Zeit vermochte ich einzig stocksteif dazusitzen und meine Kollegin stumm anzustarren.

Ihre verengten Augen musterten mich voller Abscheu, Ekel und Hass. »Ich melde das jetzt dem Chef!«

Der zischende Klang … er drang in meine Seele, zerquetschte sie, zerschnitt sie, zerriss sie …

»Dann kannst du deine bescheuerten Meldungen ihm vorjammern!« Das dicke Kassabuch in ihrer rechten Hand begann sich zu verbiegen – dergestalt fest hielt sie es. »Ich tue mir das nicht mehr an!« Diese Äußerung knurrend ausgespuckt drehte sie sich um und stöckelte aus dem Büro.

Alsbald die Tür mit einem Knall in ihre Angeln fiel, zuckte ich zusammen.

Adrenalin vermengte sich mit Panik und Scham, schlugen mir in den Magen, knetete meine Innereien einmal kräftig durch.

Übelkeit und eine Eiseskälte brachen über mich herein.

Zitternd fasste ich nach der Maus und wandte mich dem Bildschirm zu.

Nun war es so weit …

Ich würde meine Arbeit verlieren, etwas später dann die Wohnung – und letztlich müsste ich zu meinen Eltern ziehen …

Und das aus dem einzigen Grund, weil ich mich einmal zur Wehr gesetzt hatte!

Für den Moment eines Wimpernschlags schaute ich zu meinen Kollegen.

Ihre mich musternden Augen sprachen genug: Anna hatte recht. Ich war das schwächste Glied in dieser Kette … und eine Kette war bekanntermaßen nur so stark wie das schwächste Glied.

Ich war eine Bürde.

Ich war unfähig.

Wozu war ich überhaupt auf der Welt?

Das Zittern in den Händen zu unterdrücken versuchend zwang ich mich, die Mails durchzuchecken. Gleichgültig meiner Bemühung gelang es mir nicht, eine einzige Nachricht sinngemäß zu erfassen geschweige denn sie abzuarbeiten.

Diese meine Eingeweide zusammenziehende Furcht lähmte mich.

Ich durfte meine Arbeit nicht verlieren!

Was würden meine Eltern von mir denken? Was würde das Arbeitsmarktservice von mir halten? Immerhin hatte ich diese Stelle allein durch deren Hilfe bekommen!

Ein eiskalter Stich durchfuhr mich – ausgelöst durch eine neue Gewissheit.

Wenn der Chef mich fristlos entließe, würde mein Arbeitslosengeld für den ersten Monat gesperrt sein!

O mein Gott!

Damit wäre alles aus. Einfach alles.

Um meiner hochzüngelnden Verzweiflung wenigstens teilweise Einhalt zu gebieten, trank ich einen Schluck Wasser.

Ich musste mich zusammenreißen. Brach ich in Tränen aus, hätte ich mich bestenfalls erneut der Lächerlichkeit preisgegeben.

Geholfen jedoch hätte es mir nicht.

Lautlos atmete ich tief durch.

Es dauerte einige Minuten, bis mein Körper sich etwas beruhigte und ich meine Arbeit langsam wieder aufnehmen konnte.

Unvermittelt wurde die Tür aufgerissen – und meine ohnedies schreckliche Lage wurde durch eine weitaus schrecklichere ersetzt.

Ein schadenfrohes Grinsen im Gesicht tragend trat Anna ins Büro. Mit einem jeden ihrer selbstsicheren auf mich zugehenden Schritte beschleunigten sich mein Puls wie meine Atmung. Dazu gesellte sich ein bitterer Geschmack in meinem Mund und ein stechender mir den Verstand blockierender Kopfschmerz.

»Du sollst zum Chef.« Sie klang gefasst, ja regelrecht glücklich. »Er hat mit dir ein ernstes Wörtchen zu reden.«

Nicht vorhanden Speichel schluckend erhob ich mich.

Meine Knie bebten, mein Kopf fühlte sich seltsam kalt an.

»Viel Spaß.«

Ich konnte ihre Stimmlage nicht mehr recht beurteilen – zu sehr musste ich mich darauf konzentrieren, das Gleichgewicht zu halten, um nicht zu Boden zu stürzen.

Die anprangernden Blicke der Kollegen im Rücken spürend verließ ich das Zimmer.

Was dachten sie von mir?

Aber weitaus wichtiger: Was würde nun folgen?

Verlor ich meinen Job? Verlor ich meine Zukunft? War ich denn für wirklich gar nichts zu gebrauchen?

Während ich unbeholfen durch den langen Gang stakste, glitt mein Blick über die zahllosen undefinierbaren an beiden Seiten hängenden Kunstdrucke. Ein Urteil über sie fällen gelang mir allerdings nicht, befand mein Verstand sich nach wie vor in einer Art Schockzustand. Selbst mein Sehsinn mutete leicht durcheinander an, den dunklen flackernden Flecken nach zu urteilen, welche da vor meinem Blickfeld umher tanzten.

Mein Leib stetig heftiger erbebend öffnete ich die Glastür, welche Vorraum und Chefbüro miteinander verband.

Erst zweimal hatte ich Herrn Urbans Büro betreten: das erste Mal aufgrund des Vorstellungsgespräches und das zweite Mal aufgrund des Einstellungsgespräches.

Der Raum hatte mir nie sonderlich gut gefallen. Die grauen Marmorfliesen, der kolossale asymmetrische Bürotisch aus Glas und die überwiegend in Schwarz und Chrom gehaltenen Einrichtungsgegenstände erweckten den Eindruck von Gefühllosigkeit und berechnender Kälte. Da halfen selbst die hohen Fenster nichts, durch welche die Örtlichkeit von früh bis spät von sanftem Licht durchflutet wurde.

Mit derselben nackenhaaraufstellenden Ausstrahlung wie das Mobiliar saß Herr Urban auf seinem gewaltigen Lederchefsessel, dessen beißender Geruch mir in der Nase brannte.

Ein nachtschwarzes Hemd, darüber ein anthrazitfarbenes Jackett und eine silberne Krawatte verliehen Herrn Urban eine autoritäre wie professionell-elegante Ausstrahlung. Selbstsicher hielt er einen silber-schwarzen Kugelschreiber in der linken Hand, während er aufmerksam einen Brief las.

»Sie wollten mich sprechen«, sagte ich nach einigem Zögern und trat ein. Ich versuchte, gefestigt zu klingen. Zu meinem Leidwesen funktionierte dies nicht einmal annähernd, wie von mir gewollt.

Er hob den Blick an.

Das dunkelbraune zu einem lockeren Seitenscheitel gekämmte Haar glänzte im Licht der kleinen Deckenspots.

»Frau Findinger hat sich bei mir beschwert.«

Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Demgemäß sagte ich einmal gar nichts.

Mit triefender Selbstgefälligkeit lehnte er sich zurück. Das Knarzen des Ledersessels bezeugte dabei gleichermaßen von Reichtum wie seine chromfarbene große Uhr, welche selbstgefällig unter seinem Hemdärmel hervor blitzte.

»Hätten Sie die Güte, mir zu erklären, was zwischen Ihnen und Frau Findinger vorgefallen ist?« In seiner Äußerung schwang derselbe gereizte Ton, mit welchem ich stets von meinen Mitmenschen bestraft wurde, wenn ich nicht schnell genug reagierte.

»Ich habe einen Fehler gemacht«, gab ich verunsichert zurück. »Den ich allerdings selbst ausgebessert habe.«

Er wölbte eine Braue. »Und sonst?«

Ich verstand nicht, worauf er hinauswollte.

Ein theatralisches Seufzen drang aus seiner Kehle. »Entweder hat Frau Findinger heillos übertrieben.« Es folgte eine Kunstpause, in welcher er mich ungleich abschätziger musterte. »Oder aber Sie, Frau Hirter, bagatellisieren.«

Seine Stimmlage deutete unverkennbar Letzteres an.

»Ich verstehe nicht –«

»Sie waren es doch, die meinte, Frau Kaufmann hätte Ihnen Ihren Posten weggenommen. Oder liege ich da falsch?«

Mir wurde es eine Spur kälter.

»Das stimmt«, gab ich zu. Das Zittern in meiner Stimme versuchte ich erst gar nicht mehr zu unterdrücken. Nun ging es einzig darum, nicht in Tränen auszubrechen.

»Frau Kaufmann hat sich in der Datenverarbeitung und Rechnungslegung äußerst bewährt. Sie ist ein unschätzbarer Teil dieses Teams.« Seine Augen nahmen einen funkelnden Ausdruck an. »Sie, meine Gute, haben sich jedoch kein einziges Mal bewiesen.« Wort zu Wort wurde seine Aussprache härter, beißender, kälter. »Und solange Sie sich nicht beweisen, verbiete ich mir derlei abschätzige Töne von einer drittklassigen Mitarbeiterin!«

Mein Herz zerriss. Meine Seele starb. Mein letzter Funken Lebenswille wurde vernichtet.

»Einen zweiten Fehltritt ihrerseits«, fuhr Herr Urban kühl fort. »Dulde ich nicht. Entweder passen Sie sich meinem Team an und bringen endlich Leistung oder ich muss Sie entlassen.« Es folgte eine weitere Pause, in welcher mich ein leichter Schwindel erfasste. »Das liegt ganz bei Ihnen.«

Gänsehaut jagte mir über den Rücken bis in den Hintern.

»Ja.«

Hatte ich das gesagt?

Hatte ich tatsächlich die Kraft aufgebracht, etwas zu erwidern?

Mein Verstand leer gefegt drehte ich mich um und ging los.

Ehe ich die Tür des Büros hinter mir zumachte, hörte ich Herrn Urban nachrufen: »Übermäßiges Selbstvertrauen macht noch lange keinen guten Mitarbeiter aus.«

Es war, als zöge jemand mir den Boden unter den Füßen weg.

Wo hatte ich Selbstvertrauen?

Einen mittlerweile schmerzhaft angewachsenen Kloß im Hals hinunterschlucken versuchend, eilte ich ins WC. Keine Sekunde, nachdem ich mich in die hinterste Toilette eingesperrt hatte, ließ ich meinen Tränen freien Lauf.

Ich konnte nicht mehr.

Ich konnte einfach nicht mehr.

Wozu war ich auf der Welt? Wozu tat ich mir dies alles an? Ich war ohnehin für nichts und niemanden zu gebrauchen! Ich war eine einzige Bürde!

Von Weinkrämpfen durchgeschüttelt lehnte ich mich an die kalte Fliesenwand. Diese beißenden Seelenschmerzen umschlangen mich, ließen mich hoffnungslos nach Luft japsen. Eine unsichtbare Hand schien gegen meinen Brustkorb zu drücken – raubte mir Kraft und Willen.

Ich wollte nicht mehr.

Ich wollte einfach nicht mehr.

Konnte ich nicht tot umfallen?

Es wäre viel leichter … so viel leichter. So einfach. Einfach umfallen. Wäre das möglich? Konnte das bitte möglich sein?

Bitte … bringt jemand mich doch einfach um …

Irgendwann versiegten meine Tränen.

In meiner Seele eine schwere Leere innewohnend trat ich zum Waschbecken, drehte das Wasser auf und wusch mir das Gesicht. Während ich mich mit Papierhandtüchern abtrocknete, breitete eine eigenartige kalte Leichtigkeit sich in mir aus. Sie startete in meinem Herzen und fand in meinem Kopf ein jähes Ende.

Ich blickte in den Spiegel.

Das erste Mal war ich dankbar für meine Schminkfaulheit. Dadurch brauchte ich mich wenigstens nicht um verschmierte Wimperntusche zu sorgen.

Andererseits hätte in dieser Situation ein wenig Make-up nicht geschadet …

Ich sah unwahrscheinlich blass aus. Selbst meinen Lippen waren sämtliche Farben abhandengekommen.

Ich verscheuchte den Gedanken.

Was tat es schon zur Sache, wie ich aussah? Schließlich interessierte sich sowieso niemand für mich.

Nachdem ich dreimal tief ein- und ausgeatmet hatte, machte ich mich auf den Weg zurück ins Büro. Dabei erhaschte ich einen Blick auf die große Wanduhr im Foyer.

14:15 Uhr.

In fünfzehn Minuten endete meine Schicht.

Gut.

Ich trat in den Dienstraum, versuchte, die mich anstarrenden Kollegen sowie Annas und Saskias Grinsen zu ignorieren, und setzte mich an meinen Tisch.

Wann war Saskia zurückgekommen?

Üblichweise arbeitete sie freitags auf der anderen Gebäudeseite.

»Und? Wird Saskia jetzt rausgeworfen«, zog Annas sarkastisch klingende Frage mich aus meinen Überlegungen. »Damit das dumme Prinzesschen die Wunschstelle erhält?«

Anstatt zu reagieren, sah ich aus dem Fenster.

Der Himmel zeigte dunkelgraue Wolken … Sturm und Blitze.

Das hatte mir gefehlt!

Da mein Wagen bezüglich eines Loches im Endtopf in der Werkstätte stand, darüber hinaus kein Leihwagen zur Verfügung gewesen war, war ich heute zu Fuß unterwegs.

Natürlich konnte ich mir ein Taxi rufen – unglücklicherweise riss die Reparatur ein gewaltiges Loch in meine Rücklagen, wodurch mir gar nichts anderes übrig blieb, denn auf sämtliche unnötigen Bequemlichkeiten zu verzichten und eisern zu sparen.

»Du machst das genau richtig, Kitty«, vernahm ich Saskias Kratzstimme.

Irgendwie gelange es mir, mich davon abzuhalten, mich zu ihr zu drehen.

»Den Mund halten, meine ich.«

»Ein Wunder, dass sie wenigstens das hinkriegt«, flötete Anna. »Aber Dumme brauchen bekanntlich immer etwas länger, bis sie verstehen.«

»Da hilft manchmal wohl nur die Holzhackermethode!«

Darauf folgte ein lautes, mir Tränen in die Augen treibendes Lachen.

Eigenartigerweise fühlte ich dennoch nahezu keinen Schmerz mehr.

Hatte ich es endlich geschafft und meine Empfindsamkeit überwunden? Wurde ich härter? Hatten Herrn Urbans Äußerungen mir Heilung gebracht?

Als es schließlich 14:30 Uhr geworden war, fasste ich nach meiner Tasche und verließ das Büro, ohne irgendjemandem anzusehen oder mich zu verabschieden. Vor der Eingangstür zum Foyer griff ich nach meinem geliebten Regenschirm, welchen ich heute Morgen – Gott sei Dank – vorsichtshalber mitgenommen hatte.

Ich trat hinaus, spannte ihn auf und machte mich sodann auf den Weg.

Der Sturm pfiff erbarmungslos. Regentropfen prasselten dermaßen heftig auf den durchsichtigen Schirm, es mutete an, sie wollten versuchen, das dünne Plastik zu zerreißen.

Soviel mir in dem sintflutartigen Regenschauer noch zu erkennen gelang, brachten Passanten sich unter Vorsprüngen, Dächern oder in Geschäften in Sicherheit.

Ich blickte gen Himmel.

Der Regen würde sicherlich länger andauern. Mindestens das Wochenende lang. Dies bestätigten die Form der Wolken und die Richtung, aus welcher der Wind wehte.

Nun … mir war es recht.

Ob es regnete oder die Sonne schien, ich konnte nicht viel unternehmen.

Was sollte ich alleine auch großartig machen? Was sollte ich überhaupt noch machen? Schließlich war ich ein Versager!

Ein Versager brauchte keine Freizeit. Ein Versager hatte keine schönen Momente verdient.

Ein Versager blieb alleine.

Dieses meine Lungen zusammendrückende Gefühl tauchte jählings wieder auf, lenkte meine Gedanken in eine andere Richtung – in die Vergangenheit. In eine Zeit, welche gefüllt war mit Hoffnung und den Glauben an eine schöne Zukunft.

Ich hatte längst alles getan, was ein Single in seiner Freizeit unternehmen konnte: Schiffsausflüge, Wanderungen, auswärts Essen gehen, Kino … Stets mit demselben Ergebnis: Ich lernte niemanden kennen.

Kein Wunder!

Jetzt wusste ich, weshalb: Ich war ein Idiot. Ich war ein unfähiger Teil der Gesellschaft – eine Bürde. Man benötigte mich nicht.

Ich war ein Freak. Jemand, der nichts zuwege brachte. Ein Außenseiter.

Ungeküsst.

Unverstanden.

Ungeliebt.

Bestimmt erkannten fremde Männer dies bereits, wenn sie mir ins Gesicht blickten. Darum hielten sie stetigen Abstand. Darum sprachen sie nicht mit mir! Da konnte ich noch so hübsche Kleider tragen, mir noch so teure Unterwäsche kaufen … nichts davon würde jemals genügen.

Jetzt wusste ich es.

Endlich.

Es fühlte sich geradezu erleichternd an.

Du musst dich nur hübsch herrichten, dann wirst du schon jemanden kennenlernen.

Ein bisschen mehr Schminke und ein kurzes Kleid – nur das zieht bei Männern!

Du musst freundlich sein! Lächle und tue das, was andere sagen, sonst mögen sie dich nicht.

Du musst schon ausstrahlen, dass du eine Beziehung eingehen willst! Wenn du so verklemmt wirkst, wird das nie was!

Mit Kopfschütteln versuchte ich die Erinnerungen zu verscheuchen.

Es war zu Ende.

Ich brauchte nicht mehr darüber nachzugrübeln, was ich falsch gemacht hatte.

Ich war ein Idiot.

Darum hatte es mir nichts gebracht, meinen Kleiderschrank auszumisten. Darum hatte es nichts gebracht, freundlich zu sein. Deshalb hatte – unerheblich wie sehr ich es wollte – niemals irgendetwas im Entferntesten funktioniert.

Ich atmete die von Feuchtigkeit und den Asphaltgeruch erfüllte warme Luft ein.

Dieses Wochenende würde ich auf dieselbe Weise verbringen, wie ich ein jedes verbrachte: Ich würde Fern sehen … und das Buch weiterlesen.

Jans Liebesroman.

Mein Herz zog sich zusammen.

Jan …

Für einen ganz besonderen Menschen.

Unzählige Male hatte ich darüber nachgedacht, ihn anzurufen. Unzählige Male wollte ich ihm schreiben – am liebsten sofort zu ihm fahren …

Letztlich getraute ich mich nicht. Zu groß waren meine Bedenken, einem stirnrunzelnden Jan begegnen zu müssen, der nicht verstand, weshalb ich ihm einen Besuch abstattete … erfahren zu müssen, dass er rein gar nichts mit dem Buch zu schaffen hatte …

Denn seien wir uns ehrlich: Lediglich, weil Jan denselben Vornamen trug wie der Autor des Buchs, bedeutete dies lange nicht, dass er es auch tatsächlich war!

Zu oft hatte ich mich getäuscht. Zu oft hatte ich angenommen, von jemandem gemocht zu werden … mir zu oft eingebildet, akzeptiert zu werden …

Viel zu oft.

Ab heute war endgültig Schluss damit!

Keine Träume mehr, keine Einbildungen mehr, keine Wünsche mehr!

Ich hatte es verstanden. Ja, ich hatte verstanden. Man musste mich nicht weiterquälen.

Es war gut.

Für einen ganz besonderen Menschen …

Und selbst wenn Jan den Roman geschrieben hatte, stellte seine Nachricht noch lange keinen Liebes- oder Freundschaftsbeweis dar …

Der Hauptgrund jedoch, welcher mich bislang von einer Kontaktaufnahme abgehalten hatte, war die Tatsache das Buch noch nicht fertig gelesen zu haben.

Wie hätte es ausgesehen, wenn ich zu ihm getreten wäre und gesagt hätte: »Ich bin hier. Das Buch habe ich aber noch nicht durch.«

Nein.

Erst das Buch … dann konnte ich weiterschauen, ob oder wie ich mich mit ihm in Verbindung setzte.

Die schillernden Pflastersteine unter meinen Füßen brachten meine Gedanken zurück ins Hier und Jetzt.

Normalerweise mochte ich das Geräusch der klackenden Schuhabsätze, wenn ich über die Jahrhunderte alten Marmorblöcke meines Lieblingsplatzes marschierte: eine rechteckig angelegte von dutzenden Geschäften umsäumte Lokalität inmitten der Klagenfurter Innenstadt.

Heute fühlte ich nichts.

Vielleicht beim nächsten Mal …

Ich nahm den Ort etwas genauer in Augenschein.

Obgleich es nach wie vor wie wahnsinnig schüttete, waren mittlerweile bedeutend mehr Menschen unterwegs, welche mit Schirmen oder Regenjacken gegen den Wind ankämpften und ihre Einkäufe erledigten.

Arm in Arm und glücklich strahlende durch die allmählich zu Seen angewachsenen Pfützen watende Pensionisten, sich küssende und aneinanderschmiegende junge Pärchen …

Eine auftretende Einsamkeit trieb mir Tränen in die Augen.

Weshalb … Weshalb konnte in meiner Wohnung kein mich liebender Partner auf mich warten? Und weshalb zog meine Seele sich plötzlich erneut zusammen? Eben erst hatte ich mich viel leichter gefühlt …

Ein jacher, schmerzhafter meine Beine zum Stehenbleiben nötigender Adrenalinausstoß verdrängte sämtliches Grübeln.

Völlig verloren stand er da.

Keine zehn Meter von mir entfernt.

Ein junger Mann – gnadenlos peitschte der Regen gegen seine zierliche Gestalt, Wind riss an seinen durchnässten Kleidern, goldene Haare hingen ihm schwer in das verzweifelt aussehende Gesicht.

Schluckend verstärkte ich den Griff, mit welchem ich den Schirm festhielt.

Konnte das …

War das etwa Jan?

Er setzte sich in Bewegung – geradewegs ging er auf mich zu.

Mit einem jeden näherkommenden Schritt schlug mein Herz ein wenig schneller …

Und plötzlich stand er vor mir.

Hellgrüne Augen … schmale Lippen … eine feminine Nase … zierliche Gesichtszüge

Himmel!

Er war es.

Jan.

Wunderschöner Jan.

Er stand wahrlich hier vor mir – als hätte meine Sehnsucht ihn hervorgebracht.

Aber weshalb? Weshalb war er hier? Was –

Mein Blick huschte über seinen Körper.

Mein Gott!

Sein weißes Hemd …

Es war nicht mehr weiß … die kalte Nässe hatte es durchsichtig gemacht, gewährte mir eine scheue Sicht auf seinen schlanken festen Oberkörper.

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