Buch lesen: «In Your Arms», Seite 5

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»Aber nicht nur deshalb.« In Vaters Stimme lag eine sanfte Strenge, welche ich in dieser Form äußerst selten vernommen hatte. Sein mit Argwohn gesättigter Blick schwenkte zu Jan zurück. »Du bist also mit meiner Tochter zusammen.«

Damit ging das Verhör wohl los.

Jan erbebte. Ich verstärkte meinen Händedruck und legte meine zweite Hand auf die seinige sich sekündlich kälter anfühlende.

»Ja«, drang es belegt aus Jans Mund. »Ich … ich …« Schluckend fasste er nach seinem Wasserglas und schob es auf der rosa-weiß geblümten Tischdecke hin und her. »Ich … nun … Ich weiß nicht, was ich sagen soll –«

Am liebsten wollte ich Jan an mich drücken, ihm gut zureden, mit ihm wegrennen oder noch besser: mich augenblicklich mit ihm wegbeamen …

»Was machst du derzeit beruflich? Was hast du gelernt? Wo hast du überall gearbeitet?« Papa war nicht eben mit einem fröhlichen Gesichtsausdruck gesegnet – heute allerdings hätte er selbst einem Peter Capaldi Konkurrenz gemacht.

Meine Seelenhälfte regelrecht durchbohrend lehnte Papa sich ein Stück zu uns. »Und das Allerwichtigste: Kannst du meiner Tochter überhaupt etwas bieten?«

Gut …

Seine Sorge um mich in allen Ehren, aber das war definitiv zu viel des Guten!

»Du klingst ja wie ein Ankläger«, verteidigte ich. »Jan ist kein schlechter Mensch. Es ist nicht nötig, dermaßen heftig zu reagieren.«

Papas Pupillen glitten zu mir. »Dann kann er mir diese Fragen doch einfach beantworten.«

Ehe ich etwas dagegensetzen konnte, hatte meine Mutter sich eingeschaltet. »Liza hat recht. Du solltest dich ein wenig zusammennehmen. Sie ist nicht dumm. Sie weiß, wer ihr guttut und wer nicht.«

»Daran habe ich keine Zweifel.« Er lenkte seine Aufmerksamkeit zurück auf Jan. »Aber du wirst bestimmt verstehen, dass ich es niemals zulassen werde, dass du meiner Tochter wehtust. Sie hat genügend Schmerzen erlitten. Wenn ich also merke, dass es dir nicht ernst ist, wirst du dein blaues Wunder erleben.«

Mich lähmende Emotionen überschwemmten meinen Leib, brachten meine Gedanken und mein Herz zum Rasen.

Woher –

»Die Worte meines Mannes klingen im ersten Moment vielleicht hart«, fuhr meine Mutter sogleich und im besänftigenden Tonfall an Jan gerichtet fort. »Nichtsdestotrotz stimme ich ihm voll und ganz zu.« In einer für mich unvertrauten Weise faltete sie die auf dem Tisch liegenden Hände. »Damit du uns nicht falsch verstehst – wir wollen dich nicht vergraulen, verletzen oder aus dem Haus jagen. Das Einzige, was wir wollen, ist, Liza glücklich sehen. Du musst wissen: Seit ihrer frühesten Kindheit weg, hat sie schreckliche Dinge erlebt. Für die unbedeutendsten Kleinigkeiten hat sie hart gekämpft … sie aber trotzdem nicht erreicht. Jahrelang hat sie gelitten. Diese Zeit hätte sie beinahe zerstört.« Kummer huschte über Mamas Gesicht. »Liza hat es verdient, glücklich und geliebt zu werden. Wenn es dir mit ihr also nicht wirklich ernst ist, dann sag ihr das. Sei ehrlich zu ihr. Verletze sie nicht auf dieselbe Art, wie andere sie verletzt haben. Das würde sie nicht mehr verkraften.«

Ich würgte einen schmerzhaft anwachsenden Kloß hinunter.

Woher hatten meine Eltern über meinen labilen Gemütszustand Bescheid gewusst?

Gut, das Gespräch im Frühling hatte natürlich einiges ausgesagt. Dennoch war ich mir stets sicher gewesen, meinen größten Schmerz gut genug verheimlicht zu haben.

»Mein Leben lang –«, fing Jan nach einiger Zeit und den Blick auf meine Mutter gerichtet zu sprechen an. »Träumte ich von einer unberührten ungeküssten Schönheit, welche noch die Magie des Augenblicks zu erkennen vermag. Eine Frau mit ähnlichen Interessen wie den meinen, denselben Prioritäten und Wertvorstellungen. Eine Frau – lieblich, stark, schüchtern, rational, verträumt, sensibel … Ich träumte von Liza.« Für einen Moment wandte er sich mir zu – und mein Herz setzte ob des heftigen durch seine über und über mit Liebe gefüllten Augen hervorgerufenen Adrenalinausstoßes kurzzeitig aus. Dazu beschenkte er mich mit einem aus einziger Dankbarkeit bestehenden Lächeln, ehe er sich meinem Vater zudrehte. »Liza ist meine Seelenhälfte. Es gibt nichts, das ich für sie nicht tun würde.« Seine sanfte wie gefestigte Stimme entlockte mir einen wohltuenden Schauer. »Als ich das erste Mal in ihre wunderschönen Augen und in weiterer Folge in ihre reine Seele blicken durfte, wusste ich: Sie ist es. Sie ist diejenige welche. Diejenige, welche ich mein Leben lang suchte – meine absolute Traumfrau. Ich liebe sie. Ich begehre sie. Bedingungslos.«

Abertausende Schmetterlinge stoben durch mein Gedärm, brachten mein Gesicht zum Glühen und meinen Verstand zum Erliegen.

Nicht wissend, wie ich reagieren oder was ich entgegnen sollte, beobachtete ich, wie Papa anerkennend nickte und Mamas Lippen ein stolzes Lächeln formten.

»Nichts anderes wollte ich hören.« Merklich entspannter trank mein Vater einen Schluck Kaffee. »Und jetzt erzähl uns doch einmal was du gelernt hast.«

Jan nickte. »Ich habe die fünfjährige Handelsakademie besucht, mit dem Schwerpunkt Finanz- und Risikomanagement. Danach wollte ich für einen weltweit agierenden Finanzdienstleister arbeiten.« Ein mir einen zagen Stich ins Herz jagender Schatten legte sich auf Jans elysisches Gesicht. »Unseligerweise bestand ich die Aufnahmeprüfung nicht …« Sichtlich bedrückt besah er das Wasserglas vor sich. »Es ging um Psychologie. Ich sollte den Charakter eines Kunden einschätzen.« Für den Bruchteil einer Sekunde schien er zu zögern. »Es ging im Groben darum, herauszufinden, ob der Kunde kredittauglich sei – also, ob das Start-up-Unternehmen, für welches der Mann den Kredit verwenden wollte, genügend Gewinn abwerfen würde, um die nächsten zehn Jahre zu überdauern. Da ich den Mann vollkommen falsch einschätzte, fiel ich noch während der ersten Bewerbungsrunde durch.«

Ausgerechnet Jan! Wo er sich üblicherweise derart leichttat, sich in andere Menschen hineinzuversetzen!

Damit war restlos geklärt, weshalb er sich solchermaßen gefürchtet hatte, mich falsch einzuschätzen …

»Darüber hast du mir kein einziges Wort erzählt.« Liebevoll streichelte ich ihm über den Handrücken. »Passierte dies, bevor du dein Buch schriebst?«

Meine Seelenhälfte bejahte. »Die Einladung zum Bewerbungstest erhielt ich drei Monate nach Beendigung der Schule.«

»Du hast ein Buch geschrieben?« Mamas neugieriger Tonfall nötigte mich, mich von Jans Anblick loszureißen und in ihr strahlendes Gesicht zu schauen. »Erzähl uns davon.«

Jan blickte zwischen mir und Letztgenannter hin und her. »Ich … nun … ja.« Räuspernd hob er das Glas an und trank einen Schluck. »Bereits seit meiner Kindheit wollte ich einen Roman schreiben.« Behutsam, wie alleine er dies vermochte, stellte er das Glas zurück. »Bloß wusste ich nie, wie ich dies genau anstellen sollte. Weder fielen mir interessante ausbaufähige Plots ein, noch besaß ich die nötige Geduld, geschweige denn den Mut, mich an die Tastatur zu setzen und anzufangen.« Nahezu unmerklich zuckte er die Achseln. »Als ich jedoch den Aufnahmetest vergeigte, zudem nicht das Geld für ein Studium besaß, und darüber hinaus einige Wochen später weitere Absagen erhielt, nahm ich dies zum Anlass, um mit meinem Buch zu beginnen. Ich war ohnehin arbeitslos, nutzlos, alleine – warum also nicht an einem Buch arbeiten?« Ausgelöst durch ungemeine ihn übermannende Nervosität fuhr er sich durchs Haar.

Mein Herz begann hart zu pumpen.

Ich war mir über seine hochquellenden Seelenschmerzen ausgelöst durch Erinnerungen an Janina, den Buchflop sowie die darauffolgenden Jahre der Einsamkeit nur allzu gut bewusst. Und es schmerzte mir ungemein in der Seele, Jan dermaßen leiden zu sehen – ein Leid, welches niemand außer mir zu bemerken schien.

»Zu dieser Zeit –« Der kratzige Unterton in Jans Stimmlage krampfte mir das Herz einmal mehr zusammen. »War ich mit meiner ersten Freundin zusammen, welche mich damals allerdings überraschend verließ … Dieser Verlust gab meinem Bestreben eigentlich den letzten Anstoß, mein Buch Realität werden zu lassen.« Er nahm einen weiteren Schluck, atmete lautlos durch und sprach weiter: »Wie ein Wahnsinniger schrieb ich. Jeden Tag, jede Nacht. Ich brachte sämtliche Sehnsüchte und Wünsche auf Papier – einerseits, um meine erste Liebe zurückzugewinnen, andererseits, um all die Dinge in Worte zu fassen, welche ich mit ihr solchermaßen gerne erlebt hätte.« Geschickt drehte er das Glas zwischen Daumen und Zeigefinger. »… Und es funktionierte. Sie kam zu mir zurück. Ich schrieb das Buch zu Ende. Wir verlobten uns. Ich suchte einen Verlag, um das Buch zu veröffentlichen.« Jans vormals noch relativ gefestigt anhörende Sprechweise nahm Wort um Wort ab. »Aber damit verlor ich alles. Einfach alles.« Eine Sekunde hielt er inne, schaute zu Mama. »Wenn ich damals nur im Entferntesten von den gewaltigen zukünftigen Problemen geahnt hätte, welche die Veröffentlichung und die Verlobung mir letztlich einbringen würden – ich hätte niemals versucht, freier Autor zu werden. Niemals.«

Mama besah Jan mit großem Mitgefühl. »Was ist passiert?«

»Ich ließ mich reinlegen – von einem zwielichtigen Verlag, welcher mir Honig ums Maul schmierte.« Wütend über sich selbst rieb er sich die Stirn. »Erst änderte ich den Roman teilweise um – auf Verlangen des Verlages sowie meiner Verlobten und Autorenkollegen aus dem Internet. Darauffolgend musste ich einen Kredit aufnehmen, um die hohen Druckkosten, das Lektorat sowie die Covergestaltung zu bezahlen. Damals war es mir nicht bewusst gewesen, dass diese Dinge normalerweise von einem Verlag kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Durch diesen naiven Fehltritt meinerseits verschuldete ich mich – völlig umsonst. Ich musste die schlechtbezahltesten und – jedenfalls für mich – unangenehmsten Jobs annehmen, um nicht Privatkonkurs anmelden zu müssen. Und meine Verlobte? Diese verließ mich erneut – und sie kam nie mehr wieder zurück.«

Meine Eltern blieben stumm.

Ich verstärkte neuerlich den Griff, mit welchem ich seine rechte Hand hielt.

»Den Kredit zahle ich nach wie vor zurück. Das Buch hingegen verkauft sich so gut wie überhaupt nicht.« Abrupt hellte seine Miene sich auf. »Aber wenngleich die letzten Jahre mir viel abverlangten, hatten all die schlechten Erfahrungen doch auch gute Seiten: Wäre ich nämlich damals nicht solchermaßen töricht gewesen, hätte ich erstens, niemals herausgefunden, wie oberflächlich meine Verlobte ist.« Mit gütigen Augen wandte er sich mir zu. »Und zweitens, wäre ich dir niemals begegnet. Mein Leben hätte einen gänzlich anderen Weg eingeschlagen. Doch somit hatte der durch meine Fehleinschätzungen entstandene jahrelange Kampf gegen Einsamkeit, Geldnot und Selbstzweifel ein von mir niemals mehr geglaubtes wunderbares honigsüßes Ende genommen. Durch dich –« Zärtlich erfasste er meine beiden Hände. »Weiß ich nun, dass wahre Liebe tatsächlich existiert. Sie war keine naive Einbildung meinerseits. Mit dir an meiner Seite fühle ich mich endlich angekommen, verstanden und beschützt. Einzig durch dich weiß ich, wie wunderbar das Leben sein kann.«

Noch eine solche überwältigende Liebeserklärung!

Langsam aber sicher wusste ich nicht mehr, wie mir geschah …

»Eine Sache verstehe ich jetzt aber nicht«, kam es vonseiten meines Vaters. »Du hast doch eine Wirtschaftsschule abgeschlossen, oder? Wie kommt es dann, dass du mit wirtschaftlichen Dingen so gar nicht zurechtkommst?« Er vollführte eine sanfte Drehung seiner Hand, was so viel bedeutete wie, Ich will dich damit nicht beleidigen. »Das soll nicht heißen, dass du dumm oder unfähig wärst, Geschäfte abzuschließen und wirtschaftlich zu denken –«

Jan schüttelte verständnisvoll den Kopf. »Nein, nein … ich verstehe schon, was Sie sagen wollen.«

»Mir scheint, deine Talente liegen einfach in einem ganz anderen Bereich.« Mein Vater nippte an seinem Kaffee. »Liege ich damit richtig?«

Meine Seelenhälfte bejahte, leise Beschämung sich über sie legend. »Da haben Sie vollkommen recht. Um ehrlich zu sein, hatte ich nach Beendigung der Hauptschule noch nicht die geringste Ahnung, was ich mir von meinem Leben erwarte oder welche Richtung ich einschlagen sollte.« Sich dessen offenbar unbewusst begann Jan sein Ohrläppchen zu massieren. »Grundsätzlich muss man sich über den eigenen Berufswunsch und sämtliche Talente ja spätestens im letzten Jahr der Pflichtschule gewahr sein. Zu meinem Leidwesen zählte ich zu der Personengruppe, welche partout nichts davon wusste. Demzufolge entschied ich mich kurzerhand für die Handelsakademie.« Jan überlegte. »Vermutlich war ich zu dumm, um meine Stärken zu erkennen. Im Gegenzug dazu besaß ich aber wenigstens ein sehr gutes Gespür dafür, was mir absolut nicht liegt. Dazu zählen körperlich schwere Arbeit und Tätigkeiten, welche technische Fähigkeiten voraussetzen sowie Geschicklichkeit mit den Händen … Zum Beispiel gelingt es mir nicht einmal, einen einzigen vermaledeiten Nagel gerade in eine Wand zu schlagen. Aufgrund dessen dachte ich bei mir, dass ein Bürojob sicherlich die bessere Wahl darstellt, denn eine Tätigkeit am Bau oder in einer Werkstätte. Des Weiteren weiß ich über die guten Verdienstmöglichkeiten im Bankwesen Bescheid – sechzehn Monatsgehälter, Bonussysteme bei guten Kreditabschlüssen, lebenslange monatliche Auszahlungen bei abgeschlossenen Versicherungen.«

»Das kann ich sehr gut verstehen.« Papas Gesichtszüge wurden milde. »Als Jugendlicher war auch ich mir unsicher, wie mein Leben verlaufen soll … was ich werden will … ob ich studieren oder doch besser einen Lehrberuf machen soll. Man hört wohl immer wieder von diesen kleinen Wunderkindern, die, noch nicht einmal das Daumenlutschen abgewöhnt, schon wissen, was sie einmal werden wollen – und an diesem Berufswunsch auch bis zur Berufsreife festhalten. Die Wahrheit ist aber: Die Mehrzahl der jungen Leute weiß nicht, was sie wirklich machen will. Woher auch? Das Leben bietet viele Möglichkeiten. Doch leider wird in der Schule bloß reines Allgemeinwissen gelehrt, aber nicht auf die Fähigkeiten eines jeden Einzelnen eingegangen.«

Jan nickte zustimmend. »Dies stellt, meiner Meinung nach, seit jeher ein gewaltiges Problem dar.«

»Und es wird Jahr für Jahr schlimmer«, ergänzte Mama. »Immer öfter höre ich von Müttern, die über überforderte Lehrer jammern und Kinder, die weder vernünftig Deutsch sprechen noch sinnerfassend lesen können.«

»Aber letztlich ist es komplett nebensächlich, was du früher getan hast«, brachte Papa das Gespräch wieder auf Kurs. »Wichtig ist, was du jetzt tust.«

Jan erstarrte – und ich schluckte.

Nun war es so weit.

Angefühlte tausendmal hatten wir in den letzten Tagen sinniert, wie meine Eltern auf Jans Hilfsarbeiterjob reagieren würden. Und jedes Mal, wenn Jan mich darauf ansprach, hatte ich ihn mit den Worten »Meine Eltern sind nicht oberflächlich« zu beruhigen versucht.

Hoffentlich hatte ich mich nicht geirrt …

»Ich bin Abwäscher«, antwortete meine Seelenhälfte nach einigem Zögern kleinlaut. »Hilfskoch und Servierkraft im Hotel Seedorf.«

Die Augen meiner Eltern weiteten sich geringfügig. Ihre Gedanken waren ihnen förmlich vom Gesicht abzulesen: Meine Tochter soll mit einer Hilfskraft zusammen sein? Weshalb ist Jan kein reicher Geschäftsmann, welcher ihr jegliche Wünsche erfüllen kann?

Jan schien am liebsten davonlaufen zu wollen – ich mit eingeschlossen.

»Ich bin ganz ehrlich«, drang es nüchtern aus meines Vaters Kehle. »Ich habe mir immer gewünscht, dass meine Tochter einen Mann kennenlernt, der ihr finanzielle Stabilität bieten kann.«

Nun zuckte Jan deutlich zusammen – kein Wunder, schließlich hatte Janina ihn aus exakt diesem Grunde verlassen.

»Aber wenn du meine Tochter gut behandelst«, sprach er mit einem anwachsenden Lächeln weiter. »Zu ihr stehst, sie wirklich so liebst, wie du das vorher gesagt hast, dann bringt ihr das mehr, als alles Geld der Welt.«

Merklich erleichtert gestattete Jan sich, sich das erste Mal zurückzulehnen.

Und auch mir fiel ein außerordentlicher Brocken an Troktolithgestein vom Herzen.

»Liebe ist das Wichtigste im Leben«, kam es vonseiten meiner freudestrahlenden Mutter. »Für uns zählt einzig und allein, dass ihr beide glücklich seid. Vergesst das Geld.« Sie zwinkerte uns frech zu. »… wir haben ja im Lotto gewonnen.«

Ihr beide.

Damit hatten sie Jan offensichtlich endgültig akzeptiert.

Um eine weitere Tonne an Schiefer und Schutt erleichtert, drückte ich mich an einen unaufdringlich kichernden Jan. »Ich muss gestehen, wäre ich mit meinem Buch reich geworden, hätte ich Ihnen die Asphaltierung der Auffahrt gerne gezahlt. Unglücklicherweise hat der Erfolg sich nie einstellen wollen. Somit fehlt mir weiterhin das nötige Kleingeld für die meisten Dinge im Leben.«

»Du kannst uns gerne duzen«, erwiderte Mama grinsend. »Und um es uns recht zu machen, musst du so etwas nicht sagen.«

Jan plötzlich errötend machte beschwichtigende Handgesten. »Es lag nicht in meiner Absicht, mich mit dieser Aussage einzuschmeicheln. Wirklich nicht … ganz und gar nicht.« Allmählich der Verzweiflung nahe, umfasste er das Wasserglas mit beiden Händen. »Ein jedes Wort ist mein voller Ernst. Ich sage solche Dinge nicht, um mir dadurch irgendwelche Vorteile zu ergaunern oder mich zu profilieren.«

»Und der Anzug?«, warf mein Vater schmunzelnd ein.

»Der … also … ja –« Ein erstickenden Räuspern drang aus Jans trockener Kehle. »Ich dachte mir … nun … wenn ich lediglich eine arme Hilfskraft mit Schulden darstelle, muss ich wenigstens mit einem schönen Anzug punkten.« Deutlich leiser fügte er hinzu: »Außerdem … lässt ein Anzug einen jeden Mann reif und erfolgreich wirken – zwei von vielen Eigenschaften, welche man mir … durch mein jugendliches Aussehen und meinem bisherigen Lebenslauf … nicht recht zuschreiben kann.«

Ach Jan!

Welch große Sorgen er sich stets um sein Auftreten machte!

Meine Mutter kicherte lieblich. »Mach dir da keinen Kopf. Liza sieht doch auch viel jünger aus. Und überhaupt: Was bringt dir denn Erfolg, wenn du dafür ein gefühlskalter Mensch bist? … Lieber ist mir ein Mann wie du, der das Herz am rechten Fleck hat, dem Ehrlichkeit und Respekt gegenüber anderen Menschen wichtig ist, als jemand, der vielleicht mit einem Porsche vorfährt, aber Liza ohne Skrupel betrügt und belügt.«

»Vielen Dank«, antwortete er betreten. »Ich kann nicht in Worte fassen, wie sehr mich dieses Wissen beruhigt.«

Und mich erst!

Wie es aussah, entwickelte das Gespräch sich Gott sei Dank und wie von mir insgeheim befürchtet doch nicht zu einer einzigen Katastrophe …

»Kurz eine andere Frage.« Ich fasste nach dem Wasserglas und führte es zu meinen Lippen. »Wie groß ist euer Gewinn denn nun ausgefallen?«

Jan brauchte eine kleine Verschnaufpause. Die nächsten Fragen, da war ich mir sicher, würden ohnedies bald folgen.

»Fünfundsechzigtausend Euro«, erklärte Mama beschwingt. »Nächsten Monat wird das Geld auf unser Konto überwiesen. Also können wir die Auffahrt noch vor dem kommenden Winter asphaltieren.«

Durch die Wirtschaftskrise hörte der Gewinn sich nicht eben enorm an, und in Rente gehen konnten meine Eltern damit wahrhaftig nicht – andererseits stellte ein solcher Batzen Geld für eine gering verdienende Familie, deren Jahresgehalt nicht einmal die Hälfte dieser Summe betrug, eine gewaltige Hilfe dar.

»Und dann fahren wir endlich in Urlaub«, fuhr mein Vater lächelnd fort. »Und wenn es sich ausgeht, kaufen wir uns ein etwas neueres Auto. Der Wrangler wird es nicht mehr lange machen.«

»Ich freue mich wirklich wahnsinnig für euch … Ich muss zugeben, mit einem Gewinn hatte ich nicht mehr gerechnet.«

»Ich, ehrlich gesagt, auch nicht.« Schmunzelnd trank Mama einen Schluck ihres Milchkaffees. »Zwar habe ich eigentlich mit einer etwas größeren Ausbeute gerechnet – dann hätten wir den oberen Stock komplett fertiggestellt. Aber ohne den Gewinn könnten wir ja nicht einmal die Auffahrt fertigmachen. Dabei hat der letzte Regen die Erde wieder stärker aufgeweicht. Das Erdreich und die Steilhänge müssen unbedingt verstärkt werden, sonst reißt uns ein starker Dauerregen noch einmal die halbe Straße weg … Da kommt der Gewinn also genau rechtzeitig.«

Vor diesem Szenario hatte ich mich stets am meisten gefürchtet: Heftige tagelange Regenfälle, welche die gesamte Auffahrt wegspülen oder sogar Teile des Hauses vermuren …

»Aber sagt mal«, wechselte Mama abrupt das Thema. »Wie lange seid ihr denn jetzt eigentlich zusammen?«

Mir wurde es kalt und kälter …

O nein. Nein. Nein.

Seit Dienstag hatte ich unentwegt gebetet, eine solche Frage nicht gestellt zu bekommen – zumal wir beide eben eine Woche richtig zusammen waren, Jan allerdings von einer solchermaßen tiefen Liebe zu mir sprach wie ein Mann, welcher eine Dekade mit seiner besseren Hälfte liiert war.

Gewiss, für uns war es eine Selbstverständlichkeit – doch wie empfanden Außenstehende eine solche Situation?

»Nun, wisst ihr –« Ich hüstelte vor mich hin. »Das war … ja … also … um genau zu sein –«

»Eine Woche«, beendete Jan mein peinliches Herumdrucksen. »Letzten Freitag fuhr ich zu ihr … Ich hielt es nicht länger aus.«

»Eine Woche?!« Mamas Stimme überschlug sich. »Ist das euer Ernst?!«

Ich und Jan zuckten beide gleichermaßen heftig zusammen.

Papa brachte keinen einzigen Ton hervor, doch war dies gar nicht nötig, sprach sein missfällig werdender Blick mehr, als er je zu sagen in der Lage war.

Was sollte ich nun tun?

Auf der einen Seite war ich froh, selbst dieses Thema anzusprechen. Auf der anderen hatte dieses fürchterliche Hin und Her um Jans Charakter und Lebenseinstellung mir einen gehörigen Teil meiner Nerven geraubt, wodurch ich mich allmählich ernsthaft einem Nervenzusammenbruch nahe fühlte. Nichtsdestotrotz musste ich etwas unternehmen, ehe die beiden uns mit Argumenten und Vorwürfen zu bombardieren begannen.

Um meinen durch Adrenalin und Herzrasen zitternden Händen eine Beschäftigung zu geben, fasste ich nach meinem leeren Wasserglas und begann es zu drehen und herumzuschieben.

»Ich weiß, was ihr jetzt denkt.« Ich blickte meinen Eltern abwechselnd in die Augen. »Aber unsere Liebe ist nicht irgendeine Teenieschwärmerei. Wir hegen tiefe Gefühle füreinander – solchermaßen tiefe Gefühle, wie wir sie beide noch nie zuvor empfanden.«

Mama richtete sich etwas gerader auf. Es war ihr gut anzusehen, wie sie sich um bedächtige Worte bemühte.

»Ihr meint«, begann sie nach einer langen Zeit der Stille, welche einzig vom lautstarken durch das gekippte Fenster dringende Sperlinggeschimpfe erfüllt war. »Ihr hättet euch schon damals im Hotel ineinander verliebt.«

Ich und Jan nickten unisono.

»Wieso hat es dann so lange gedauert, bis ihr zusammengekommen seid?«

Wollte sie mit dieser Frage mehr über unsere Gefühle zueinander in Erfahrung bringen? Wollte sie uns damit sondieren? Oder letztlich bloßstellen?

»Ich dachte, Jan würde mich nicht mögen«, antwortete ich der Wahrheit entsprechend – und mit zu beben beginnenden Extremitäten. »Ich hatte angenommen, er empfindet nichts für mich.«

»Mir ging es gleich«, setzte Jan die Erklärung fort. »Als sie, ohne etwas zu sagen, wegfuhr, dachte ich, sie hegt kein Interesse.« Er küsste mich auf die Wange – lange, zärtlich, ungemein beruhigend. »Dabei irrten wir beide vollumfänglich … und litten monatelang einzig aufgrund der Annahme, dass der eine vom anderen nichts wissen will.«

»Jetzt verstehe ich, wieso du so fertig warst. Jetzt ist endlich alles klar.« Mama schüttelte leicht den Kopf, suchte meinen Blick – Trauer, Schmerz, allen voran jedoch grenzenloses Verständnis in dem ihren innewohnend. »Wieso hast du mir nichts gesagt? Du hättest mit uns darüber sprechen können.«

Mein Magen krampfte sich zusammen. »Ich … ich wollte nicht wieder wie ein Idiot dastehen – wie damals bei meinem Arbeitskollegen.«

Ein schmerzhafter Kloß entstand in meinem Hals.

Ich würgte ihn hinunter, unterdrückte auftretende Tränen. »Ich meine … gut, ich habe ihn gemocht … nicht geliebt. Dennoch fühlte ich mich wie ein Totalversager. Ich dachte, wenn ich euch erneut beibringen muss, von einem Mann, welcher mir etwas bedeutet, stehengelassen worden zu sein … Nun –« Ich zuckte die Achseln. »Ich nahm an, ihr würdet vermuten, dass irgendetwas nicht mit mir in Ordnung sei.«

Um mich kurzzeitig abzulenken, wollte ich einen weiteren Schluck Wasser nehmen. Doch erst, als ich das Glas an meine Lippen herangeführt hatte, wurde ich mir wieder seines leeren Inhalts gewahr.

Verzweiflung wie Erniedrigung sich über mich legend stellte ich es zurück und fuhr kopflos fort. »Ich meine … wie oft ist es passiert, dass Männer mich ignorierten? Wie oft wurde ich stehengelassen? Ich habe an mir selbst am meisten gezweifelt. Schließlich ist es nicht normal, immer und immer wieder weggestoßen zu werden – gleichgültig, ob es um Beziehungen oder Freundschaften geht. Ich wollte euch kein neues schiefgegangenes Kennenlernen unter die Nase reiben. Ich bin ohnehin seltsam genug. Ich wollte nicht abermals wie ein ungewolltes Mauerblümchen dastehen.«

Die Trauer der Vergangenheit überkam mich mit brachialer Gewalt. Tränen flossen mir über die Wangen, meine Brust schmerzte, irgendetwas presste gegen meine Lungen.

Es tat weh – so fürchterlich weh.

All die Rückweisungen der letzten Jahre, all die missfallenden Blicke von Kollegen, Fremden, Bekannten …

Hilflos drückte ich mich an Jan, welcher sogleich die Arme um mich legte.

»Alles ist gut … alles ist gut«, raunte er beruhigend und streichelte mir über den Rücken. »Lass die Vergangenheit los … sie ist zu Ende. Alles ist gut. Alles ist vorbei. Niemand wird dich mehr wegstoßen. Ich werde dich niemals wegstoßen. Du bist nicht seltsam. Du bist die wunderbarste Frau, die mir je begegnet ist.« Seine zärtlichen Lippen küssten meine tränennassen Wangen, liebkosten meine Stirn. »Ich versprach dir: Deine Vergangenheit wird sich niemals mehr wiederholen. Dafür werde ich sorgen – ein Leben lang.«

Schniefend lehnte ich mich zurück, wischte letzte Tränen davon – Jan mir behutsam dabei helfend.

»Irgendwann wird dein Schmerz gänzlich versiegen«, versicherte er. »Das verspreche ich dir. Schließlich verlor ich meine Schmerzen durch dich.«

Das Seelenlicht seiner hellgrünen Augen verdrängte alles um mich herum. Es löschte meine Pein, nahm mir jegliche Verzweiflung und beschenkte mich stattdessen mit bedingungsloser Liebe und tiefem Frieden.

Behutsam streichelte sein Zeigefinger mir über die Lippen. »Die Vergangenheit können wir zwar nicht mehr ändern, dafür kann wahre Liebe ein zerbrochenes Herz heilen.«

Seine Stimme bettete mich in Geborgenheit, seine Hände bedachten mich mit Sicherheit … seine Gegenwart war ein einziges Geschenk.

»Wie viel einfacher es ist, die Schatten der Vergangenheit zu bekämpfen«, gab ich ohne Überlegung zurück. »Wenn man die wahre Liebe an seiner Seite weiß.«

In Jans Gesicht ging die Sonne auf. »Allmählich wirst du mir eine ernsthafte Konkurrenz!«

Seine Aussage brachte mich zum Lachen. »Nein … mit dir kann ich niemals mithalten.«

»Mir fehlt schlichtweg das nötige Vokabular, um meine Emotionen in die richtigen Worte zu kleiden«, intonierte er frech meine vor einer Woche ausgesprochene törichte Äußerung. »Dies ist bereits lyrischer denn alles, was ich je niederschrieb.«

Mit warm werdenden Wangen senkte ich den Blick. »Trotzdem.«

Er erfasste mein Kinn und hob es an. »Stetig widersprichst du mir … dabei sprachen wir dermaßen oft darüber!« Sein Gesichtsausdruck intensivierte sich. »All das, was der jeweils andere sagt, sollen wir ernstnehmen.« Dies verkündet, landeten seine zarten Lippen auf den meinigen – und die Welt stand still.

Beschützend schlangen seine Arme sich um mich. Seine Finger vergruben sich in mein Haar, seine Zunge verlangte nach meiner – und ich verlangte nach ihm.

Trunken von seiner Liebe presste ich mich gierig an ihn – schmeckte ihn, fühlte ihn … wollte ihn.

»Und ihr seid euch wirklich ganz sicher«, drang eine sich bekannt anhörende männliche Stimme in mein Ohr. »Dass ihr erst seit einer Woche zusammen seid?«

Die Worte kämpften sich tiefer vor – in meinen Verstand, in meine Seele …

Und endlich schaltete ich.

Himmelherrgott!

Ruckartig und eine glühende Hitze durch mein Innerstes jagend ließ ich von Jan ab.

Ich hatte gänzlich vergessen, wo wir waren und wer uns gegenüber saß …

»Ich …« Ich fasste nach meinem Saft, wollte einen Schluck nehmen – solch eine kostbare kurze Zeit des Hinhaltens, um ein Argument hervorzubringen – da musste ich zum zweiten Mal erkennen, das Glas längst ausgetrunken zu haben.

Dunkelrot anlaufend stellte ich es zurück und schaute auf meine Hände.

Ich und Jan hatten uns hemmungslos vor meinen Eltern geküsst …

O Gott, o Gott …

Meine Muskulatur verkrampfte sich, mein Herz schien zu zerspringen.

Was war bloß los mit mir?

Und wie gelang Jan es allzeit, alles um mich herum vergessen zu lassen?

Ging das überhaupt?

Womöglich lag es gar nicht an unserer Liebe, sondern einzig und allein an einer beginnenden Geisteskrankheit meinerseits …

»Ihr zwei seid ja so niedlich«, hörte ich meine Mutter kichernd sagen. »Dass ich so einen Anblick noch erleben darf! Das ist fantastisch … einfach fantastisch.«

»Dürfen wir ein wenig spazieren gehen?«, fragte ich peinlich berührt. »Oder gibt es noch etwas Dringendes zu besprechen?«

Wenn die Zeit für eine kleine Verschnaufpause jetzt nicht reif war, wann dann?

Sichtlich erheitert schüttelte meine Mutter den Kopf. »Geht nur. In der Zwischenzeit mache ich Mittagessen.«

»In Ordnung.« Mit wackeligen Beinen erhob ich mich. Jan machte es mir gleich. »Wenn wir zurück sind, helfe ich dir.«

»Ja, ja … geht ihr nur etwas Turteln. Das habt ihr euch redlich verdient.«

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