Buch lesen: «Makroökonomik und Wirtschaftspolitik», Seite 2

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|1|Worum es geht
Die Idee

Dieses Buch zur Makroökonomik und Wirtschaftspolitik wurde insbesondere für Studierende der Betriebswirtschaftslehre, Business und Public Administration, Wirtschaftspsychologie u.a. konzipiert. Es ist in zwölf Abschnitte unterteilt. Der Vorteil liegt darin, dass erstens die üblicherweise als sehr theoretisch empfundene Makroökonomik durch den Anwendungsbezug und die weitreichende Bedeutung der Wirtschaftspolitik für das tägliche Leben interessanter sowie verständlicher wird und dass zweitens ein eindeutiger Erwartungshorizont im Hinblick auf die Prüfungsleistung aufgespannt wird. Trotz der Anwendungsorientierung darf die theoretische Basis nicht außeracht gelassen werden. In jedem Abschnitt – abgesehen vom letzten zur Prüfungsvorbereitung – wird in einem einführenden Teil die Relevanz für das tägliche Leben und Arbeiten erläutert. Daran schließen sich ein Theorieteil sowie ein anwendungsbezogener, d.h. in der Regel wirtschaftspolitischer Teil an. Zwischendrin werden Beispiele aus der aktuellen Politik aufgeführt. Die Studierenden werden bei paralleler Lektüre von Tageszeitungen wie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, des Handelsblatts, der Süddeutschen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung nach und nach die spezielle ökonomische Sichtweise auf die Prozesse, mit denen wir Bürger täglich konfrontiert sind, verstehen und diskutieren lernen.

Was ist Makroökonomik und was Wirtschaftspolitik?

Die Makroökonomik wird als die Wissenschaft bezeichnet, mit der gesamtwirtschaftliche Vorgänge betrachtet werden. Es geht um den Haushalts- und den Unternehmenssektor sowie den Staat und die Beziehungen zum Ausland. Dabei ist von Bedeutung, dass nicht das Handeln des Einzelnen (des Bürgers als Konsument, Unternehmer, Arbeitnehmer, als Teil der Gesellschaft) angeschaut wird, sondern dass alle Konsumenten im Sektor ‚Haushalte‘ zusammenfasst werden und das Handeln dieses Aggregats angesehen wird. Alle Unternehmer stellen den Unternehmenssektor dar.

Abbildung 1:

Sektoren in einer geschlossenen Volkswirtschaft (Quelle: Eigene Darstellung).

Wir analysieren in der Makroökonomik beispielsweise den Arbeitsmarkt, die Verteilung der Einkommen in der Gesellschaft, den gesamtwirtschaftlichen Konsum, das gesamtwirtschaftliche Güterangebot der Unternehmen, den Kapitalmarkt, die Investitionstätigkeit der Unternehmen und des Staates, das Angebot an öffentlichen Gütern, die Einnahmenseite des Staates oder die Export- und Importtätigkeit der Unternehmen. Die Theoretiker bedienen sich zur Analyse der makroökonomischen |2|Modellbildung. Die sogenannten Gleichgewichtsansätze weisen gleichwohl häufig eine mikroökonomische Fundierung auf. So werden in den Arbeitsmarktmodellen ein durchschnittlicher Lohnsatz sowie das gesamtwirtschaftliche Angebot an Arbeit und die entsprechende Nachfrage seitens der Unternehmen zugrunde gelegt.

Aus dem Zusammenspiel der verschiedenen Sektoren können sich inhaltlich unterschiedliche Untersuchungsbereiche ergeben. Ein Bereich betrifft die sogenannte Allokation, d.h. die Lenkung der Produktionsfaktoren Arbeit, Kapital, Boden und auch Umwelt sowie Wissen in deren optimale Verwendungen. Üblicherweise planen sowohl die Konsumenten als auch die Unternehmen und der Staat ihre Aktivitäten hinsichtlich der Ausgaben und auch der erwarteten Einnahmen. Bei der Umsetzung wird in der Regel entweder das Minimalprinzip (geringstmöglicher Aufwand) oder das Maximalprinzip (höchstmöglicher Zielerreichungsgrad) berücksichtigt. Wenn eine Prozessplanung nicht möglich ist, kommt es zu suboptimalen Ergebnissen auf den verschiedenen Märkten und für die verschiedenen Sektoren.

Ein weiterer Bereich ist die Verteilung der Einkommen, die in einer Volkswirtschaft erwirtschaftet werden. In Abhängigkeit der Qualifikation und der Berufserfahrungen erwirtschaften die privaten Haushalte unterschiedlich hohe Einkommen. Eine Umverteilung zwischen relativ gering Verdienenden und denjenigen, die relativ hohe Einkommen erwirtschaften, erfolgt in Deutschland unter anderem über den Einkommensteuertarif und Transfers an private Haushalte. Nun ist erkennbar, dass sowohl die Altersarmut als auch die Jugendarmut Themen sind, die aktuell und in der Zukunft eine zunehmende Bedeutung erfahren. Es stellt sich den Makroökonomen und den Wirtschaftspolitikern u.a. die Frage, wie dieses Verteilungsproblem zu lösen ist.

Ein weiterer Bereich, in dem Schwierigkeiten aus dem Zusammenwirken der Sektoren resultieren können, ist die Verteilung der Macht. Kann ein Unternehmen die gesamte Nachfrage nach einem bestimmten Produkt auf sich vereinen, so hat es Preissetzungsmacht. Damit sind die Konsumenten gegenüber einer Situation, in der der Markt wettbewerblich organisiert ist, benachteiligt. Der Preis ist zu hoch. Die Lösung besteht darin, eine Ordnung für das wirtschaftliche Handeln und Entscheiden |3|gesetzlich festzulegen, die das Entstehen von Marktmacht verhindert. Ein Beispiel ist das deutsche Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen.

In der Makroökonomie geht es zusammenfassend darum, gesamtwirtschaftliche Entwicklungen zu beschreiben (Empirie), gesamtwirtschaftliche Beziehungen zu erklären (Theorie) sowie Vorschläge zur Problemlösung zu geben (Politik). Aber was hat das mit betriebswirtschaftlichen Überlegungen und Entscheidungen zu tun? Warum ist die Kenntnis der makroökonomischen Entwicklungen für einen Unternehmer von Bedeutung? Der Zusammenhang ergibt sich über die Beschaffungs- und die Absatzmärkte. Auf diesen Märkten spielt der Preis für die Ware oder die Dienstleistung eine große Rolle in Hinblick auf die Erlöse der Unternehmen sowie auf deren Verluste. Makroökonomische Schlüsselgrößen, die die Erlöse und Kosten beeinflussen, sind u.a. die Konjunkturerwartungen in In- und Ausland, die Absatzerwartungen und die Einkommensentwicklung. Politikbereiche, die diese Größen ihrerseits beeinflussen, sind die Tariflohnpolitik, die Geldpolitik der Zentralbank, die Finanzpolitik des Staates, die Wettbewerbspolitik etc. Da die wechselseitigen Abhängigkeiten groß sind, ist es für künftige Unternehmer wie auch Beamte unabdingbar, die makroökonomischen Prozesse und die wirtschaftspolitischen Maßnahmen zu verstehen.

Zu den Inhalten des Buches

Im ersten Abschnitt steht das wirtschaftliche Wachstum im Fokus der Betrachtung. Nicht zu verwechseln ist es mit dem Wohlstand. Gleichwohl wird auf die Bedeutung des wirtschaftlichen Wachstums für den Konsumenten, den Unternehmer, den Staat abgehoben. Das zweite Kapitel ist der Erläuterung der Ursachen und Folgen der verschiedenen Phasen eines Konjunkturzyklus’ gewidmet. Nachdem die deutsche Wirtschaft 2009 in eine Rezession ‚gestürzt‘ ist, werden die Auswirkungen auf die verschiedenen Märkte unter zu Zuhilfenahme relativ ‚junger‘ empirischer Daten erklärt. Die Auswirkungen einer Rezession wie auch eines Booms betreffen über die Einnahmen aus Steuern, Gebühren und Beiträgen und die Ausgaben für die Finanzierung öffentlicher Aufgaben den Staat. Möglicherweise ist hier zudem eine Ursache für konjunkturelle Schwankungen zu finden. Diese Fragen werden in Kapitel 3 thematisiert. Wenn es um die Auswirkungen konjunktureller Schwankungen geht, ist ebenfalls die Zentralbank als Hüterin der Geldwertstabilität gefragt. Die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank wird im vierten Kapitel dargestellt und erläutert. Insbesondere vor dem aktuellen Hintergrund der in der Presse häufig erwähnten drohenden inflationären Tendenzen werden geldtheoretische Ansätze, die geldpolitischen Instrumente sowie deren Einsatz in der jüngeren Vergangenheit dargestellt. Im fünften Abschnitt des vorliegenden Buches soll die Frage beantwortet werden, wie der Titel ‚Exportweltmeister‘ zu beurteilen ist. Der Außenhandel ist für die wirtschaftliche Stabilität Deutschlands von Bedeutung, da viele Arbeitsplätze in exportorientierten Branchen bestehen und ein hoher Anteil unseres Bruttoinlandsproduktes in diesem Bereich erwirtschaftet wird. Wie wirkt sich eine Rezession auf diese Branchen aus? Was bedeutet es genau, ‚Exportweltmeister‘ zu sein? Werden Kapitalgüter in das Ausland exportiert, die dort |4|zu höheren Wachstumsraten der Wirtschaft führen und bei uns künftig zu einer Verlangsamung des wirtschaftlichen Wachstums? Wie sind Freihandelsabkommen zu bewerten? Was geschieht nach der Abwertung des chinesischen Yuan Renminbi mit den Exportchancen deutscher Unternehmen? Abschnitt 6 ist dem Arbeitsmarkt gewidmet. Auf diesem für Politiker insbesondere kurz vor den Wahlen so wichtigen Markt gilt es, einen hohen Beschäftigungsstand zu erreichen. Immerhin sind in Deutschland rund die Hälfte der Menschen erwerbstätig und Wähler. Der Arbeitsmarkt weist wichtige Charakteristika auf und wird ebenfalls von konjunkturellen Einflüssen bewegt. Im Guten wie im Schlechten sind der Staat und die Beschäftigung eng miteinander verbunden: Ist die Erwerbstätigkeit hoch, sprudeln die Steuereinnahmen und die Ausgaben für die soziale Sicherung halten sich in (demografisch festgelegten) Grenzen. Ist die Arbeitslosigkeit vergleichsweise hoch, gehen die Einnahmen des Staates zurück und die Ausgaben legen zu. Eine Ausgabenkategorie ist die Grundsicherung für Erwerbsfähige und Erwerbsunfähige. Das siebte Kapitel des Buches stellt die deutsche Grundsicherung im Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft vor und hebt auf die verschiedenen Kriterien Gleichbehandlung der Bürger, Stärkung der Eigeninitiative, Bedürftigkeitsprinzip etc. ab. Werden diese Kriterien bei der Entscheidung herangezogen, ob Hilfe der öffentlichen Hand zu gewähren ist, so dürfte das Ergebnis einen Beitrag zur Verteilungsgerechtigkeit leisten. Wissend um den engen Zusammenhang zwischen der Beschäftigung und der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme wird im achten Kapitel die umlagefinanzierte gesetzliche Rentenversicherung als eine Säule der sozialen Sicherung Deutschlands vorgestellt. Vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung, die beinhaltet, dass der Anteil der Rentner an der Gesamtbevölkerung stärker steigt als der Anteil der Kinder und Jugendlichen, wird im Rahmen der Frage ‚Ist die Rente sicher?‘ die zusätzliche kapitalgedeckte Altersvorsorge behandelt. Ebenfalls im Zusammenhang mit einer immer älter und durchschnittlich auch kranker werdenden Gesellschaft und (medizinisch-)technischen Innovationen steigen die Kosten im Gesundheitswesen laufend an. Den Medien ist zu entnehmen, dass das bestehende System auf Dauer nicht finanzierbar sei. Als weitere Säule der sozialen Sicherung werden daher in Kapitel 9 sowohl die gesetzliche Krankenversicherung als auch die gesetzliche Pflegeversicherung thematisiert. Als auf einer stabilen Basis stehende Versicherung wird die Arbeitslosenversicherung vorgestellt.

Im Zusammenhang mit Transferzahlungen seitens des Staates an private Haushalte und Unternehmen und in Verbindung mit den Exportchancen deutscher Unternehmen steht unmittelbar die Frage, was den Konsumenten und den Unternehmen freier Wettbewerb auf den Märkten bringt. Die undifferenzierte Antwort lautet: „Die Preise für die Produkte werden durch eine hohe Wettbewerbsintensität auf den Märkten gesenkt.“ Aus diesem Grund ist der freie Wettbewerb aus Konsumentensicht zu befürworten. Auch den Unternehmen wird nachgesagt, dass sie durch den Wettbewerb Innovationsleistungen erbringen, die in einer geschützten Marktnische nicht möglich sind, weil der Anreiz fehlt, Erster sein zu wollen. Im zehnten Kapitel wird dieses eigentlich mikroökonomische Thema aus makroökonomischer Sicht behandelt.

Im elften Kapitel werden die möglicherweise noch ‚losen Enden‘ der vorangegangen Abschnitte aufgegriffen und im Rahmen theoretischer Überlegungen zur Wirtschaftspolitik |5|als angewandter Makroökonomik kategorisiert. Hier werden u.a. Erläuterungen zu den Denkschulen der Makroökonomik gegeben und in Zusammenhang gestellt.

Als Abschluss des Buches werden im zwölften Kapitel verschiedene Beispiele aus den Medien präsentiert, die im Rahmen einer schriftlichen Prüfungsleistung diskutiert werden könnten. Dieses Kapitel dient der Vorbereitung der Studierenden auf ihre Prüfung.

[Zum Inhalt]

|7|Kapitel 1: Wenn die Wirtschaft wächst …

Seit dem 18. Jahrhundert findet eine Phase des wirtschaftlichen Wachstums von bis dahin unbekanntem Ausmaß statt. Wirtschaftswachstum ist also nicht selbstverständlich.

Von den frühesten Zeiten, über die wir Aufzeichnungen haben – also zurück, sagen wir, bis zweitausend Jahre vor Christus –, bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts gab es keine großen Veränderungen im Lebensstandard des durchschnittlichen, in der zivilisierten Welt lebenden Menschen. Natürlich gab es ein Auf und Ab. Heimsuchungen durch Seuchen, Hungersnöte und Krieg. Goldene Zwischenzeiten. Aber keine fortschreitenden Veränderungen. Einige Zeiten waren vielleicht 50 Prozent – allerhöchstens 100 Prozent – besser als andere in den viertausend Jahren, die (sagen wir) um 1700 n. Chr. endeten. […] Zu irgendeiner Zeit vor dem Beginn der Geschichte – […] vor der letzten Eiszeit – muss es eine Zeit des Fortschritts und der Erfindungen gegeben haben, die mit der, in der wir heute leben, vergleichbar ist. Aber während des größten Teils der aufgezeichneten Geschichte gab es nichts Derartiges. (Keynes [1930] 2007)

John Maynard Keynes (1883–1946), der Begründer der nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik, beschreibt wirtschaftliches Wachstum als Steigerung des Lebensstandards. Mit anderen Worten: Er könnte mit steigendem Lebensstandard größere Konsummöglichkeiten für die Menschen gemeint haben, mehr Freizeit, weniger Arbeitszeit, Gesundheitsvorsorge für alle Menschen oder ein hohes Maß an innerer und äußerer Sicherheit.

Wir werden das Wirtschaftswachstum in zwei Dimensionen untersuchen. Zum einen unterscheiden wir die Determinanten des Wachstums in einerseits theoretische Modelle und andererseits empirische Ansätze. Zum anderen analysieren wir, ob sich das Wachstum stetig oder in Wellen vollzieht. Aber zunächst steht die Frage im Vordergrund, wie wir Wirtschaftswachstum in Deutschland verstehen.

1.1 Das Bruttoinlandsprodukt

Mit Hilfe des Bruttoinlandsprodukts (BIP) wird die Produktion von Waren und Dienstleistungen im Inland nach Abzug aller Vorleistungen innerhalb einer Periode gemessen (Mankiw 2016). Mit dem BIP wird die gesamte Wirtschaftsleistung innerhalb der nationalen Grenzen berücksichtigt. Das Bruttonationalprodukt (BNP) bezieht demgegenüber die wirtschaftliche Leistung aller Staatsbürger der betreffenden Nation ein, unabhängig vom aktuellen Wirkungsort.

Das BIP lässt sich auf verschiedene Arten, nämlich durch die Entstehungs-, Verwendungs- und Verteilungsrechnung, ermitteln. Die Daten werden in Deutschland vierteljährlich vom Statistischen Bundesamt veröffentlicht. Bereits Mitte Januar eines |8|Jahres liegen die vorläufigen Daten für das gesamte Vorjahr vor. Damit ist das Statistische Bundesamt eines der ‚schnellsten‘ Statistikämter weltweit. Hinzu kommt, dass die Qualität der Daten hoch ist. Es gibt im Nachhinein häufig nur marginale Anpassungen.

Bei der Entstehungsrechnung wird der Wert der Güter und Dienstleistungen addiert, die in den verschiedenen Sektoren produziert werden. Dabei hat in Deutschland die Wertschöpfung des primären, land- und forstwirtschaftlichen Sektors etwa einen Anteil von 1 Prozent am gesamten BIP. Das produzierende Gewerbe macht etwa 26 Prozent aus, das Baugewerbe 4 Prozent, Handel, Verkehr und Gastgewerbe haben einen Anteil von rund 47 Prozent und die sonstigen Dienstleistungen ca. 22 Prozent.

Zum gleichen Gesamtergebnis muss die Verwendungsrechnung kommen. In der Verwendungsrechnung werden der Konsum CH der privaten Haushalte (~60 Prozent des BIP), der Staatskonsum CG (~20 Prozent), die Investitionen I (~14 Prozent) sowie der Export abzüglich des Importes (~6 Prozent) addiert.

BIP = CH + CG + I + (Ex – Im)

In der Verteilungsrechnung wird geschaut, wem welche Einkünfte zugeflossen sind. Neben den Arbeitnehmerentgelten (ANE) sind dies die Unternehmens- und Vermögenseinkünfte (UVE). ANE und UVE entsprechen zusammen dem sogenannten Volkseinkommen. Addieren wir zum Volkseinkommen die Subventionen, d.h. die Transfers des Staates an den Unternehmenssektor, und ziehen die auf die Güter erhobenen Steuern ab, dann erhalten wir das Nettonationaleinkommen zu Marktpreisen. Um das Bruttonationaleinkommen zu berechnen, sind die Abschreibungen, d.h. der Werteverzehr der Anlagegüter der Volkswirtschaft, in Abzug zu bringen. Zu diesem Bruttonationaleinkommen addieren wir die Einkommen der Inländer, die im Ausland gearbeitet haben, und wir ziehen die Einkommen ab, die Ausländer im Inland erwirtschaftet haben. Wir erhalten das Bruttoinlandseinkommen, das BIP. Es geht bei der Verteilungsrechnung demnach um die Verteilung der Einkünfte auf die verschiedenen Produktionsfaktoren.

Wie wird das Bruttoinlandsprodukt in der Praxis berechnet? Die schnellste Variante ist die Berechnung über die Verwendungsrechnung, da bei den Finanzämtern laufend Daten zu den Einnahmen aus der Mehrwertsteuer (19 Prozent bzw. 7 Prozent anteilig vom Verkaufspreis von Gütern- und Dienstleistungen) eingehen. Die Finanzämter geben die Daten weiter an die statistischen Landesämter und diese an das Statistische Bundesamt. Dieses berechnet die entsprechenden Größen, aus denen sich das BIP zusammensetzt. Auf der europäischen Ebene übernimmt Eurostat, die Europäische Statistikbehörde, die Aufgabe der Sammlung der Daten von den Mitgliedsstaaten und der Bereitstellung der Zahlen für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Die Vereinten Nationen, die Weltbank, der Internationale Währungsfonds und andere supranationale Organisationen stellen Daten für alle Länder bereit, soweit sie verfügbar sind.

Um tatsächlich zeigen zu können, ob die Güter- und Dienstleistungsproduktion in einer Volkswirtschaft sich verändert hat, ist es notwendig, das mit den Marktpreisen bewertete BIP, das nominale BIP, um Preisveränderungen zu bereinigen. Würden die Preisveränderungen nicht herausgerechnet werden, könnte es mindestens zwei Ursachen für Veränderungen oder auch das Gleichbleiben des BIP geben: entweder die |9|Produktionsmenge, der Output der Volkswirtschaft, hat sich verändert oder die Preise oder Menge und Preise. Bereinigen wir das nominale BIP um die Preisveränderungen in der betrachteten Periode, erhalten wir das reale BIP, das in der Regel in den Medien gemeint ist, wenn über das BIP gesprochen wird.

1.2 Zum Begriff Wirtschaftswachstum

Wirtschaftliches Wachstum liegt vor, wenn das reale BIP steigt.[1] Anders gewendet: Nimmt die gesamtwirtschaftliche Produktion zu, so ist das Leistungsvermögen einer Volkswirtschaft gestiegen. Dieses Leistungsvermögen, d.h. die Arbeitskräfte, das Kapital und der Boden, muss nicht zwangsläufig, kann aber von den Unternehmen vollständig genutzt werden. In der grafischen Darstellung verschiebt sich die sogenannte Transformationskurve T, wenn ein Modell zur Veranschaulichung herangezogen wird, das nur den Input von Kapital K und Arbeit A berücksichtigt. Wenn wir ein Input-Output-Diagramm zur Darstellung nutzen, dreht sich die Produktionsfunktion Y nach außen.

Abbildung 2:

Stilisierte Produktionsfunktion f (Y) und Transformationskurve T (Quelle: Eigene Darstellung).

In der linken Grafik der Abbildung 2 wird verdeutlicht, dass in der Theorie der Output Y (abgetragen auf der senkrechten Ordinate) vom Einsatz der Produktionsfaktoren Kapital K und Arbeit A (abgetragen auf der waagerechten Abszisse) abhängt.[2]

|10|Die hier gewählte ertragsgesetzliche Produktionsfunktion

f (Y) = f (K; A)

zeigt, dass bei relativ geringem Einsatz von K und A der Output Y zunächst langsam zunimmt, um dann ab einem bestimmten Punkt überproportional stark zu steigen und schließlich bei einer weiteren Ausdehnung des Faktoreinsatzes weniger stark weiter zu wachsen. Dieser Verlauf hängt mit den zunächst steigenden und schließlich abnehmenden Grenzproduktivitäten der eingesetzten Produktionsfaktoren zusammen. So ist vorstellbar, dass bei der Produktion an einem Fließband zunächst wenige Arbeitskräfte aktiv sind und der Output deshalb zu Beginn relativ gering ist. Werden mehr Arbeitskräfte eingesetzt, beispielsweise weitere Arbeitsplätze am vorhandenen Fließband eingerichtet, kann der Output stärker ausgeweitet werden. Stehen allerdings so viele Personen am Fließband, dass sie sich gegenseitig behindern, geht der zusätzliche Output zurück. Ein weiteres Fließband müsste eingerichtet werden.

Das Produktionspotenzial würde dann erweitert werden. Eine derartige Investition nennen wir Erweiterungsinvestition. Dem gegenüber steht die Instandhaltungsinvestition, die nicht zu einer Erhöhung der Produktionsmöglichkeiten und damit nicht zu wirtschaftlichem Wachstum führt. Wirtschaftliches Wachstum wird auch dadurch möglich, dass mit in der Summe gleichem Faktoreinsatz – z.B. aufgrund einer technologischen Innovation: am Fließband ersetzen Roboter Personen – der Produktionsprozess produktiver wird. Es kann mehr Output produziert werden. Die Produktionsfunktion dreht sich nach außen.

In der rechten Grafik der Abbildung 2 wird dargestellt, dass je nach Einsatzmengen von Kapital (Ordinate) und Arbeit (Abszisse) entlang der sogenannten Transformationskurve der maximale Output Y produziert werden kann. Die Transformationskurve zeigt verschiedene Kombinationsmöglichkeiten der Produktionsfaktoren an, die jeweils zum gleichen Output führen. Erst eine Produktivitätserhöhung – z.B. des Faktors Arbeit durch die Optimierung des Fertigungsprozesses beispielsweise im Wege der Arbeitsteilung – erlaubt, dass bei konstantem Faktoreinsatz ein höheres Outputniveau realisiert werden kann. Die Transformationskurve verschiebt sich nach außen und spiegelt ein höheres Outputniveau wider, das in der Volkswirtschaft erreicht werden kann. Eine Verschiebung der Transformationskurve oder eine Drehung der Produktionsfunktion nach außen soll verdeutlichen, dass die Volkswirtschaft wächst.

Als Maß für das Wirtschaftswachstum wird die Wachstumsrate w des BIPs, des Outputs Y, in einem bestimmten Zeitraum herangezogen. Die zeitliche Perspektive ist hierbei langfristig.[3] Analytisch formuliert bedeutet dies:


|11|Die Veränderung des BIPs wY ergibt sich aus dem Quotienten der Differenz des BIP Yt in der Periode t, z.B. 2015, und dem BIP Yt-1 in der Vorperiode t-1, z.B. 2014, geteilt durch das BIP der Vorperiode t-1, also 2014, multipliziert mit 100. Das Ergebnis ist ein Prozentwert. Ist wY > 0, dann ist die Wachstumsrate des BIP positiv. In der Volkswirtschaft wurden 2015 im Vergleich zum Vorjahr mehr Güter und Dienstleistungen produziert.

Mit wirtschaftlichem Wachstum ist eine höhere Güterversorgung der Wirtschaftssubjekte, d.h. der Bevölkerung, verbunden. Dies ist jedoch nur dann der Fall, wenn die Güterproduktion schneller zunimmt als die Bevölkerung. Wenn der demografische Aspekt berücksichtigt werden soll, ist das BIP pro Kopf zu ermitteln. Um die Veränderungsrate des BIP pro Kopf zu berechnen, wird Y durch die Einwohneranzahl Ew der Volkswirtschaft geteilt und mit der Vorperiode verglichen, wie in obiger Gleichung, oder es können die Wachstumsraten der Einfachheit halber voneinander abgezogen werden.[4]


Das BIP und dessen Wachstum wird gemeinhin als Indikator für den Wohlstand der Bevölkerung eines Landes herangezogen, obschon es eine Reihe von Mängeln dieses Indikators zu beklagen gibt (Miegel 2012). Andererseits fällt es schwer, ein besseres Maß zu finden (Enquete-Kommission 2013). Als Mängel können u.a. folgende Aspekte konstatiert werden:

 Nachbarschaftshilfe, Haushaltstätigkeiten und ehrenamtliche Aktivitäten fließen nicht in die Berechnung des BIP ein.

 Die Wertschöpfung des informellen Sektors (z.B. Schwarzarbeit) kann nicht berücksichtigt werden.

 Durch die wirtschaftlichen Tätigkeiten entstehende Umweltschäden, die Kosten für deren Beseitigung und die ‚Wiedergutmachung‘ werden nicht von der konstruktiven Wertschöpfung, die mit dem BIP gemessen wird, abgezogen.[5]

 Die Möglichkeit, mehr Freizeit und damit einen höheren Wohlstand zu genießen, kann darüber hinaus nicht aufgenommen werden.

Würde man diese Aspekte bei der Analyse und Beurteilung der Wirtschaftskraft eines Landes, einer Region, eines Bundeslandes, einer Kommune einbeziehen, dürfte eine sinnvollere Bewertung des Wohlstandsniveaus der Bevölkerung möglich sein.

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