Der Schrei des Jaguars

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Der Schrei des Jaguars
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Der Schrei des Jaguars

Danksagung

Meine besondere Dankbarkeit und Liebe gilt meinem "computerfähigen"' Sohn Michael. Weiterhin meiner Mutter, welche mir mit ihrem unschlagbaren Sprachgefühl zu jeder Tages-und-Nachtzeit zur Verfügung stand. Und zuletzt in memoriam an Benjamin.

Kapitel 1
Die Reisenden

Die Passagiere, die schon in dem roten klapprigen, aber noch funktionsfähigen Bus saßen, sahen gleichmütig aus dem Fenster und beobachteten das lärmende Treiben ihrer Stadt Lima oder unterhielten sich mit Verwandten und Bekannten, die sie hierher begleitet hatten. Draußen, an einem der Busfenster hinter dem Fahrer, stand ein alter Herr im hellen Anzug mit einem Stock in der Hand, auf den er sich gelegentlich stützte, und einem hellen Hut auf dem ergrauenden Haar, der ihn vor der glühenden Sonne schützen sollte. Er hatte ein schönes altes Gesicht mit lebhaften dunklen Augen und sprach auf eine Frau und deren Tochter ein. Besorgt und ermahnend klang seine Stimme. Die Frau im Innern des Busses wollte manchmal etwas ungeduldig erwidern, unterließ es jedoch, um den wohlmeinenden Vater nicht zu kränken. Pedro de la Cruz, ein Criollo mit einem guten Schuss Inkablut, hatte seine Tochter Isabella und seine Enkelin Gloria zum Bus begleitet. Als der Bus sich endlich anließ loszufahren, nickte er auch freundlich Teresa Uro zu, die seine beiden Lieben auf dieser Reise begleiten sollte. Teresa Uro war eine Quechua, die auf dem Altiplano (Hochebene) aufgewachsen war und seit ihrem dreizehnten Geburtstag im Hause de la Cruz de Mandt arbeitete. Jetzt war sie siebenundzwanzig und recht zufrieden mit ihrem Schicksal. Ihre Tätigkeit, die aus einer Mischung von Haushaltsführung und Kinderbetreuung bestand, war nicht allzu schwer. Dona Isabella zahlte ein für die Verhältnisse in Lima großzügiges Gehalt. Doch was sie am meisten an ihre Arbeit gebende Familie band, war die jetzt zwölfjährige Gloria, die sie seit ihrer Geburt – zusammen mit deren Mutter – betreut hatte. Als Fünfzehnjährige hatte sie zum ersten Mal die neugeborene Gloria, ein weißhäutiges winziges Geschöpf mit Goldflaum auf dem kleinen runden Kopf, in den Armen gehalten. Von diesem Moment an liebte sie das Mädchen und wurde zu ihrer zweiten Mutter. Gloria, die jetzt zwischen ihr und Dona Isabella saß, hatte das goldblonde Haar von einst behalten. Ihre blauen Augen suchten den Großvater in der kleiner werdenden Menschenmenge. Doch in diesem Moment fuhr der Bus in eine Kurve, und der Abfahrtsplatz verschwand aus ihrer Sicht. Wer Isabella de la Cruz de Mandt und Gloria nebeneinander sah, hätte sie kaum für Mutter und Tochter gehalten. Isabella war eine spanische Schönheit mit schwarzem Haar wie Rabenfedern und den dunklen Augen ihres Vaters und ihrer aus Andalusien gebürtigen Mutter. Doch Isabella, die Deutschland in der Nachkriegszeit besucht hatte, hatte dort ihren Mann Hermann kennen- und lieben gelernt – eine Urlaubsliebe, die ihren Höhepunkt in einer prachtvollen Hochzeit fand. Ein Jahr später, sie waren nach Peru in die Heimat der jungen Ehefrau umgezogen, brachte Isabella Hermanns Ebenbild zur Welt: goldblond mit blauen Augen. Zur Überraschung aller, denn jeder hatte eine Miniatur-Isabella erwartet. Doch leider waren Hermann, ihr Mann, und Dona Luisa, ihre Mutter, bereits verstorben und hatten Gloria nicht mehr weiter heranwachsen sehen. "Mama, mir wird schlecht!", jammerte das Mädchen plötzlich, denn der Bus schaukelte an einem Abhang entlang und die Luft war von allerlei Gerüchen erfüllt und verbraucht. "Nimm ein Bonbon und sieh immer geradeaus!", befahl Isabella kurzentschlossen. Auf der anderen Seite neben ihnen erbrach sich eine junge Frau in eine Plastiktüte, während ihr dreijähriger Sohn ängstlich zusah. Gloria würgte. Ihre Mutter legte einen Arm um sie, und drehte ihren Kopf beiseite."Schau nicht hin, meine Kleine!", mahnte sie sanft. Teresa hielt vorsorglich eine Tüte bereit, die sie rasch aus der Tasche gefischt hatte. Doch die Katastrophe blieb aus. Die junge Frau lehnte sich unterdessen mit geschlossenen Augen zurück. Als Isabella sie aus den Augenwinkeln beobachtete, erschien sie ihr sehr jung, eine ängstliche Chola-Schönheit mit furchtsamen Blick und weich um den Kopf gelegten Locken. Der kleine Junge sah ihr bemerkenswert ähnlich und trug einen dunkelblauen Anzug und eine kleine weinrote Fliege um den Hals. Ohne Zweifel waren sie zu Festlichkeiten unterwegs. Hinter den beiden saßen zwei Quechuamädchen, die unter ihren großen Hüten fast verschwanden, und sich leise unterhielten, kicherten und gickelten – zwei richtige Teenager eben. Die Schaukeltour schien ihnen nichts anzuhaben. Karge, felsige braune Berge wechselten sich mit zaghaft grünenden Tälern ab. In ihnen lagen Dörfer – staubig und grau-braun-grünlich wie ihre Umgebung. Der Busfahrer fuhr vor allem mit Bremse und Hupe, um Schafe, vereinzelt auch Lamas und die dazugehörigen Menschen von der Straße zu vertreiben. Diese blickten gleichmütig auf und gingen gemächlich zur Seite. Für sie war Zeit kein Begriff. Es war nichts, was man in Abschnitte einteilte und danach seinen Tagesablauf einrichtete. Sie waren Bauern und Hirten in ihren merkwürdig stillen, aus kleinen Steinhäusern bestehenden Dörfern – fest verhaftet in ihren Traditionen, bemerkenswert konservativ. Die Jahreszeiten und ihre Tiere diktierten ihr Tun. Auch die Hupe des ungeduldigen Busfahrers nötigte sie nicht zur Eile. Gloria, der nun weniger übel war als zu Anfang, beobachtete das alles mit lebhaftem Interesse. Diese Campesino-Dörfer schienen ihr von ihrem eigenen Leben in Lima soweit entfernt zu sein wie der Mond. Und doch war auch dies Peru – das Land ihrer Mutter und ihr eigenes, in dem sie geboren worden war und aufwuchs. Teresa und Dona Isabella waren trotz des Gerüttels ein genickt. Gloria begann vorsichtig, den Korb, der zwischen ihr und Teresa eingeklemmt stand, zu durchsuchen. "Nimm von den Keksen, die werden dir jetzt am besten bekommen, meine Süße", sagte plötzlich Teresa, die immer noch mit geschlossenen Augen dasaß, zu dem überraschten Mädchen. "Pst, wecke Mama nicht auf!", flüsterte Gloria und biss, sichtlich hungrig, bereits in den dritten Keks. "Sie darf ruhig aufwachen, bald steigen wir aus!" "Aber wir sind doch noch nicht da!" "Wir werden übernachten und reisen morgen früh weiter. Hat dir das niemand gesagt?" "Nein!", lautete die kurze Antwort. Es begann zu dämmern, und von der Bergstraße her war eine größere Ansiedlung zu erkennen. In die meisten Passagiere kam Leben. Einige freuten sich, endlich wieder zu Hause zu sein, die anderen auf ein erholsames Nachtlager für ihre durch gerüttelten Knochen. Der Bus hielt unsanft auf dem Marktplatz der kleinen Stadt an. "Schluss für heute, Leute! Vergesst nicht, morgen geht es sehr früh weiter!", rief der Fahrer mit vor Müdigkeit geröteten Augen den Passagieren zu. Er selbst würde im Bus übernachten, denn die Gefahr eines Diebstahls war zu groß. Der Bus gehörte ihm nicht und Señor Sanchez, der Busunternehmer in Lima, würde ihm das Gehalt pfänden und ihn bis an das Ende seiner Tage praktisch umsonst fahren lassen – eine moderne Variante der Sklaverei. Isabella und die Ihren mieteten sich in einem Mittelklassehotel ein – proper und durchaus bewohnbar für peruanische Verhältnisse. Die Nacht brachte beißende Kälte mit sich, und die Decken des Hotels waren abgenutzt und dünn. So begaben sie sich in voller Bekleidung auf ihre harten Nachtlager. Obwohl Isabella unter ihrem dicken wadenlangen Wollrock eine dicke Wollstrumpfhose und Stiefel trug, kroch die Kälte an ihren Beinen hoch und erfasste ihren ganzen Körper. Gloria und Teresa waren in der Wahl ihrer Reisekleidung klüger gewesen: feste Halbschuhe, lange Hosen, Wollpullover, Ponchos und – nicht zu vergessen – die Sonnenhüte aus Stroh mit den bunten Bändern. Stimmen von angetrunkenen Hotelgästen wurden auf dem Flur laut und kamen näher. "Was sollen wir tun, Dona Isabella?", flüsterte Teresa unruhig. Isabella runzelte die Stirn, stand auf und stellte den Stuhl unter die Türklinke, denn es gab keinen Schlüssel. Doch für die Reisenden bestand keine Gefahr. Die Betrunkenen polterten vorbei zu einem Zimmer am Ende des Flures. Danach war nichts mehr zu hören. Erleichtert packten sie den Proviantkorb aus. Gloria schälte die gekochten Eier, Teresa halbierte die Tomate mit dem etwas zu groß geratenen Küchenmesser, Isabella breitete das saubere Handtuch aus und legte vor jeden ein gutes Stück Brot. Gloria sah sich in ihrer kleinen Kammer um. Weiß getünchte Wände mit Flecken und ein kleines Fenster über der Kopfhöhe. "Es sieht aus wie eine Zelle!", stellte sie fest. "Wie was?", fragte Teresa. "Na, wie eine Gefängniszelle!" "Du hast recht", stimmte Isabella zu. "Nur mit dem Unterschied, dass wir uns selbst einschließen, anstatt eingeschlossen zu werden. Frierst du auch nicht, meine Kleine?" "Bis jetzt noch nicht, Mama." Teresa bürstete ihr langes dickes Haar und flocht es in Seelenruhe zu zwei prächtigen Zöpfen. Obwohl Zöpfe als hinterwäldlerisch galten, hatte sie mutig diese Haartracht auch in Lima beibehalten. Nur ihre Kleidung hatte sie der Stadt angepasst. Isabella zog die Haarspange aus ihrem weich geschlungenen Knoten. Sie war zu hart, um darauf zu schlafen. Sie freute sich auf das Wiedersehen mit ihren ehemaligen Studien- und Arbeitskollegen. Es verwunderte sie nur, dass dieses Lehrertreffen nicht in Lima stattfand, sondern in einem kleinen Ort Mittelperus – nahe den Regenwäldern. Das hatte womöglich politische Hintergründe, und es war besser, nicht genau danach zu fragen. Wohnen würden sie bei einer Freundin Isabellas, die in diese Stadt geheiratet hatte. Mercedes hatte darauf bestanden, dass sie bei ihr einkehrten, denn sie war in ihrer, leider kinderlosen, Ehe einsam und sehnte sich nach den Gefährten ihrer Jugend, mit denen sie ihre Erinnerungen an das pulsierende Leben Limas austauschen konnte. Außerdem war Isabella eine wirklich gute Freundin gewesen, und sie schätzte sie auch um ihrer selbst willen. Gloria hatte so lange geschmollt, gebettelt und der Mutter in den Ohren gelegen, bis diese ihrem einzigen Kind nicht mehr widerstehen konnte, und sie nebst Teresa Uro mit auf die Reise nahm. Pedro de la Cruz hatte vergebens sein Veto eingelegt: Das Kind sei von zarter Gesundheit, und Reisen sei in diesem Lande oft übermäßig strapaziös – womit der alte Herr durchaus Recht hatte. Doch die eigenwillige Zwölfjährige hatte sich durchgesetzt: Sie habe Ferien, sie wolle endlich auch etwas von Peru sehen. Außerdem fahre sie ja nicht allein. Mama und Teresa würden sie nicht aus den Augen lassen. Da gab auch der Großvater nach. Als er die drei zum Bus brachte, befielen ihn wieder diese dunklen unguten Ahnungen, die ihn schon die Nacht vorher gequält hatten. Er schalt sich jedoch einen alten Toren, dessen innere Unruhe von seinem kränkelnden Herz, das sich ab und an durch Anfälle bemerkbar machte, herrührte. Der Seelenzustand Don Pedros war den drei Abreisenden verborgen geblieben. Jetzt lagen sie fröstelnd in einer Herberge und versuchten Schlaf zu finden. Es wurde eine unruhige kurze Nacht. Weitere Hotelgäste lärmten singend und angeheitert durch den Flur. Gloria wälzte sich hin und her und Teresa schien von Alpträumen geplagt zu sein. Doch als es zu dämmern begann, verließ Glorias Zweitmutter leise die Kammer und kam nach einer Weile mit einem neu aufgefüllten Proviantkorb zurück. Isabella band gerade ihr Haar im Nacken zusammen. "Guten Morgen, Dona Isabella!", grüßte die Eintretende. "Guten Morgen, Teresa – kannst du mir helfen, die Spange festzumachen?" "Ja, sofort." Teresa stellte den Korb auf dem Bett ab und ging geschickt ans Werk. Die Spange saß im Handumdrehen. Dann weckte sie Gloria, die nur widerwillig erwachte. Isabella fuhr mit dem Zitronenholzkamm, den sie noch nicht weggepackt hatte, durch das halblange dichte glatte Goldhaar ihrer Tochter, die einen verschlafenen murrenden Laut von sich gab. Hermanns Kind war ein ausgewachsener Morgenmuffel! Angesichts dessen, was Teresa da zum Essen auspackte, wurde Gloria jedoch schlagartig hellwach! "Aber Mama, zum Frühstück kann ich doch keine Camote (Süßkartoffel) essen!", protestierte sie lautstark. "Du kannst! Mit leerem Magen fährst du nicht los!", erklärte Isabella in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Gloria verzog einen Moment das Gesicht, als ob sie weinen wollte – unterließ es dann aber. Sie war schließlich kein Kleinkind mehr, oder? Mutig drückte sie ein weich gekochtes Ei, eine noch dampfende Camote, die sie mit Salz würzte, und ein Glas Milch unter den strengen Blicken ihrer Mutter in sich hinein. Mit leidender Miene saß sie da, obwohl es ihr zu schmecken begann und sich Camote zum Frühstück als durchaus bekömmlich erwies. Nachdem Isabella die Rechnung bezahlt hatte, schlenderten sie zum Marktplatz. Der rote klapprige Bus stand an der gleichen Stelle, der Busfahrer erkannte in den dreien seine Passagiere und öffnete die Tür. "Ihr seid die ersten, steigt ruhig schon ein!" "Danke!", erwiderte Isabella knapp und ärgerte sich über den neugierigen Blick, mit dem er Gloria musterte. "Eine Gringa ?", fragte der Mensch. "Nein, meine Tochter", antwortete sie kühl. "Na, so was! Aber hübsch ist sie, Ihre Kleine, Señora!", bemerkte er noch und wandte seine Aufmerksamkeit einem kleinen Radio zu. Vergebens versuchte er, den gewünschten Kanal einzustellen. Eine halbe Stunde später konnte der Bus starten. Die Zusammensetzung der Passagiere hatte sich verändert. Zur geheimen Überraschung Isabellas fand sich auch wieder die ängstliche Chola-Schönheit mit ihrem kleinen Sohn ein, immer noch in den Festkleidern. Man sah ihnen an, dass sie froren. Neben den beiden ließ sich eine rundliche, hübsche und fröhlich-laute Markthändlerin nieder, die auch nicht mit Bemerkungen über die unpassende Kleidung ihrer zwei Mitreisenden sparte. Die junge Mutter erwiderte kein Wort und sah entweder verlegen auf den Boden oder aus dem Fenster. Da aber die Marktfrau eine gutmütige Person war, stellte sie ihre Kritteleien ein und gab dem Jungen etwas von ihren Süßigkeiten ab, die dieser zögernd annahm. Zum ersten Mal öffnete die Chola-Schönheit den Mund und brachte mit einer hellen Silberglockenstimme ein leises Danke heraus. Der Bus gab in jeder Kurve unsympathische Geräusche von sich, aber er blieb nicht stehen. Sie waren drei Stunden unterwegs, als Teresa Gloria anstieß und aus dem Fenster deutete. "La Selva !", erklärte sie einfach. Mit "la Selva" war in Peru der Urwald gemeint und Gloria bekam ihn zum ersten Mal im Leben zu Gesicht. Beeindruckt beäugte sie diesen unübersehbaren Horizont voller Bäume, über denen vereinzelt Nebelschwaden hingen. Sie fuhren genau die Grenze zwischen Sierra (Gebirge) und Selva entlang. Blickte Gloria nach oben, wurde sie der Kargheit der grünenden Berge gewahr, blickte sie nach unten, lag ihr "la Selva" zu Füßen. Dann gingen sie in eine sehr scharfe Kurve. Der Bus gab merkwürdig asthmatische Töne von sich, und einige Passagiere hielten gespannt die Luft an. Aber der Klapperkasten hielt durch! Teresa führte lebhafte Gespräche mit einem Indio-Ehepaar mittleren Alters. Der Mann war der Alcalde (Bürgermeister) eines größeren Dorfes. Als Zeichen seiner Würde trug er einen silberbeschlagenen Stab bei sich, den er fast zärtlich hielt und sorgsam hütete. Auch auf dieser Reise hatte er nicht auf ihn verzichten wollen. Die Gespräche wurden auf Quechua geführt, und Gloria bedauerte, dass sie fast nichts davon verstand. Bis sich die vorzeitig gealterte, aber freundliche Gattin des Alcalde in einem etwas mühsamen Spanisch an sie wandte. Das erlöste das Mädchen für gut eine halbe Stunde aus ihrer wachsenden Langeweile. Die Bergstraße verbreiterte sich zusehends, verwandelte sich langsam in eine Art Ebene. Da es jetzt stetig bergab ging, bekamen die meisten Passagiere einen Unterdruck im Ohr. Der hagere, nervöse Busfahrer kniff seine leicht kurzsichtigen Augen zusammen. Lag da nicht ein dunkler langer Gegenstand quer über dem Weg? Eine warnende Unruhe erfasste ihn! Langsam bremste er den mit hoher Geschwindigkeit rollenden Bus ab. Tatsächlich – ein großer Baumstamm versperrte den Weg direkt vor einer scharfen Kurve. Zwei Meter vor dem lehm beschmierten hölzernen Ungetüm kam der Bus mit einem Ruck zum Stehen. Der Busfahrer drehte sich gerade zu seinen überraschten Fahrgästen um, um sie zur Beseitigung des Hindernisses aufzufordern, als die Chola-Schönheit einen hellen durchdringenden Schrei ausstieß. Sie hatte, ganz vorne sitzend, als erste die Gestalten mit den Gewehren in der Hand wahrgenommen! Der Busfahrer fuhr herum wie ein in die Falle geratenes Tier. Schlagartig herrschte Totenstille in dem Wagen. Jeder konnte sehen, dass es sich nicht um Banditen, sondern um eine Art Guerilleros handelte. Isabella hatte das Empfinden, als ob ihr jemand mit voller Wucht in den Magen geboxt hatte – so übel wurde ihr vor Entsetzen! -, und Gloria drückte sich zitternd, mit vor Schreck riesigen Augen an sie. Isabella umschlang sie. "Ganz ruhig, meine Kleine, ganz ruhig!", hauchte sie in das Ohr ihrer Tochter. Teresa umklammerte krampfhaft den Henkel des Korbes. Unter ihrer braunen Haut wurde sie aschgrau. Einer der Typen befahl mit schnarrender Stimme den Ausstieg. Zur Unterstützung seines Befehls richtete er den MG-Lauf auf die erstarrten Passagiere. Es waren sieben, die ihre siebenunddreißig Gefangenen mühelos in Schach hielten und sie wie eine willige Schafherde vor sich hertrieben. Hinter der scharfen Kurve lag am Wegesrand eine verlassene Chacra- ein kleines bäuerliches Anwesen . mit zwei verfallenden Gebäuden. Vor dem größeren blieben sie stehen, mussten sie stehenbleiben. Der Guerilla-Anführer Suarez trat näher und musterte seine menschliche Beute düster mit glänzenden ironischen, bösen Murmelaugen. "Hör auf zu heulen, du dummes Weibsstück!", herrschte er die Chola-Schönheit an, der unentwegt die Tränen aus den mit Panik erfüllten Augen flossen. "Na, wird‘s bald?", schrie er weiter und ergötzte sich insgeheim an ihren Ängsten. Einer der Guerilleros stand etwas abseits und beobachtete die Szene mit kaum verhohlenem Unwillen. Sein Schnurrbart zuckte nervös. Eduardo Carillo war Kubaner und sollte im geheimen Auftrag seiner Regierung Kontakte zu linken Gruppen in den Andenländern knüpfen. Außerdem sollte er herausfinden, bei welchen es sich lohnte, sie zu unterstützen. Eine Woche war er jetzt mit den "Nuevos hombres" -den „Neuen Menschen“ - des Commandante Suarez unterwegs. Was Carillo da miterlebte, missfiel ihm sehr, denn die "Nuevos hombres" glaubten anscheinend, die Umerziehung des Volkes bestehe darin, es bis auf einen lohnenden willfährigen Rest einfach auszurotten. Genosse Suarez nahm sich ohne Zweifel den massenmordenden Genossen Stalin zum Vorbild! Mit Unbehagen fragte sich Carillo, was aus den zitternden Reisenden da werden sollte! Suarez und seine Mannen trieben sie gerade in das größere, stabilere Gebäude hinein. Donnernd schlug die Tür zu. Ein sehr junger Guerillero wurde als Wache davor postiert. Sie verhielten sich wie eine wortlose dumpfe Masse. Erst nach Minuten des Eingeschlosseseins wagten es die Überfallenen, sich zu regen. Die Chola-Schönheit erlaubte es sich jetzt, hörbar zu schluchzen, der Busfahrer wanderte zitternd und lamentierend auf und ab. "Was die mit uns machen werden! Was für ein Land! Umbringen werden sie uns alle, umbringen! Por Dios – und die armen Frauen erst!" Bevor der Mann noch ausführlicher werden konnte, griff der Alcalde energisch ein. "Sei endlich still! Willst du alle anderen verrückt machen? Halt den Mund und setz dich!", befahl er voller Autorität. Der Busfahrer wollte zornig aufbrausen, denn als Cholo aus Lima fühlte er sich jedem ländlichen Indio weit überlegen – auch einem Alcalde! Doch in den Augen des Mannes lag so viel gebieterische Macht, dass er schwieg, sich hinsetzte und sich über sich selbst wunderte. Das breite dunkle Gesicht des Alcalde spiegelte steinerne Ruhe wider, als er abermals sprach: "Wir wissen nicht, was geschehen wird. Aber rechnet mit allem und ergreift jede Chance zu fliehen, wirklich jede!" Wieder breitete sich Totenstille aus. Isabella hielt Gloria fest an sich gedrückt. Was hätte sie darum gegeben, jetzt beten zu können! Welch eine Kraft hatte Hermano – so hatte sie ihren Mann Hermann genannt – vor seinem Tod im Gebet gefunden! Durch seine Krankheit war er zunächst ein sehr schwieriger Mann geworden. Nicht mehr vergleichbar mit dem Menschen, den sie geliebt und geheiratet hatte! Drei Jahre lang hatte sie ihn betreut, eine leidende, von Schmerzen gequälte Kreatur, die versuchte, ihre Pein in Alkohol zu ertränken. Jeder Tag hatte trübe begonnen und noch trüber geendet. Die furchtbaren Folgen einer schweren Kriegsverletzung hatten den scheinbar genesenen und für Jahre gesunden Mann wieder in ein Wrack verwandelt. Bittere Jahre waren das für Isabella und die kleine Gloria gewesen. Nein, Gewalt war nie im Spiel gewesen! Noch nicht einmal im alkoholisierten Zustand war Hermano jemals gewalttätig geworden, doch plagte er seine kleine Familie seelisch. Sein kleines Ebenbild Gloria liebte er zwar abgöttisch, aber das Kind wurde ihm, dem Schwerkranken, oft auch lästig, und dann verjagte er es unwirsch. Isabella hatte sich des Öfteren gefragt, in wieweit sich Gloria an diese Zeit erinnerte, denn sie sprach kaum darüber. Gerade in dieser entscheidenden Lebensphase der Kindheit hatte Gloria ein Wechselbad der Gefühle durch den kranken, sterbenden und schließlich toten Vater erlebt! So war Isabella sehr dankbar für die Anwesenheit ihres eigenen Vaters gewesen. Abuelo (Großvater) Pedro war stets der ruhende Pol in Glorias Dasein gewesen, ein Ersatzvater mit einem ungewöhnlich ausgeglichenen Wesen und der stets gleichstarken Liebe, die der eigentliche Vater nicht mehr hatte zeigen können. Doch dann, vier Monate vor seinem Tod, war eine Änderung bei Hermano eingetreten. Er, der in religiösen Dingen überkritische Mensch, hatte sich Gott zugewandt und sein Leben Jesus, dem Sohn Gottes, übergeben. Erstaunlich schnell änderte er sich. Von einem Tag zum anderen waren die Schnapsflaschen aus dem Haus verschwunden. Dann wich auch die nackte Verzweiflung – und der so unfreundlich gewordene Mann gab kein lautes Wort mehr von sich. Er versuchte das gutzumachen, was er zerstört hatte. Für den Rest seines verbleibenden Lebens wurde er wieder zum liebenswerten Ehemann wie zu Anfang ihrer Ehe. Auch als Vater wurde er der, den sich Gloria so vergeblich gewünscht hatte. Aber das Kind konnte diesem Wandel nicht mehr folgen und verkroch sich misstrauisch hinter dem Rockzipfel seiner Mutter und seines Abuelito. Schließlich starb Hermann Mandt im Alter von siebenunddreißig Jahren – versöhnt mit Gott und der Welt. Und der, dem er die letzten Monate seines Lebens konsequent gefolgt war, geleitete ihn sicher in sein ewiges Reich. Isabella wusste, dass diese Wandlung durch seinen Glauben an Jesus und an das Wort Gottes – die Bibel – gekommen war. Und plötzlich, als sie in den Händen von gefährlichen Terroristen in dieses düstere Gebäude eingesperrt war, bereute sie zutiefst, dass sie selbst nie die Bibel zur Hand genommen hatte, um den Glauben darin zu finden, der Hermano so sichtbar Kraft und Zuversicht geschenkt hatte. Und jetzt sollte alles zu spät sein? Sie wusste noch nicht einmal, wie und was man betete – in einer solchen Situation! Isabella sah auf und ihr Blick traf sich mit dem Teresa Uros. Und sie spürte, dass auch diese sich gerade an Don Hermano erinnerte. "Er hatte die Hoffnung, die uns jetzt fehlt", teilten die schwarzen Augen Teresas Isabella stumm mit. Die Tür wurde unvermittelt aufgerissen. Knarrend und ächzend donnerte sie heftig gegen die Außenwand. Geblendet durch das plötzlich hereinfallende grelle Licht kniffen die meisten der Gefangenen die Augen zusammen. Commandante Suarez stampfte in den Raum. Die bösen Murmelaugen wanderten von Gesicht zu Gesicht, als ob sie irgendetwas oder irgendjemanden suchten. Dass draußen gestritten worden war, war von keinem der Gefangenen überhört worden. Doch auch denen mit einem scharfen Gehör war der Inhalt entgangen. Und so wussten sie nicht, was auf sie zukam. Suarez deutete, scheinbar wahllos, auf einige der Unglücklichen. "Du da – und du, ja du auch – ihr kommt mit raus!", kommandierte er ungnädig. Zu den Ausgesuchten gehörten die rundliche – jetzt gar nicht mehr fröhliche – Marktfrau, der Busfahrer, dem sichtlich der Schweiß ausbrach, der Mann – ein Mestize mit einem klugen Gesicht -, der nur einen Meter von Teresa entfernt auf dem Boden gesessen hatte – so still und wortlos wie er die gesamte Fahrt über gewesen war. Dann wurde noch die wimmernde Chola-Schönheit, nebst Sohn, und zuletzt auch Isabella hinaus kommandiert. Gloria war wie betäubt, als ihre Mutter sich langsam erhob. "Trenne dich keine Minute von ihr! Ohne dich ist sie verloren! Ich vertraue sie dir an!", flüsterte Isabella Teresa eindringlich zu, die tieftraurig nickte. "Glorias Leben ist mein Leben!", gab sie schlicht zurück, und es klang wie ein Gelöbnis. "Und du, meine Kleine, wirst tun, was Teresa sagt! Wir sehen uns bald wieder!" Ehe Gloria etwas erwidern konnte, hatte ein Guerillero Isabella ungeduldig aus dem Gebäude gezerrt. Was sich im Folgenden draußen abspielte, sollte Gloria erst Jahre später auf überraschende Weise erfahren. Sie warteten – schier endlos. Sie bekamen Durst und Hunger und wagten es nicht, sich zu rühren. Sie warteten so lange, bis sie fast zu erschöpft waren, um sich noch weiter zu fürchten! Plötzlich knallten Schüsse – mal näher, mal weiter entfernt. Unbewusst zogen die meisten die Köpfe ein. Dann war es still! Vollkommen still! Der Alcalde erhob sich entschlossen, schlich zum Eingang und lauschte nach draußen. "Sie sind weg!", stellte er überrascht fest und öffnete vorsichtig die Tür. Die anderen, auch Teresa und Gloria, drängten ihm nach ins Freie. Man hatte sie tatsächlich unbewacht zurückgelassen! Da wurden in der Ferne erneut Schüsse laut. "Sie kommen zurück! Los, lauft weg!", rief einer der Gefangenen, ein Bauer, den anderen zu, die gleich ihm Serranos -Leute aus den Bergen - waren, und lief bergan. Die anderen folgten ihm. Nur Teresa zögerte, packte dann aber Gloria am Handgelenk und zog sie kurzentschlossen hinter sich her – in Richtung Urwald – weg von den Bergen! Eine Entscheidung, die das Leben der beiden retten sollte! Gloria versuchte, sich aus Teresas festem Griff zu befreien. "Wir müssen nach Mama suchen", schrie sie, "wir können Mama doch nicht alleine zurücklassen!" "Wir gehen weiter, wir müssen! Hörst du nicht? Sie kommen näher! Wir sind so gut wie tot, wenn wir uns nicht beeilen! Deine Mama liegt in Gottes Hand!", schrie Teresa zurück, keuchend und mit verzerrtem Gesicht, so energisch, wie Gloria es noch nie bei ihr erlebt hatte. Das verzweifelte Mädchen gab nach und im Laufschritt ging es bergab. Teresa hielt Glorias Handgelenk weiter fest umschlossen. Bei jedem Geräusch hinter ihnen zuckten sie zusammen. Gloria bekam sogar eine Gänsehaut. An dieses Gefühl der Bedrohung im Rücken sollten sich beide ihr Leben lang erinnern. Endlich, ja endlich erreichten sie "la Selva" und waren damit aus der Sicht eventueller Verfolger. Der Urwald nahm sie in seinen Dunstkreis auf – schützte und bedrohte sie zugleich und wurde für ein halbes Jahr ihr Schicksal.

 
 

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