Mord ohne Schatten

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Mord ohne Schatten
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Mord ohne Schatten

Danksagung

Meine besondere Dankbarkeit und Liebe gilt meinem "computerfähigen" Sohn Michael. Weiterhin meiner Mutter, welche mir mit ihrem unschlagbaren Sprachgefühl zu jeder Tages- und Nachtzeit zur Verfügung stand. Und zuletzt in memoriam an Benjamin.

Kapitel 1
Tack tack tack

Tack, tack, tack ——- . Der eilige Begleitrhythmus einer gerade noch rechtzeitig Angekommenen. Leonora beeilte sich, im fensterlosen, daher muffigen Umkleideraum, baumelnde Silberohrgehänge gegen medizinische Goldstecker und schwarz silbrig- metallfarbene Halbschuhe gegen medizinisch weiße Stationsschleicher auszutauschen. Da fiel es ihr wieder ein: Saskia, das verschlagene intrigante Biest, harrte ihrer heute als Schichtleitung. Oh, oh was für Aussichten! Saskia, schräger Blick aus schiefergrauen Augen , sorgfältig geschminkter Schmollmund, der anscheinend außerstande war, die Worte „positives Denken und Reden“ auch nur auszusprechen. Und der außerhalb ätzender Kritik und übler Nachrede merkwürdig stumm blieb. Kunstblonde, leicht strähnige Kringellöckchen und Rauchschwaden schwerer Zigaretten, welche sie bei jeder Gelegenheit um sich verbreitete, rundeten das Bild ab. Doch vorerst blieb ihr die „liebe“ Saskia erspart. Stattdessen kam ihr Erika, die Nachtwache, entgegen. Bleich, das heißt bleicher als sonst nach einer turbulenten daher strapaziösen Nachtwache- „Ah, Leonora, gut, dass du kommst!“ „Was für Töne...“ schoss es Leonora fast befremdet durch den Kopf. Seit wann war sie auf der A1 – Station der Augenheilkunde willkommen? Momentan verdichtete sich eher ihre Ahnung, dass sie auch in Zukunft unwillkommen sein würde. Zuweilen fragte sie sich, ob sie das denn nötig hatte. Sie mit ihren dreiunddreißig Jahren und der zehnjährigen Berufspause! Sie mit ihrer allzu vorzeitigen Verwitwung und ihrem finanziellen Hintergrund, der eine Berufsausübung nicht zwingend vorschrieb. Ja, hatte sie es wirklich nötig, sich von einer Handvoll Leuten mit Intrigen, platten Bosheiten und üblem Geschwätz plagen zu lassen? Von dem destruktiven ach so „bewährten“ Kern des Stationsteams? Welch ein Trost, dass es allen Neuanfängern so ergangen sein sollte wie ihr. Wie man ihr hinter vorgehaltener Hand mitgeteilt hatte. Ach zum Kuckuck mit ihren Ahnungen und dem “Stations Klatsch!“ Vielleicht würde sich doch noch alles einrenken. Wenn sie. . . Leonora hält in ihren Gedanken inne. Ja was, wenn sie. . . . Erikas knapper Bericht über ein für eine Augenstation eher ungewöhnliches Ereignis – einen Exitus nämlich – ließ Leonora alles vergessen und versetzte sie in ein ungläubiges Staunen. Joachim Hitzbleck ? Der war doch noch keine vierzig! Leonoras graue Gehirnzellen liefen auf Hochtouren. Sie versuchte sich des Patienten genauer zu erinnern. Hitzbleck Joachim – grauer Star – beidseitig – OP erfolgreich... da war doch noch etwas... Ach ja, er war ein spritzenpflichtiger Diabetiker, allerdings mit einer niedrigen Insulineinheit. Hatte sich und sein kleines Malheur , O-Ton Hitzblecks, gut im Griff. Leonora versuchte weiter, sich an den Menschen Hitzbleck zu erinnern. Äußerlich unauffällig, ja mausig. Das Benehmen betont höflich aber beifallheischend. Ein Witzchen da, ein Witzchen dort. Nichts Derbes, aber immer und irgendwie auf Kosten weiblicher Mitmenschen. Blondinen, Hausfrauen und Schwiegermütter zum Beispiel. Leonoras Empfindungen entsprachen jemandem, der sich „verschnupft“ fühlte, aber definitiv nicht mehr sagen konnte, seit wann, wo und wodurch. Ansonsten schien es nichts zu geben, weswegen man sich des Toten hätte erinnern können. Nun, drei Tage waren auch eine allzu kurze Zeit. Etwa dreiundzwanzig Stunden nach der Operation war der Exitus eingetreten. Ursache unbekannt. Ein Pathologe würde sich der Sache annehmen. Soviel wusste Erika zu berichten. Sie gähnte und zog sich ihre grau-bunte Strickjacke, selbst gestrickt während sich lähmend dahin ziehender Nachtwachenstunden, über und beeilte sich sichtlich, dem Ort des Schreckens zu entkommen. Ein hastiges Ade – und weg war sie. Leonora begann fast mechanisch, den Verbands- und Medikamentenwagen für die Uhr Runde herzurichten, als eine nicht nur wie üblich schlecht gelaunte, sondern geradezu düstere Saskia mit Sven im Schlepptau erschien und wortlos die Regie, sprich den Medikamentenwagen übernahm. Leonora verzog sich wohlweislich und eilends mit Sven, dem hellblonden, schlaksigen, ökobewussten Jungpfleger zum Betten. Wie immer. Im Laufe des Morgens gab es natürlich mehr Geheimniskrämerei als sonst. Leonora übergangen und geschickt ausgeschlossen. Auch wie immer. Ach, die konnten ihr doch den Buckel runterrutschen! Leonora fand einen gewissen Trost bei dem Gedanken an die morgige Samstagsbeilage der Tageszeitung. Sparte Stellenangebote – examinierte Krankenschwester für Teilzeit gesucht... Falls sich doch nichts einrenken würde. Hitzbleck wurde merkwürdigerweise nicht mehr erwähnt. Leonora ging ins Wochenende und vergaß ihn. Montags, fünf Uhr in der Früh. Leonora versuchte in die Gänge zu kommen. Morgenmuffel war eine zu schwache Bezeichnung für ihren Datozustand. Morgenekel wäre treffender gewesen. Ihr zehnjähriges Herzblatt – Sohn Robin – war gut und sicher bei ihren Eltern untergebracht. Die Samstagsbeilage hatte kein brauchbares Angebot enthalten, und sie bekam schlechte Laune, wenn sie nur an die A1 dachte. . . Leonora schlürfte gedankenlos Kaffee aus dem Herzchenbecher und verbrannte sich prompt die Lippen. Sie zischte ein „allen Kindern verbotenes Wort“, goss sich fettarme H-Milch nach und verleibte sich ihren merklich abgekühlten Milchkaffee durstig ein. Dann wiederholte sie in einer Art kindischem Wohlgenuss und Erleichterung jenes „allen Kindern verbotene Wort“. Robin, ihr kleines Echo auf zwei Beinen, und die Eltern, ihre Ex-Erzieher, waren ja außer Hörweite. Und das Gruselkabinett A1 war nah... vor allem zeitlich gesehen. Sie musste los, da half nichts. Seufzend machte sie sich auf den Weg. . . Morgens um sechs in der Früh. Auf der A1 das gewohnte Bild eines Frühdienstbeginns. Missmut, Gähnen, erkalteter Restkaffee der Nachtwache und der verheißungsvolle Duft eines neu Aufgebrühten. Wieder oder immer noch kein Wort von Hitzbleck. Die übliche Arbeitsteilung war angesagt. Leonora und Sven - Betten und Pflegen diverser gebrechlicher Patienten. Saskia und ihrer kommissarischen Stellvertreterin Conny – heimlich und lieblos Wabbelbacke genannt – blieben die reinlicheren, weniger strapaziösen Tätigkeiten vorbehalten. Wabbelbacke war übrigens Saskias Busenfreundin und hatte Kleidergröße „Doppelzelt“ – aber ein hübsch geschnittenes Gesicht mit einer schmalen, etwas spitz zulaufenden Nase, die sie oft genug neugierig vor streckte und Leonora an eine schnuppernde, schnüffelnde Ratte denken ließ. Doch an diesem Montag gab es übermäßig viel zu tun. Der OP nahm allzu pünktlich seine Tätigkeit auf. Dazu wartete vor dem Stationszimmer eine ganze Schlange zu früh eingetroffener stationär aufzunehmender Patienten. Irgendwelche Gedanken an die intrigenfreudigen Kollegen oder den Exitus sanken für Leonora zur Bedeutungslosigkeit herab. Sie rannte, machte, tat und erledigte. Zeitweise zwei, drei Dinge auf einmal und sagte sich, dass dieses Hochleistungsniveau nur begrenzt durchzuhalten sei. Die Frühstückspause bzw. das, was von ihr übrig geblieben war – bestand aus einem angeknabberten Honigbrötchen. Hastig hinunter geschlungen – zwischen Tür und Angel. Angesichts der Arbeitslawine, die über sie hinweg rollte, wurde Saskia absolut ungenießbar. Ihre Stimmung erreichte einen rekordverdächtigen Tiefpunkt. Jeder, der ihren Weg kreuzte, wurde mit Grobheit und ätzendem Gefauche bedacht. Ausgenommen waren nur Busenfreundin Conny und die Ärzteschaft. Saskia wusste doch, was sich gehörte! Getreten wurde selbstverständlich immer nur nach unten! Leonora sah zu, dass sie sich möglichst da befand, wo Saskia nicht zugegen war! – Ein Unterfangen, das leider nur teilweise in die Tat umzusetzen war, denn solche Allgemeinorte wie Stationszimmer und Funktionsräume waren nicht dauernd zu umgehen. Die Stunden flogen dahin, bis sich das Personal verspätet zur Übergabe einfand. Als Leonora sich auf den wackligen Stuhl fallen ließ, durchschoss sie zum ersten Mal ernsthaft der Gedanke an eine fristlose Kündigung ihrerseits. Was um Himmelswillen... was?... war nur aus der Klinik, in der sie ihre Ausbildung zur Krankenschwester gemacht hatte, geworden? Obwohl wenn sie ehrlich mit sich selbst sein wollte, musste sie sich eingestehen, dass bereits vor zehn Jahren die Augenstation mit einem Ruf des Schreckens bei dem Klinikpersonal behaftet war. Eine „Horrorstation“ in dem leicht abgelegenen Trakt eines ansonsten ganz brauchbaren Klinikums im Kraichgauer Hügelland. Sie hätte es wissen müssen, hatte es aber nicht wissen wollen – in ihrem Bedürfnis, nach zehnjähriger Berufspause wieder einzusteigen! Nun ja, die Kündigung würde sich leicht bewerkstelligen lassen, da sie sich ja noch in der Probezeit befand. Doch wie so oft kam alles anders als sie dachte. Zu der Übergabe fand sich ein Überraschungsgast ein, der ihr quasi einen Strich durch die Rechnung machte. Er stand mit verschränkten Armen halb im Schatten heruntergelassener Jalousien an den Türrahmen gelehnt. Niemand hatte sein Kommen bemerkt. Kühl und sehr ruhig lag sein Blick auf der Runde. Als sie ihn bemerkte, trat er aus dem Halbschatten und stellte sich als ermittelnder Beamter vor. Schlagartig verstummte jedes Gespräch. Leonora drehte sich auf dem Stuhl herum, denn sie saß mit dem Rücken zur Tür. Ihr Blick kreuzte sich mit dem des Mannes. Er stutzte, spürte ein starkes Kribbeln in der bissförmigen Narbe an seinem rechten Unterarm. Mit dem Kribbeln kam schlagartig die Erinnerung an ein blauäugiges Mädchen, das ohne Rücksicht auf eigene Verluste eine heftige Prügelei zwischen ihm und ihrem Bruder mit einem tiefen Biss in seinen Arm beendet hatte. Nie mehr in seinem Leben hatte er eine solch kalte Entschlossenheit in den Augen eines weiblichen Wesens gelesen. Dreizehn waren er und der Bruder gewesen – Klassenkameraden – und sie verdroschen sich aus völlig irrationalen Emotionen schier ohne Ende. Zu seiner Schande, das musste er sich eingestehen, ging ein Großteil der Provokation und der daraus resultierenden Handgreiflichkeiten auf sein Konto. Zu keinem Menschen hatte er in einem derartig heftigen Verhältnis gestanden. Weder vorher noch nachher. Warum? Das blieb auch ihm ein unlösbares Rätsel. Bis auf den heutigen Tag. Und nun saß das kleine entschlossene Mädchen als ausgewachsene Frau und Krankenschwester vor ihm. Jetzt erst tauchte das Erkennen in ihrem Gesicht auf. Sie stockte und wandte sich leicht irritiert ab. Das war doch nicht?! Doch, das war der Seeberg! – Du liebes Lottchen, der hatte noch gefehlt! – Nun ja, wahrscheinlich war er nicht mehr das rauflustige Bürschlein von einst. Dafür sprach seine Berufswahl. Christian Seeberg und ihr Bruder Daniel. Das war ein Kapitel für sich gewesen! An dem hinter ihr stehenden Mann hatte sie die einzige Gewalttätigkeit verübt, die sie niemals bereut hatte. Denn danach war es zwischen den beiden zu einer Art Waffenstillstand gekommen. Und nun stand er hier als ermittelnder Beamter, der alles und jeden durchleuchten und das Unterste nach oben kehren würde. Das war nicht nur Leonora klar. Seeberg teilte ihnen knapp mit, dass Hitzbleck einer Überdosis Insulin erlegen war. Eine Hypoglykämie (Unterzuckerung) mit letalem Ausgang. Der Kollege sei bereits dabei, die Insulinbestände der Station zu überprüfen. Die Zahl Insulinampullen würde mit den täglichen Insulingaben verglichen werden. Saskia seufzte leise und gequält auf und sah hilflos in die Runde. Alle schwiegen, aber jeder dachte bei sich, dass die ohnehin schon stressigen Arbeitstage noch unerquicklicher ablaufen würden, wenn überall ermittelnde Beamte im Wege stünden. Dann folgte der Gedanke an den Mörder, der möglicherweise unter ihnen weilte. Verstohlene – fragende – ja abtastende Blicke gingen hin und her. Seebergs „zweiter Mann“ war still, fast geräuschlos hinter seinen Chef getreten. Leonora sollte sich später in keiner Weise an ihn erinnern können. So unscheinbar waren sein Äußeres, der Klang seiner Stimme, der Inhalt seiner Worte, sein ganzes Auftreten und sogar sein Name! Sein gesamtes Kapital lag in seiner weit überdurchschnittlichen Intelligenz begründet. Ein fotografisches Gedächtnis, analytische Begabung und zähe, detailversessene Übergenauigkeit reichten sich die Hände und bildeten ein brauchbares Ganzes. Seeberg hielt ihn zuweilen für unersetzbar. Trotz des besseren Wissens, dass dem nicht so war. Welcher Mensch war schon unersetzlich – funktionell gesehen? – Auch der so außerordentlich befähigte Unscheinbar nicht! Und nun hatten sie das Rätsel eines unerklärlichen Todes im Krankenhaus zu lösen. Seeberg und Unscheinbars Nachforschungen waren bereits soweit gediehen, dass sie auf weitere mysteriöse Todesfälle innerhalb der letzten Jahre gestoßen waren. Obwohl damals anscheinend kein weiteres Interesse an einer lückenlosen Aufklärung bestanden zu haben schien. Aufgrund dieser Tatsache war die Möglichkeit, dass sich der Mörder aus den Reihen des Pflegepersonals rekrutierte, nicht auszuschließen. Das würde viele, viele Gespräche und Verhöre mit dem gar nicht begeistert dreinschauenden Team der A1 bedeuten. Seeberg sah ein hartes Stück Arbeit auf sich zukommen. Als erstes würde er mit Saskia Hartmann, der Stationsschwester, beginnen. Kein leichtes Unterfangen – wie ihre abweisende Körpersprache und Mimik signalisierten. Mit einer schlecht verhohlenen Mischung aus Ängstlichkeit und zögerndem Widerwillen nahm sie die Dienstpläne von der Pinnwand ab und übergab sie – Unscheinbar. – Seeberg dankte knapp und erklärte, dass sie morgen wieder an der Wand hängen würden. Die gleiche Totenstille, die seiner Vorstellung gefolgt war, begleitete ihn auf den Flur hinaus. Erst als er und Unscheinbar vor dem Aufzug warteten, erhob sich ein aufgeregtes Stimmengewirr. Leonora behielt die Tatsache, dass sie Christian Seeberg gewissermaßen kannte, klugerweise für sich! Sie saßen aufgereiht, ja geziert da, als ob sie den „polizeilichen Besuch“ erwartet hätten. Sabina Hitzbleck und ihre Mutter Mathilde Brandel. Sabina war siebenundzwanzig, klein, zierlich, haselnussbraune Augen und Haare, zarte ungewöhnlich gleichmäßige Gesichtszüge. Auf den ersten Blick wirkte sie wie eine Fünfzehnjährige. Wobei ihr unsicheres, verklemmtes Auftreten diesen Eindruck noch verstärkte. Ein zu weites schwarzes Kleid schlotterte sichtlich um ihren zarten Körper. Die roten Flecken, die sich auf dem Dekollete und Hals abzeichneten, vertieften sich während des Gesprächs deutlich. Die Mutter schien genau das Gegenteil zu sein. Sechsundsechzigjährig – stark und kompakt an Leib und Seele. Mattbraune Stützstrümpfe verbargen schlecht die starken Krampfadern, die von vier Geburten, Schwerstarbeit – vor allem in Kindheit und Jugend – und einem schwachen Bindegewebe zeugten. Mathilde trug die dunkelgrauen Haare – sorgfältig dauergewellt – aus der eigensinnigen, intelligenten hohen Stirn zurückgekämmt. Ihr aufmerksamer, fast kalter Blick wich keine Sekunde von der Tochter. Welche Frage Seeberg Sabina auch stellte, Mutter Mathilde beantwortete sie. Doch er hörte sich das an, ohne sie zu unterbrechen oder darauf hinzuweisen, dass er eigentlich die Tochter gefragt hatte. Insgeheim zog er seine Schlüsse. Sehr genau sah er sich um. Ließ sich auch weitere Räume außer dem Wohnzimmer zeigen. Irgendetwas löste Irritation in ihm aus. Aber er vermochte nicht zu erkennen was es war. Als sie wieder im Wohnzimmer saßen, wurde eine helle Kinderstimme laut. Joachim und Sabina Hitzblecks zweieinhalbjähriger Sohn Marco war aus seinem Nickerchen erwacht und machte sich bemerkbar. Ein Hemdenmatz mit Pampers Polsterung um den Po. Bei dem unerwarteten Anblick der zwei Fremden fing er an zu weinen, rannte zu seiner Mutter und vergrub seinen runden Kinderkopf in deren Schoß. An ein weiteres Gespräch war nicht mehr zu denken. Denn Sabina war vollauf beschäftigt, ihr kleines süßes männliches Abbild zu beruhigen und zu trösten. Seeberg und Unscheinbar erhoben sich. Seeberg entschied sich schnell, Sabina auf das Revier zu bestellen. Unter anderen, weniger offiziellen Umständen, war ein Einzelgespräch mit ihr anscheinend nicht möglich. Mit dem Kind auf dem Arm brachte sie die beiden Beamten durch den langen Flur zur Haustür. Mathilde Brandel hatte sich ebenfalls erhoben, folgte in einem gewissen Abstand und behielt wortlos die gesamte Szenerie im Auge. Seeberg sprach seine Vorladung auf das Revier aus. Wäre ihr neun oder zehn Uhr recht? Die blass gewordenen roten Flecken auf Sabinas Hals und Dekollete liefen in Sekunden dunkel- rot an. Sie schnappte nach Luft wie jemand, der eine große körperliche Anstrengung hinter sich gebracht hatte. Fahrig werdend setzte sie ihren Sohn auf dem Boden ab und wandte sich Hilfe suchend zu ihrer Mutter um. Und wieder war es Mathilde die antwortete. Ja, zehn Uhr sei recht. Der Herr Kommissar müsse verstehen. Eine solch gute Ehe – das junge Glück zerstört durch einen Mord! Ihre arme Tochter sei am Ende ihrer Nerven! Sabina hatte – wie als Bestätigung dieser Worte – leise zu schluchzen begonnen. Seeberg begütigte die beiden Damen. Selbstverständlich verstehe er die Situation. Es ginge nur um einige kurze unbedeutende Fragen, die aber gestellt werden müssten. Den Damen sei doch auch daran gelegen, dass der Mörder entlarvt und dingfest gemacht werden würde – oder? Mutter und Tochter nickten sofort im Gleichklang. Ein kühler Abschied – die Türe mit den schmiedeeisernen Beschlägen schloss fast lautlos. Es war ein gutes Stück Weg bis zu ihrem Wagen. Die Parkplatzprobleme hatten sich bis in diesen ruhigen Wohnbezirk ausgebreitet. Wenn Seeberg schwieg herrschte Schweigen, denn Unscheinbar vermied jedes für ihn unnötige Wort. So liefen sie im Eilschritt die Straße entlang. Einfamilienhäuschen und gepflegte Vorgärten säumten ihren Weg. „Sag mir, was es ist. Sag es mir, Unscheinbar!“ Unscheinbar hielt im Gehen inne. „Sie scheint nicht wirklich präsent zu sein!“ „Was? Drücke dich deutlicher aus!“ Unscheinbar machte eine Gedankenpause. Seeberg wartete geduldig ab. Denn das Gehirn des detailversessenen Kombinationsgenies lief sichtlich auf Hochtouren. Erkennbar an der dezenten Rötung seines ansonsten unscheinbaren Gesichtsteints. Er suchte – ja rang nach den richtigen Worten. Unscheinbar mochte ein Bündel außerordentlicher Begabung sein, aber er war gewiss kein großer Redner vor dem Herrn. Seeberg argwöhnte, dass aus diesem rhetorischen Mangeltalent Unscheinbars Schweigsamkeit resultierte. Denn er hatte die Eigenheit, sich nur mit den Dingen zu beschäftigen, die er gut, ja exzellent beherrschte. „Die Wohnungseinrichtung, die Möbel. Alles ist eingerichtet, wie es ein Mann einrichten würde. Ein alleinstehender kühler Mann. In sämtlichen Räumen. Nichts von einer Frau.“ Seeberg wusste augenblicklich, dass dies der Punkt war, der seine Irritation ausgelöst hatte. Unscheinbar hatte – wie so oft – den hundertprozentigen Instinkt bewiesen. „Ob sie dort wohnt?“ „Ja, wahrscheinlich. Ihre Kleider hängen im Schlafzimmerschrank.“ Seebergs dichte rechte Augenbraue schnellte hoch. Fragend sah er Unscheinbar in das angestrengte Gesicht. Denn er wusste nichts von einer Durchsuchung. „Ich musste doch einmal zu Toilette. Und da —.“ Damit war alles gesagt. Seeberg lachte trocken auf. Unscheinbars Detailversessenheit hatte ihn selbstverständlich in die Schränke blicken lassen. Nicht aus Neugierde – oh, nein. Sondern um seine Faktensammlung zu vervollständigen. Seeberg zog es vor, angeblich nichts davon zu wissen und hoffte, dass Unscheinbar bei seinen natürlich illegalen Schnelldurchsuchungen nie erwischt werden würde. Seine Gedanken wandten sich wieder Hitzblecks Hinterbliebenen – vor allem Sabina – zu. Eine verheiratete junge Frau, die Mutter von Hitzblecks Sohn, zweifelsohne wohnhaft in seinem Haus. Und ansonsten nicht das kleinste äußere Anzeichen ihrer Anwesenheit, ja Identität. Keine warmen Farben, Bildchen, Figürchen, Pflanzen oder Blumen – all die verspielten Kleinigkeiten, mit denen Frauen üblicherweise ihren Wohn- und Lebensraum zu verschönern pflegten. Niemand konnte Seeberg weismachen, dass diese zierliche, fast kindhaft wirkende junge Frau den kühlen, in dunklen Farben gehaltenen sparsamen Wohnstil mit ihrem Mann teilte. Die einzig persönliche Note ergab sich aus Hitzblecks sichtlicher Vorliebe für Automobile. Einer Vorliebe, mit der Hitzbleck wohl auch alleine dagestanden haben dürfte. Denn Sabina hatte keinen Führerschein. Und dann die Mutter. Eine stählerne Überwachungsglucke? Oder die situationsbezogene Sorge um eine verstörte Tochter? Seeberg unterbrach den Lauf seiner Gedanken. Denn sie würden zu diesem Zeitpunkt zu keinem Ergebnis führen. Ein arbeitsintensiver weiterer Tagesablauf folgte. Es lagen schließlich noch andere aufzuklärende Fälle auf dem Schreibtisch. Am Abend war Seeberg dankbar für die Ruhe, die ihn in seiner kleinen Wohnung umfing. Kurz geisterte Gabi, seine Ex-Frau, durch seine Gedanken. Vor fast genau einem Jahr hatte sie ohne Vorwarnung ihr Scheidungsbegehren auf den Tisch gelegt. Ruhig und kühl – wie es ihre Art war. Nach wenigen Tagen überraschten zornigen Aufbegehrens hatte er einer Scheidung bedingungslos zugestimmt. Da hatte sie eine gewisse Enttäuschung nur schlecht verbergen können. Doch er wusste, wann eine Schlacht verloren war. Mit dem Tod des gemeinsamen fünfjährigen Sohnes, der zu diesem Zeitpunkt etwas mehr als vier Jahre zurücklag, war ihrer Ehe der größte Teil des Bodens entzogen gewesen. Ihre mangelnde Liebe zueinander und sein strapaziöser, zeitintensiver, zuweilen gefährlicher Beruf erledigten den traurigen Rest. – Nachdem er diese kleine Wohnung gefunden hatte, schämte er sich fast, wie wenig er sie vermisste. Noch nicht einmal ihre Präsenz als Frau. Mit sorgfältig eingelegtem tadellos gekämmtem Haar, nach blumigen Seifen wohl duftend, im geblümten tadellos gebügelten Seidennachthemd war sie pflichtschuldigst ihren ehelichen Pflichten nachgekommen. Vor der Heirat war das natürlich anders gewesen. Gabi zeigte sich „sexy“ und aufgeschlossen. Doch mit der Geburt des Kindes im ersten Ehejahr schien für sie das besagte Thema abgehakt zu sein. Doch auf seine deutliche Intervention hin, nahm sie, nach fast einjähriger Pause, die ehelichen Pflichten wieder in ihr Alltagsprogramm auf. Schließlich musste sie den Vater ihres Kindes und ihrer beider Ernährer bei Laune halten. – So sah es jedenfalls Christian Seeberg im Nachhinein. Er blieb zurück mit unfruchtbaren Gedanken und diversen Selbstzweifeln. Hatte er sich denn nicht genug Mühe gegeben? Gerade auch in gewisser Hinsicht? Auf dem Weg in die kleine helle Küche verblasste Gabis Gesicht und ein anderes trat an seine Stelle. Das blauäugige Mädchen von einst und Krankenschwester von jetzt. Leonora Gutendorf – Roth. Sie hatte immer noch jenes prachtvolle natürlich gewellte rotbraune Haar ihrer Kindheit. – Ein ganzes Büschel davon hatte er in der Hand gehabt bei dem heftigen Zusammenstoß in Sachen „Bruderrettung“. Mit einem Griff in ihre Mähne hatte er versucht, sie von seinem Unterarm loszureißen. Die Wiederbegegnung mit ihr hatte so etwas wie einen Gefühlsrutsch in ihm ausgelöst. Er konnte nur noch nicht genau erkennen in welche Richtung. Und während er sich ein Kännchen mit seiner bevorzugten Assam-Schwarzteemischung aufbrühte, erinnerte er sich an etwas, an das er sich lieber nicht erinnert hätte. Leonora hatte mit Sven und Saskia Spätdienst gehabt. Und während sie mit der Nachtwache gegen einundzwanzig Uhr Übergabe machten, war aller Wahrscheinlichkeit nach zu diesem Zeitpunkt Hitzbleck um sein Leben gebracht worden. Damit zählte Leonora vorerst zu dem unmittelbaren Kreis der Verdächtigen. Falls sie — Christian rührte so heftig den Tee um, dass er über schwappte – und wagte kaum weiterzudenken. Falls sie... dann würde er sie verhaften müssen! „Nimm dich zusammen“, sagte er sich. Schließlich gab es da auch noch Saskia Hartmann, Jungpfleger Sven und die Nachtwache Erika und X andere Möglichkeiten. Etwas erleichtert nahm er seinen Tee und das Schinkenbrot und marschierte in sein Wohnschlafzimmer. Dort schaltete er den Fernseher ein und den Verstand aus. Daraufhin verbrachte er einen ruhigen, fast gemütlichen Abend. Leonora erwachte aus beunruhigenden Träumen. Unwillig erkannte sie auf dem großen roten Wecker mit den grünlichen Leuchtziffern, dass es erst gegen ein Uhr in der Früh war. Du lieber Himmel, fing das jetzt auch noch an? Bis dato war sie mit einem tiefen festen Schlaf gesegnet gewesen. Schlaflosigkeit kannte sie praktisch nur auf dem Papier oder aus den Klagen gewisser Patienten. Sie schloss die Augen und wartete. Doch umsonst. Seufzend knipste sie die kleine verspielte Porzellannachttischlampe an. Leicht schwindelig bewegte sie sich in Richtung Küche. Sie blickte zum Küchenfenster hinaus. Sie hatte vergessen, den Rollladen herunterzulassen. Es war Vollmond. Der Himmelskörper beleuchtete den Raum genügend. So verzichtete Leonora darauf das Licht anzuschalten. In der Umhüllung dieses beruhigenden Dämmerlichts griff sie nach dem Becher mit dem Katzenmotiv und einem Darjeelingteebeutel. Während sie auf das Kochen des Wassers wartend auf dem hellen Küchenstuhl saß, ordneten sich ihre Gedanken. Ärger auf sich selbst stieg in ihr hoch. Warum hatte sie so lange gezögert – entgegen ihrer Gefühle und Vorahnungen – auch Intuition genannt – und nicht einfach gekündigt? Jetzt war es zu spät. Es war unmöglich, von dem Zug, der sich in Richtung eines ungewissen Zieles in Bewegung gesetzt hatte, abzuspringen. Eine Kündigung würde angesichts des ungeklärten Todesfalles unliebsame Verdachtsmomente auf die eigene Person ziehen. Nun musste sie da durch. Egal was es brachte. Während sie das Wasser in den Katzenbecher goss, verwarf sie auch den Gedanken an eine Krankmeldung. Dies war im Moment, wo noch nichts geklärt war, unmöglich. Hoffentlich entpuppte sich der „wilde Chris“ als eine Art Sherlock Holmes! An dem „wilden Chris“ blieben ihre Überlegungen hängen. Er war immer noch blond und blauäugig, etwa mittelgroß, aber weniger stämmig als zu seiner Schulzeit. Es war aber vor allem sein Gesicht, welches sich verändert hatte. Der Ausdruck darin. In seinem Blick lag eine merkwürdige Mischung aus beobachtendem Misstrauen und einem tiefen Verständnis für alles Menschliche schlechthin. Gewürzt mit einer Prise Ironie. Eine plötzliche Neugier erwachte in ihr. Wie sein Leben wohl verlaufen war um ihn zu dem zu machen, was er jetzt zu sein schien? Da war noch etwas gewesen. Leonora tigerte stirnrunzelnd in der Küche auf und ab in dem Versuch sich zu erinnern. Da tauchte es wieder auf. Er hatte sie angesehen, wie ein Mann eine Frau ansieht. Erst voller geheimen Interesses, dann voller Wohlgefallen und Bewunderung. „Ach was“, sagte sie sich, „das bildest du dir bloß ein! Vielleicht habe ich ihn angesehen wie eine Frau einen Mann ansieht! Wäre ja auch möglich nach Jahren absoluter Abstinenz!“ Mit ihren dreiunddreißig Jahren war sie schließlich noch lange nicht jenseits von Gut und Böse. Sie marschierte mit dem Becher in der Hand Richtung Bett, nahm ein paar Schlucke Tee und schlief ein. Eine knappe Stunde später wurde auch diese gnädige Pause durch das hässlich-schrille, fast rabiate Geklingel des Weckers unsanft beendet. Die A1 wartete auf ihre Teilzeitkraft. Leonora machte sich mit innerlich zusammengebissenen Zähnen fertig für den Tag. Sie sah sich in ihrer Dreizimmer-Eigentumswohnung um, die ihr ihre Eltern nach dem Tod ihres Mannes überschrieben hatten. Außerdem war es eine gute Einrichtung, dass ihr Kleiner an den beiden Tagen in der Woche, an denen sie arbeitete, bei den Eltern nächtigte. Robin, Oma und Opa schienen das außerordentlich zu genießen. Und sie wusste ihn ebenso gut aufgehoben wie bei sich selbst. Ihr zitronengelber Kleinwagen brachte sie sicher gegen sechs Uhr zur Klinik. Sie stellte ihn im Schatten ausladender gewaltiger Bäume, die verhindern würden, dass ihr kleiner “ Kanarienvogel “, wie sie ihren fahrbaren Untersatz liebevoll nannte, sich durch die Mittagssonne aufheizen würde, ab. Kurz darauf bog sie in das bedrohlich im Halbdunkel liegende Gängelabyrinth der A1 ab. Kleiderwechsel im Mief. Schließlich das Traumteam, bestehend aus Saskia, Conny Wabbelbacke und Helena, das ihrer harrte. Heute blieb ihr noch nicht einmal der freundlich gesonnene Sven, der sie regelmäßig über die neuesten Öko-News informierte. Helena musterte sie flüchtig mit ihren veilchenblauen Augen, verkniffen sich jeden Morgengruß und blätterte missmutig in einem Werbeprospekt. Sie war gelernte Arzthelferin, kassierte auch den Pflegezuschlag einer Pflegeperson, dachte aber gar nicht daran, die sorgfältig rot lackierten langen Nägel ihrer auffallend wohl geformten lang fingrigen Hände an pflegebedürftigen Patienten zu wetzen. Der Schreibtisch und sie bildeten ein unzertrennliches Paar zum Ärger vieler Kollegen. Doch niemand gebot ihrer Drückebergerei Einhalt und verwies sie an den Platz, an den sie gehörte. So erschien sie Tag für Tag, auffallend attraktiv, mit dichtem hellblondem Haar, hoch gewachsen und beweglich wie eine Gerte und ließ ungestraft ihre unberechenbaren, erschreckend rasant wechselnden Stimmungen und Launen an Patienten und bestimmten Kollegen aus. Leonora selbstverständlich eingeschlossen. Leonora selbst fühlte so etwas wie Hass gegen die arrogante, zuweilen unglaublich freche und ach so pflegescheue verhinderte Laufstegschönheit in sich wachsen. Zu gerne hätte sie die „Spinatwachtel“, wie sie Helena sie in Gedanken nannte, Mores und Arbeit gelehrt. Von den zehn Nägeln wäre unter Garantie höchstens einer heil geblieben! Aber leider befand sie sich nicht in der Position dazu! Im Gegenteil. Schon beim Betreten des Stationszimmers spürte sie, dass der Wind, der ihr entgegenschlug, noch schärfer geworden war. Und wie schon gesagt, dank Hitzblecks ungeklärtem Ableben war es unmöglich zu kündigen. Leonora hätte viel darum gegeben, an die tröstende Kraft des Gebets glauben zu können, so wie es ihre Eltern – treue Kirchgänger – schon ein Leben lang taten und so im Stande waren, die Schwierigkeiten der menschlichen Existenz mit einem starken inneren Halt – ihrem Glauben an Gott – zu meistern. Bei ihr war da ein Kinderglaube gewesen, der aber keine Fortsetzung fand. Wohl sehr zum Leidwesen der Eltern, die sie aber nie bedrängten, sondern wohl eher mit Gott über sie sprachen als mit ihr über Gott. Und dafür war sie insgeheim sehr dankbar. Religiöse Auseinandersetzungen hätten ihr gerade noch gefehlt! Aber ach, ihr blieb kein religiöser Trost! Wie sollte sie mit einem Gott sprechen, dessen Existenz sie übrigens keine Minute bezweifelte, dem sie aber den Rücken zugekehrt hatte? Und jetzt – jetzt traute sie es sich nicht mehr IHN anzusprechen. Als Saskias insgesamt scharfer Ton sich ihr zuwandte, stellte sie augenblicklich ihre melancholischen, religiösen Betrachtungen ein. „Wir sind heute nur zu viert!“, nörgelte das sauertöpfige Stationsoberhaupt. „Also ist Beeilung angesagt! Nicht wahr, Leonora?“, setzte sie boshaft und subtil kränkend hinzu. Wohl wissend, dass die Neue vielleicht unsicher aber keineswegs langsam war. Über Helenas hübsches Gesicht huschte ein kleines hämisches Grinsen. Aus dem Augenwinkel Leonora betrachtend, ergötzte sie sich an deren Betroffenheit. Wabbelbacke ging das alles scheinbar nichts an. Leonora nahm den blitzschnellen verständnisinnigen Blickwechsel zwischen ihr und Saskia wahr und ahnte, dass unausgelotete Gefahren wie Fußangeln vor ihr lagen. Als wie richtig sollte sich ihr Gefühl noch erweisen! Helena warf einen letzten prüfenden Blick auf die rotglänzenden Fingernägel und bewegte sich gemütlich in Richtung Schreibtisch. Für Leonora verwandelten sich die folgenden Stunden in eine ununterbrochene Schikane. Was sie auch tat war zu langsam, nicht gut genug oder sonst wie unzulänglich. Trotz dem schier unüberwindbaren Berg von Arbeit, die geleistet sein wollte, gelang es Saskia, auf geheimnisvolle Art überall da aufzutauchen, wo Leonora gerade zu tun hatte. „Geht das nicht noch langsamer?!?“, kommentierte sie höhnisch, als Leonora im Eilzugtempo Betten machte und rauschte sofort wieder davon. Kurz darauf knurrte sie augenrollend, ob sie alles alleine machen müsse, als Leonora gerade dabei war, Spritzen aufzuziehen und war wieder verschwunden, ehe seitens Leonora eine Reaktion kommen konnte. Helena hatte im Nebenraum das geneigte Ohr gespitzt, und während sie papierraschelnd emsige Tätigkeit vorschützte, lachte sie vor sich hin. Denn Schadenfreude blieb immer noch die beste Freude! Innerlich zutiefst deprimiert gelang es Leonora die Fassung zu wahren. Sobald die Sache Hitzbleck geklärt war, würde sie der Oberin die fristlose Kündigung auf den Schreibtisch legen. Nicht ohne eine Stellungnahme zum Thema A1 . Noch nie in ihrem Leben war sie vor einer solch unbegründeten und unerklärlichen Ablehnung ihrer Person gestanden. Und sie verfügte über keine Verhaltensstrategien damit umzugehen. Ihr blieb allein die Flucht und die Hoffnung auf nicht allzu viele seelische Blessuren. Das erkannte sie an diesem Morgen ganz klar und unmissverständlich. Jetzt ging es ausschließlich darum, nicht das Rückzugsgefecht zu verlieren. Und auch nicht die Nerven! Doch das erwies sich als hohe, kaum zu erreichende Kunst. Denn die Attacke seitens Saskia zwischen zwei postoperativ zu versorgenden Patienten – folgte prompt diesen entscheidenden Gedankengängen. Und als sich Leonora mit energischem Ton diesen weiteren ungerechtfertigten Anwurf verbat, bezeichnete sie Saskia etwa zehn Minuten später in Gegenwart der anderen als impertinent und frech. Leonoras müder Verteidigungsversuch wurde im Keim erstickt, als Helena und Conny – selbstverständlich wider besseres Wissen – in Saskias Kanon einstimmten. Und schließlich war die ganze Situation so gedreht und gewendet, als ob die unmögliche Schwester Leonora nichts anderes zu tun hätte, als ihre geplagte Stationsschwester zu ärgern und den lieben Kollegen das Leben zur Hölle zu machen. Dieser Strategie war bereits einer der jungen Stationsärzte auf den Leim gekrochen. Ohne je ein Gespräch mit Leonora geführt zu haben oder irgendwelche handfesten Fakten, die arbeits- oder verhaltensmäßig gegen sie sprachen, auf dem Tisch liegen zu haben, begegnete er ihr mit an Unfreundlichkeit grenzender Distanz und unverblümtem Misstrauen. Immer in der Halbachtstellung auf mögliche Fehler. Nur gut, dass sich der Oberarzt weiterhin gleichgültig verhielt! Kurzfristig blieb Leonora eine Atempause, denn Saskia war in Sachen Visite unterwegs. Um halb zwölf stand der Essenswagen auf dem Flur. Helena war nicht von ihrem Schreibtisch zu trennen, und Wabbelbäckchen hielt sich an ihrem in Zeitlupentempo getrunkenen Becher mit schwarzen Kaffee fest. Ansonsten stellte sie sich taub und stumm. Saskia, die ihrerseits wirklich zu tun hatte, löste das Problem, indem sie unpassenderweise Leonora anblaffte. „Nun schlafe nicht ein! Fang schon einmal an auszuteilen! Die anderen kommen gleich nach!“ Natürlich wussten beide, dass letzteres Wunschdenken war. Also blieb Leonora nichts anderen übrig, als im Höchsttempo fünfunddreißig schwer bepackte Tabletts vom Essenswagen in den Speiseraum zu balancieren. Und weitere sieben auf dem Küchenwagen zu stapeln, um sie später auf den Zimmern zu verteilen. Als sie Schritte hinter sich hörte und sich umwandte, stand sie jemandem gegenüber, den sie fast noch weniger gerne sah als Saskia und die lieben Kollegen. Christian Seeberg begrüßte sie freundlich distanziert, aber bei dem vertrauten „Du“ ihrer Jugend bleibend. Einem kurzen Augenfunkeln in den Augen folgte Undurchdringlichkeit. Doch Leonora hatte ersteres mit überwachen Sinnen registriert. Erst als sie jemand fast berührte, nahm sie Unscheinbar wahr. Hastig erwiderte sie Seebergs Gruß und spürte, dass sie Herzklopfen bekam. „Ich habe zu tun“, murmelte sie entschuldigend und oh mit dem Tablett, das sie die ganze Zeit umklammert hielt, in Richtung Speiseraum, wo sie ein sehr ungeduldiger, ungnädiger, gerade verrenteter Patient erwartete. Einer, bei dem jeder dritte Satz: „Ich habe Anspruch auf. . .“ lautete. Als er sich zu beschweren drohte, griffen seine Tischgenossen besänftigend und vermittelnd ein. Er wisse doch, wie momentan die Zustände in den Krankenhäusern seien. Der Personalmangel zum Beispiel. Und wie sehr Schwester Leonora sich ansonsten um sie alle und alles bemühen würde! Doch der Neurentner ließ sich angesichts dieser Gelegenheit Dampf abzulassen ungern unterbrechen und holte tief Luft, um mit seinem Lamento fortzufahren, als eine leise aber scharfe Stimme erneut Einhalt gebot. „Um Himmels Willen! Haben Sie kein anderes Problem als ein Tablett, das etwas später als Sie den Tisch erreicht? Verschonen Sie uns mit Ihren unangebrachten Emotionen! Ich will nichts mehr hören!“ Totenstille breitete sich aus. Der unzufriedene Neurentner schnappte nach Luft und fand vor Überraschung keine Worte mehr. Die anderen schwiegen aus Betroffenheit, denn bei dem energischen Patienten im Frotteemantel handelte es sich um einen Mann Anfang dreißig, einen Sprachlehrer, der aufgrund eines zu spät diagnostizierten Glaukoms (Grüner Star) kurz vor dem Erblinden stand und dies die Woche zuvor erfahren hatte. Klaus Kröger griff zu dem Teelöffel und wandte sich dem mit Sahne verzierten Schokoladenpudding zu als ob nichts gewesen wäre. Still und scheinbar gleichgültig wir zuvor. Sein seelischer Zustand bewegte sich irgendwo zwischen steinharter Verzweiflung und gefährlicher Resignation. Leonora folgte diesem beeindruckenden Intermezzo nur mit halbem Ohr. Ihre eigentliche Aufmerksamkeit galt dem Gespräch, das vom Flur her bruchstückhaft herein wehte. Es fand ohne Zweifel zwischen Saskia und dem „wilden Chris“ statt. „Ich habe jetzt wirklich keine Zeit. Eine Besprechung mit der Pfegedienstleitung erwartet mich.“ „Kein Problem, Frau Hartmann. Wir werden in jedem Fall noch anwesend sein, wenn Sie wieder auf Station kommen!“ Sogar aus dieser Entfernung war der in scheinbare Freundlichkeit verpackte drohende Unterton herauszuhören. Leonora hörte Saskia erschrocken hüsteln, dann war außer eiligen Schritten nichts mehr zu vernehmen. Schließlich beeilte sie sich, die Tabletts auf dem Küchenwagen unter die Patienten, die nicht die Zimmer verlassen konnten, zu bringen. Da hörte sie aus dem Umkleideraum Stimmen. Das war doch. . .Tatsächlich, das Wiesel war wieder da. Annika, der einzige wirkliche Lichtblick auf dieser Station, war aus dem dreiwöchigen Urlaub zurückgekehrt. Annika war Ende dreißig, klein, zierlich, überdurchschnittlich attraktiv mit langwimprigen bernsteinbraunen Augen und naturblondem Haar. Darüber hinaus verhielt sie sich unbeirrbar freundschaftlich – kollegial Leonora gegenüber und hatte sich als die kompetenteste Krankenschwester erwiesen, die Leonora je über den Weg gelaufen war. Momentan unterhielt sie sich mit Olivia, einer zwanzigjährigen Krankenpflegehelferin portugiesischer Abstammung. Olivia war groß, arbeitsam, wies ein kühnes Profil auf und war in keiner Weise an irgendwelchen Mobbingaktivitäten, gegen wen auch immer, beteiligt. Sie war es auch, die Leonora mit ihren nachtdunklen Olivenaugen auf dem Flur erspähte. „Hallo Leonora, wie geht es dir?“ Annika drehte sich um, packte Leonora beim Kittel und zog sie in die Umkleidekabine. „Aber...“, hub diese überrumpelt an. „Du hast doch alle Tabletts ausgeteilt, oder? Jetzt hast du auch mal fünf Minuten Pause. Auch wenn du als Nichtraucherin keine Zigarettenalibi hast. Also, was ist los?! „Ach so, ein Patient ist verstorben!“ Annika zog die Augenbrauen fragend hoch: „Und?“. „Er war erst vierzig. Die Polizei geht von einem möglichen Mord aus.“ „Ach so, und sonst?“ „Was und sonst?“, fragte Leonora leicht irritiert. „Wie es dir geht!“ Annikas bernsteinbraune Augen betrachteten sie sehr aufmerksam und leicht ungeduldig. „Naja, es geht so,“ erklärte Leonora lahm, fühlte jedoch unter diesem auf der Wahrheit bestehenden Blick ihren Vorsatz, sich nirgendwo zu beklagen, schwinden. „Ach, was soll’s. Es ist furchtbar. Ich weiß einfach nicht mehr, was ich machen soll, Annika. Bosheiten und Ablehnung wie ich mich auch drehe und wende!“ „Bei mir war es ähnlich. Warte erst einmal ab, wie es sich weiter entwickelt. Dann können wir entscheiden, was weiter zu tun ist.“ Leonora fühlte sich seltsam getröstet durch dieses schlichte „wir“. Instinktiv wusste sie, dass ihr Annika ohne wenn und aber wohlgesonnen war. Auch wenn diese ihren geradlinigen Charakter und ihr mitfühlendes gutmütiges Wesen hinter einer handfesten burschikosen, zuweilen recht rauen Art verbarg. Auch Olivia beäugte Leonora stumm und voller geheimen Mitleids. Trotz ihrer Jugend waren ihr solche Erfahrungen nicht fremd! Zusammen gingen sie zum Stationszimmer. Kamen an einer missgelaunten Helena, die seufzend leere Tabletts in den Essenswagen schob, vorbei. In dem Stationszimmer trafen sie auf einen Christian Seeberg, der am Fenster stand und scheinbar seelenruhig auf die Dinge harrte, die da kommen sollten. Schließlich saßen die beiden Schichten stumm um den großen Tisch herum. Erst als Seeberg sie aufforderte, mit dem üblichen Programm fortzufahren, kam stockend so etwas wie eine Übergabe zustande. Leonora, die wieder einmal mit dem Rücken zu ihm saß, fühlte ab und an seinen Blick im Nacken. Oder bildete sie sich das nur ein? Wahrscheinlich! In dieser überspannten Situation! Doch auch hier trog ihr Gefühl sie nicht. Seeberg schweifte immer wieder sekundenweise von seiner konzentrierten Aufmerksamkeit ab – in Gedanken daran, wie sich die rotbraunen dichten sanften Wellen von Leonoras Haarpracht in seinen Händen anfühlen würden. Und. . . Seeberg versuchte sich zusammenzureißen. Es war weder der Ort noch die Zeit, noch die „richtige“ Frau für derlei erotisch angehauchte Betrachtungen. Zum Kuckuck – Leonora Gutendorf – Roth gehörte zum Kreis der Verdächtigen! Jetzt war es seine Aufgabe, den gesamten Ablauf der Spätschicht und der frühen Nachtwache detailliert zu rekonstruieren. Die wahrscheinliche Zeitspanne des Mordes. Wer das Zimmer des Opfers aufgesucht hatte, wer früher oder später die Station verlassen hatte oder auf Toilette gegangen war. Alles und jedes bekam Gewichtigkeit – vor allem angesichts der vier „ausgegrabenen Akten“, in denen die vier ungeklärten Todesfälle mehr oder weniger genau festgehalten worden waren. Vier in einem Zeitraum von knapp achtzehn Monaten! In zwei der Fälle war eine natürliche Todesursache so gut wie auszuschließen. Und bei den anderen beiden lag die Wahrscheinlichkeit bei ca. fünfzig Prozent, sich doch als Tötungsdelikt zu entpuppen. Christian Seeberg hatte seine unsichtbaren Radarantennen ausgefahren, um all das Unausgesprochene wahrzunehmen. Vor allem der Teammitglieder untereinander. Ihm war Leonoras Situation sehr schnell klar geworden. Wer solche Kollegen wie Saskia Hartmann oder Schwester Conny hatte, der brauchte keine Feinde mehr. Nun gehörte es zu seinen Aufgaben herauszufinden, ob ein wie auch immer gearteter Zusammenhang zwischen dem Mord und dieser offensichtlich desolaten Gruppensituation bestand. Wobei er in seinem Gedankenablauf natürlich wieder bei Leonora landete! Im Moment ergriff Stationsschwester Saskia das Wort. Forderte das Personal auf, den Polizeibeamten in jeder Weise behilflich zu sein. Dann setzte sie, für alle gut hörbar – Leonora fixierend – in die wieder entstandene Stille eine letzte Bemerkung hinzu: „Haltet die Augen offen bei den „Neuen“ auf unserer Station. Besonders TEILZEITKRÄFTE lernt man oft nicht genug kennen!“ Sämtliche Köpfe wandten sich Leonora zu, die meisten schnell wieder ab. „Da geht jemand über mein Grab!“ durchzuckte es die an den Pranger Gestellte. Sie fühlte wie ihr der Schweiß ausbrach. Mit zittrigen Knien erhob sie sich und ließ ein mühseliges „Tschüss“ hören. Mit eiligen Schritten verließ sie die Klinik. Die letzten zweihundert Meter rannte sie förmlich. „Bloß weg hier. Weg, weg, weg.“ Immer noch vor innerer Erregung zitternd versuchte sie, ihren gelben „Kanarienvogel“ zu öffnen. Gerade als sie sich seinem weichen, von der Sonne vorgewärmten Fahrersitz anvertrauen wollte, trug der aufgekommene Wind ihren Namen an ihr Ohr. Den Gurt in der Hand, wandte sie sich um. Annika stand schnell atmend mit geröteten Wangen vor ihr. „Nimmst du mich ein Stück mit?“ Leonora streckte den rechten Arm aus, um wortlos die Beifahrertür zu entriegeln. Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander. Bis Annikas raues: „Sollen wir hier übernachten? Fahr schon los!“ Leonora in Bewegung setzte. Mechanisch drehte sie den Zündschlüssel, löste die Handbremse, legte den Rückwärtsgang ein und steuerte mit Augenmaß den gelben „Kanarienvogel“ aus der Parklücke. Sie konzentrierte sich bewusst und intensiv auf das Fahren und den Verkehr. Das „erlöste“ sie kurzfristig von all ihren unangenehmen Gedanken. Mit halbem Ohr lauschte sie Annikas Geplauder über mehr oder weniger harmlose Stationsgeschehnisse und hoffte, an passender Stelle ihr „ja“, „ach“ oder „tatsächlich“ zu brummen. „Hier rechts musst du einbiegen!“ Schließlich standen sie vor einem gestrichenen Mehrfamilienhaus in dem Annika eine exklusive, stilvoll eingerichtete Wohnung bewohnte. Sie ersparte Leonora falsche Trostphasen wie „es wird schon“ – „alles geht gut“ – „Kopf hoch.“ Beide wussten – oder besser ahnten – dass sich die Lage auf der A1 wahrscheinlich noch verschlimmern würde. „Was meinst du, wen die alles noch verdächtigen werden. Bestimmt nicht nur dich alleine. Also bis morgen!“ „Soll ich dich morgen früh abholen?“ „Lieb von dir, aber nicht nötig. Der kleine Morgenmarsch bringt meinen Kreislauf in Schwung. Du weißt ja, mein niedriger Blutdruck! Mach’s gut!“ Sagte es, schlug die Autotür zu und verschwand mit grüßend erhobener Hand im Hauseingang. Der Schatten nahm sie auf und verschluckte die Umrisse. Leonora wendete den Wagen und die Straße, die in eine Landstraße überging, hatte sie wieder. Unbewusst atmete sie tief auf, als das gelb leuchtende Ortsschild ihres Heimatstädtchens sichtbar wurde. Als ob in diesem uralten Ort ihre Rettung läge. Instinktiv durchlebte sie das urmenschliche Gefühl, dass sich die Gefahr in vertrauter Umgebung minimierte. Direkt hinter dem Ortsschild bog sie auf eine schmale Nebenstraße, weg von der Hauptstraße, die in den Ortskern führte, ein. Hier entfaltete sich die ganze Schönheit des Kraichgaus. Wiesen, Weiden und Wald bedeckten sanfte Hügel. Leonoras Eltern wohnten in geradezu ländlicher Idylle. Sie parkte an ihrem gewohnten Platz zwischen hoch gewachsenen Tannen, die gleich Wächtern die direkte Sicht auf diesen Teil des weitläufigen Grundstücks nahmen. Ehe ihre ausgestreckte Hand den Klingelknopf berührte öffnete sich die schwere Haustür. Dem feinen Gehör ihrer Mutter entging so gut wie nichts. Elisabeth Roth, genannt Lisbeth, war angesichts ihrer Tochter innerlich entsetzt. Solch eine Erschöpfung und Anspannung, ja mühsam verhohlene Verzweiflung zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. Doch Lisbeth beherrschte sich und ließ sich zu keinerlei Fragen hinreißen. Leonora war das verschlossenste ihrer drei Kinder. Der Typ Mensch, der stumm und verbissen die Höhepunkte seiner Probleme und Leiden durchschritt und erst über sie sprechen konnte, wenn sie so gut wie ausgestanden und gelöst waren. Lisbeth hatte es längst aufgegeben, etwas daran ändern zu wollen. Denn Leonora teilte sich freiwillig an dem von ihr erwählten Zeitpunkt mit oder überhaupt nicht. Darüber durfte man sich auch nicht von Leonoras lebhaftem Temperament täuschen lassen. Es signalisierte mehr Offenheit und Kontaktfreudigkeit als tatsächlich vorhanden war. Und diese scheinbare Diskrepanz hatte schon mehr als einen Mitmenschen irritiert. Doch das war Leonora und so würde sie aller Wahrscheinlichkeit nach auch bleiben! So hatte sich Lisbeth auf ihr mittleres Kind eingestellt und beließ es dabei, die Tochter mit jener Unaufdringlichkeit zu lieben und zu begleiten, derer diese bedurfte. Um so mehr rührte es sie, wenn Leonora überraschend mit diesem oder jenem kleinen Geschenk, bestimmten Süßigkeiten, welche sie besonders liebte etwa, oder Seidentüchlein mit stilvollem Design aufwartete, und diese mit wortloser Liebe in den klaren blauen Augen der Mutter in die Hand drückte. Fast genau so gestaltete sich ihr Verhältnis zu dem Vater. Dessen unausgesprochenes Lieblingskind sie war. Es reichte, wenn er es wusste, oder? Alwin Roth gehörte zu den Menschen, die die Gerechtigkeit nicht nur suchten und für sich beanspruchten, sondern sie in den Alltäglichkeiten konsequent lebten und ausübten. Dazu gehörte, kein Kind dem anderen vorzuziehen! Robin, Leonoras kleines Herzblatt, war so in seine Riesenportion Kirschenplotzer mit Vanillesauce vertieft, dass er seine Mutter kaum wahrnahm, als diese sich auf der geräumigen Eckbank der Küchen Essecke neben ihn mit einem leisen Seufzer sinken ließ. Während die Mutter auch für sie auf einem der bunt glasierten Steingutteller eine Portion des köstlich süßen, sommerli- chen Mittagsmahls richtete, unterhielt sie die Tochter scheinbar leichthin mit diesem und jenem. Angesichts des Platzes, auf dem sie schon als Kind gesessen hatte, ihres zufrieden kauenden Sohnes an der Seite der Mutter, die mit den gewohnten Gesten und gewohnter Stimme den Raum füllte, fand Leonora ihr inneren Gleichgewicht langsam wieder. Noch ist nichts verloren, es würde gut ausgehen, sagte sie sich und aß.

 
 
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