Buch lesen: «Der Krieg», Seite 4

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Epen unserer Zeit: Durch das Werk des Oxford-Professors J.R.R. Tolkien sind wir erneut mit den Motiven der epischen Dichtung vertraut gemacht worden, die ihn sein ganzes Leben beschäftigten.

Neue Helden

Achilleus hat uns gut dabei gedient, die vorstaatliche Welt der eisenzeitlichen, achäischen „Häuptlinge“ und ihrer Wikingfahrten zu verstehen. Er ist ihr Vertreter in Reinkultur: brutal, kriegerisch, beutegierig und dünnhäutig. Die Epen aber wurden in der Form, die wir heute kennen, zu einer Zeit niedergeschrieben, als dieses Zeitalter bereits vorbei war. Eine neue Form des Zusammenlebens, die Stadt und die Polis, war entstanden. Eine neue Moralität hatte sich etabliert. Diese brauchte eine neue Art Held. Es ist kein Zufall, dass der große Gegner des Achill der Verteidiger der Stadt Troja und der eigentliche Sympathieträger im Epos ist: Hektor. Hektor steht für einen neuen Menschen, der die alten Werte – Beute, Ruhm und selbst die Familie – neuen Idealen opfert: Verantwortungsgefühl für das Gemeinwesen, Bürgerehre und Vaterlandsliebe. In seinem Abschied von Frau und Kind hat der Dichter zum ersten Mal in der abendländischen Literatur die Rechtfertigung formuliert, die noch viele Ehemänner und Väter vorbringen werden, in den Kriegen, die noch kommen. Andromache: „Liebster, dein Mut wird dich ins Verderben stürzen. Du nimmst keine Rücksicht auf unser Kind, das gerade mal sprechen kann, und auch nicht auf mich. Du wirst mich zur Witwe machen! Bleib doch dieses eine Mal in der Burg. Lass die anderen kämpfen.“ Doch Hektor kann nicht anders: „Mir liegt das auch am Herzen, du und der Kleine. Aber ich schäme mich vor unseren Mitbürgern, wenn ich andere kämpfen lasse und selbst der Gefahr ausweiche.“

Der neue Held opfert sich. Er sucht im Krieg nicht mehr den Ruhm, sondern findet den Tod in Erfüllung seiner Pflicht. Hektor wird ihn in Gestalt des Achill finden. Einmal noch siegt die alte Welt über die neue, was auch richtig so ist, denn Hektor, der Schirmer der Stadt, muss, um Held zu sein, für die sterben, die er liebt – für seine Stadt, für seine Frau und seinen Sohn: „Nachdem er das gesagt hatte, streckte Hektor seine Hände nach dem Kind aus. Der Kleine aber schmiegte sich weinend an die Brust seiner Amme. Er fürchtete Hektors Helm mit dem hohen Rosshaarbusch, hinter dem er nicht das liebende Gesicht seines Vaters erkannte. Da lachte Hektor und nahm den Helm ab, legte ihn auf die Erde und wiegte seinen Sohn in den Armen, bis er zu weinen aufhörte.“

Nachlese

Gute deutsche Übersetzungen der epischen Dichtung sind nicht leicht zu bekommen. Die meisten sind schon eher älteren Datums und durch ihre altertümliche Sprache, die sich dann auch noch bewusst archaisierend ausdrückt, für den heutigen Leser schwer erträglich. Zu populären „Nacherzählungen“ ist nur bedingt zu raten, da sie, wie im Text angemerkt, durchwegs die Elemente der epischen Dichtung aussparen, die unter unserem Gesichtspunkt am interessantesten sind. Für die Ilias und Odyssee ist die deutsche Übersetzung von Roland Hampe bei Reclam (beide 1986) zu empfehlen. Das Hildebrandsliedfindet man in: „Althochdeutsche poetische Texte“ von Karl A. Wipf (Reclam, Stuttgart 1992). Für den Ulster-Zyklus muss man wohl oder übel auf die englische Übersetzung zurückgreifen: John T. Koch und John Carey „The Celtic Heroic Age: Literary Sources for Ancient Celtic Europe & Early Ireland & Wales“ (Celtic Studies Publications, 4. Auflage, Aberystwyth 2003).

Es gibt keine komplette Übersetzung des Mahabharata ins Deutsche. Als klassische Übersetzung ins Englische gilt: Kisari Mohan Ganguli „The Mahabharata of Krishna-Dwaipayana Vyasa“ (Indien 1883–1896, zuletzt als 4-bändige Taschenbuchausgabe: Munshiram Manoharlal, New Delhi 2004). Eine deutsche Teilübersetzung ist: Biren Roy (Hrsg.) „Mahabharata. Indiens großes Epos“ (10. Auflage. Diederichs, Köln 1998, erstmals 1958 auf Englisch veröffentlicht).

Für das homerische Griechenland ist Moses I. Finleys „Die Welt des Odysseus“ (1. Auflage, englisch 1954, deutsch im Campus-Verlag, Frankfurt 2005) immer noch eine vortreffliche Einführung. Wer eine ernsthafte Beschäftigung mit der keltische Welt anstrebt, kommt um Helmut Birkhans monumentales „Kelten. Versuch einer Gesamtdarstellung ihrer Kultur“ (Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 1997) nicht herum. Vor den ebenso zahlreichen wie irreführenden Keltendarstellungen auf dem populären Buchmarkt sei gewarnt. Die Wikingerzeit hat zuletzt Rudolf Simek kompakt in „Die Wikinger“ bei C. H. Beck, München 1998, beschrieben. Von ihm stammt auch eine Einführung in „Die Edda“ (C. H. Beck, München 2007). Das sozialanthropologische Konzept des „Chiefdom“ findet sich gut und lesbar erklärt in: Marvin Harris „Kannibalen und Könige“ (Klett-Cotta, 1998).



DER SÖLDNER

Xenophon, Sohn des Gryllos

* zwischen 430 und 425 v. Chr., Athen

T nach 355 v. Chr., Korinth

„Thálatta! Thálatta!“ setzt sich der Ruf durch die Reihen fort. Zuerst undeutlich, dann allmählich verständlicher verbreitet er sich von der Spitze der langgezogenen Marschkolonne, die dabei ist, einen weiteren jener vielen Bergrücken zu übersteigen, die das unruhige Relief Ostanatoliens dem Heerzug seit seinem Aufbruch aus dem Tiefland des Irak entgegengestellt hat. Die Erleichterung, die mit dem Ruf die Krieger erfasst, war selbst noch für widerwillige Schüler spürbar, die den Text mehr als zwei Millennien später als Erstlektüre zum Erlernen des Griechischen vorgesetzt bekamen. Der Verfasser des Textes: Xenophon, Athener, Sohn des Gryllos aus dem Demos Erchia, Schüler des Sokrates, Autor, Exilant, Abenteurer, Söldner. Seine schnörkellos-klare Sprache und lupenreiner attischer Dialekt prädestinierten sein Werk zur Schullektüre. An diesem Tag hat er das Kommando über die Nachhut und – nicht weiter verwunderlich nach den vorangegangenen Erfahrungen des Marsches – vermutet im ersten Moment einen Angriff auf die Spitze der Kolonne. Erst während er selbst mit seinen berittenen Offizieren nach vorne hetzt, um den Grund der Aufregung zu erfahren, wird der Ruf im Raunen der Masse von Kriegern, Dienern, Sklaven, Trossleuten und Gefangenen deutlich hörbar: „Das Meer! Das Meer!“ Nach schier unglaublichen Anstrengungen und brutalen Kämpfen war es den griechischen Söldnern, denen sich der junge Athener aus reiner Abenteuerlust angeschlossen hatte, endlich gelungen, den Gebirgen und Wüsten Asiens zu entrinnen. Mit schonungsloser Offenheit erzählt der Chronist des Marsches Plünderungen, Geiselnahmen und Intrigen. Er schildert alles, was ein zusammengewürfelter Haufen von Glücksrittern bereit ist zu tun, um zu überleben.

Mehr als ein halbes Millennium ist seit den Tagen der Helden vergangen. Aus den kleinen Reichen der Räuberbarone Griechenlands sind Poleis geworden, Stadtstaaten mit noch heute klingenden Namen wie Athen und Sparta, Korinth und Theben, Argos und Megara. In der Morgendämmerung der griechischen Welt hatten die Enkel und Urenkel der Heldenkönige ihre übervölkerte Heimat verlassen und waren zu Kolonisten geworden. „Wie Frösche um einen Teich,“ so Platon, haben sie ihre Städtegründungen aus der Ägäis und dem griechischen Mutterland über die Küsten des Mittelmeeres und des Schwarzen Meeres, das sie Pontos Euxeinos, das „Gastfreundliche Meer“, nennen, ausgedehnt. Bewährte Strategien haben ihnen die Welt eröffnet: Wo man sich ansiedeln konnte, weil die Einheimischen militärisch schwach und politisch schlecht organisiert waren, gründete man Städte und nahm Ackerland in Besitz, von dem es in der kargen bergigen Heimat immer zu wenig gab. Wo man sich nicht halten konnte, plünderte und raubte man. Wo man nicht rauben konnte, weil man auf starke Staaten oder kriegerische Stämme stieß, betrieb man Handel. An jeder Küste der beiden Binnenmeere sind griechische Kolonien, griechische Seefahrer, griechische Händler und griechische Söldner zu finden. Der Schritt vom Plünderer zum Söldner ist kürzer als man denken möchte: Statt zu rauben, lässt man sich dafür bezahlen, die nächsten Räuber abzuwehren. Auch so kann Gewalt zu Geld gemacht werden. König David hatte griechische Söldner aus Kreta an seinem Hof: Krethi und Plethi eben. Die Letzteren waren Philister, auch so ein Seeräubervölkchen, das in der großen Umwälzung am Ende der Bronzezeit vor der Jahrtausendwende in den Nahen Osten gelangt war und möglicherweise mit den Griechen seine Heimat in der Ägäis teilte. Manche möchten sie mit den Pelasgern, den vorhellenischen Einwohnern Griechenlands und Kretas, identifizieren. Zwar wird der einst von der Forschung behauptete „Seevölkersturm“ um 1200 vor Chr, heute meistenteils nicht mehr als eine Völkerwanderung gesehen, doch als eine Periode erhöhter Aktivität und Mobilität von kriegerischen Banden im ganzen östlichen Mittelmeerraum erscheint jene Zeit in jedem Fall. Diesen Seeräubern fiel wohl die erste Hochkultur der Ägäis zum Opfer, die wir die „mykenische“ nennen, das Reich der Hethiter in Kleinasien und fast Ägypten, wenn Ramses III. sie nicht zurückgeschlagen hätte. Es sollte mehrere Jahrhunderte dauern, ehe sich die Lage wieder beruhigte, eben jenes dunkle Heldenzeitalter der Epen, die die unruhige, räuberische und heroische Lebenswelt jener Epoche verklärt und mit mythischem Brimborium aufgebauscht schildern.

Die Griechen, darüber darf man sich keine Illusion machen, sind halbbarbarische Nachzügler in einer viel älteren Kulturwelt. Sie sind sich dessen auch bewusst, imitieren in ihrer Kunst zuerst den Alten Orient und Ägypten, staunen über die Weisheit des Ostens und beneiden ihn um seinen Reichtum. Erst später, mit dem wachsenden Selbstbewusstsein, das die kulturelle Blüte des „klassischen“ fünften Jahrhunderts mit sich bringt, mischt sich in diese Hochachtung ein skeptischer Unterton, eine Geringschätzung der feinen Lebensart und des östlichen Luxus, dem man keinen guten Einfluss auf den Charakter der Orientalen zutraut. Auch so kann man aus der eigenen materiellen Not eine moralische Tugend machen. Eine große Erzählung von östlicher Dekadenz und westlicher Freiheit entsteht, die noch lange in der Geistesgeschichte nachklingen wird. In ihrem Kern findet sich eine politische Analyse: Die Orientalen sind alle Sklaven, in der einen oder anderen Weise von einem Oberen abhängig, in letzter Instanz vom Herrscher, Großkönig, dem Pharao selbst, während die Griechen sich selbst als eine Gesellschaft von Freien begreifen, in der die Herrschenden auf die Zustimmung der Beherrschten angewiesen sind und die Besten – áristoi, wie in Aristokratie, bedeutet genau das – herrschen. Man darf sich von der publizistischen Aufbauschung der attischen Demokratie nicht täuschen lassen: Die meisten griechischen Poleis, allen voran das mächtige Sparta, waren Aristokratien, in denen eine Elite, Nachkommen der homerischen Räuberbarone und ihrer Spießgesellen, den Ton angaben.

Hopliten

Diese Aristokraten waren immer noch Reiter, Krieger und Grundbesitzer, daneben mittlerweile auch Richter, Investoren und Politiker; doch hatte eine militärtechnische Innovation während der Dunklen Jahrhunderte den Status der Gemeinen merklich aufgewertet. Schon in den Epen treten Formationen von Kriegern auf. Die Erzählung konzentriert sich natürlich, um dem Publikum zu gefallen, auf die Duelle der Helden, doch im Hintergrund steht immer das Heervolk in dichten Reihen, aus denen sich die viel gerühmte griechische Phalanx entwickeln wird. Phalanx heißt „Walze“ und so funktioniert sie auch auf dem Schlachtfeld: Eine unaufhaltsame Masse von bronzegepanzerten Kriegern, die, einen Wald von Speerspitzen voran, auf den Gegner zurollt. Die Phalanx ist die griechische Antwort auf die ewige Frage, was man mit wenig trainierten Teilzeitkriegern auf dem Schlachtfeld machen soll. Sie haben nicht die Erfahrung und das lebenslange Training im Gebrauch von Waffen wie die Adeligen und ihre Gefolgschaften aus Profikriegern. Ihnen fehlt vor allem der Ehrenkodex und individueller Kampfeswille – auch die seelische Abhärtung, die mit einem Leben als Krieger einhergeht –, um allein ihren Mann zu stehen. Also gibt man ihnen die Kombination von Waffen in die Hand, die am einfachsten zu handhaben ist: Schild und Speer. Und Anweisungen wie: „Nimm das große Brett und versteck dich dahinter! Nimm die lange Stange und piekse den Feind mit dem spitzen Ende, so lange er noch weit genug weg ist, dass er dir nichts tun kann! Damit du dich nicht so fürchtest, geh mit deinem Nebenmann auf Tuchfühlung, dann kannst du auch nicht unerwartet von hinten oder von der Seite angegriffen werden! Bleibt dicht zusammen, dann kann euch nichts passieren!“ All das gibt Sicherheit. Mit der Gruppe kommt ein Gefühl der Kameradschaft auf. Man will den anderen nicht „im Stich lassen“. All das verleiht den dichten Formationen des Fußvolkes Standvermögen. Heute weiß die Militärpsychologie, dass Soldaten vor allem für ihre Kameraden kämpfen, Risiken eingehen und schlimmstenfalls sterben. Das Individuum ist vernünftig: Es nimmt Reißaus. Erst in der Gruppe wird der Mensch mutig. Kohäsion nennen das die Taktiker, jenes unsichtbare Band, das aus einem Haufen Einzelpersonen eine Einheit macht. Reißt es, wird aus einer gerade noch bedrohlichen Formation ein chaotischer Haufen, in dem sich jeder selbst der Nächste ist. Schwarmverhalten nennen es die Sozialpsychologen: Die unbewusste Fähigkeit und Neigung des Menschen, sich mit der Gruppe zu bewegen, das eigene Verhalten an der Gruppe und an dem von Führungspersönlichkeiten in der Gruppe auszurichten. Man kann es schlimmstenfalls im urbanen Alltag sehen, wenn eine Menschenmasse, die zur Rushhour völlig problemlos durch die engen U-Bahn-Anlagen strömt, durch nichts als einen lauten Knall zu einem panischen Mob rücksichtslos um ihr Leben rennender Individuen wird, der die Schwächsten in seinem Weg zu Tode trampelt – nur weil irgendein Wichtigtuer laut genug brüllt, er wüsste einen Ausweg. Auch in der Politik soll es das geben. Dementsprechend führen die Kommandanten einer Phalanx aus der ersten Reihe. Spartanische Könige, umgeben von ihrer Leibwache, fallen in der Schlacht deswegen ungewöhnlich häufig mit ihren Männern, nicht nur, wenn sie – wie Leonidas an den Thermopylen – ein Himmelfahrtskommando anführen. Rhythmus hilft Schwarmverhalten zu verstärken. Das ist der Ursprung der Militärmusik. Bei den Griechen marschieren Flötenspieler mit der Phalanx und zum Angriff stimmen alle in den Päan ein, einen rhythmischen Sprechgesang. Der macht Mut und geht auf einen Bittgesang an Apoll zurück. Der Inhalt ist einfach erklärt: „Bitte schütze uns!“ Angst und Mut sind zwei Seiten einer Medaille.

Der schrecklich dröhnende Moment: Phalanx prallt auf Phalanx.

Griechische Vasenmalerei, protokorinthisch, um 640/30 v. Chr.; Rom, Museo Nazionale di Villa Giulia

Rasch beginnt man, die Bewaffnung und Ausrüstung an die neue Kampfesweise anzupassen: Am augenfälligsten in Gestalt des großen, runden, schüsselförmigen Schildes – hóplon auf Griechisch –, der so konstruiert ist, dass er eng am Körper geführt wird und seitlich übersteht, sodass er die rechte Seite des Nebenmanns mitdeckt. Hoplit heißt infolgedessen der schwer gepanzerte Fußsoldat. Im Einzelkampf ist so ein Schild nutzlos, da man ihn kaum bewegen kann, um einzelne Hiebe des Gegners abzuwehren, in der Formation jedoch doppelt wirkungsvoll, indem er erlaubt, dicht beieinander zu stehen und eine geschlossene Front zu bilden. Den Schild wegzuwerfen, ist daher auch die erste vernünftige Handlung des Flüchtenden: „Entweder kommst du mit deinem Schild zurück, oder auf ihm,“ ermahnt dementsprechend die Mutter den Spartaner und der Dichter Achilochos witzelt: „Mit meinem Schild stolziert jetzt ein Saier einher: Am Buschrand ließ ich ihn ungern fahren, die fehlerlose Wehr. Ich selbst entkam so dem tödlichen Ende. Der Schild, der besagte, er lebe wohl! Demnächst schaff ich mir einen um nichts schlechteren an.“


Militärmusik ist lebende Tradition: Dudelsackpfeifer der indischen Armee im Kilt erinnern an die lange britische Herrschaft auf dem Subkontinent.

Die Phalanxtaktik ist ein wahrhaft durchschlagender Erfolg. In offener Formation vorgehende Einzelkämpfer sind gegen die tödliche Walze chancenlos. Pferde weigern sich vernünftigerweise, direkt auf die vielen spitzen Speere zuzurennen. Geschosse richten nur wenig Schaden an. Die Aristokratie wird von ihrer eigenen Innovation überrollt und aufgesaugt. Bald spielen Reiter und Leichtbewaffnete auf den Schlachtfeldern Griechenlands nur mehr eine Unterstützungsrolle. Die Phalanx beherrscht alles. Dabei ist sie eine wenig raffinierte Taktik. Sie kann sich mehr oder weniger nur in eine Richtung bewegen und wenn zwei Phalangen aufeinanderstoßen, entwickelt sich ein tödliches Schiebematch, bei dem die Seite verliert, die als erste nachgibt. Dementsprechend ist der „Besitz“ des Schlachtfeldes am Ende des Gefechts das Zeichen für den Sieg. Die Spartaner gewinnen einmal eine Schlacht gegen Argos, weil die letzten zwei Mann, die stehen, eben Spartaner sind. Ein General, der eine Phalanx einsetzt, hat nur zwei taktische Optionen: Mache ich sie breiter, sodass sie den Feind überflügeln und von der Seite bedrängen kann? Oder mache ich sie tiefer, damit mehr Druck aufgebaut werden kann? In beiden Fällen ist derjenige im Vorteil, der mehr Hopliten in die Schlacht führt.

Hier wird aus der militärischen Innovation eine gesellschaftsverändernde Kraft: Um eine möglichst große Phalanx ins Feld führen zu können, sind die adeligen Herren der griechischen Stadtstaaten daran interessiert, möglichst viele Mitbürger zu haben, die es sich leisten können, als Hopliten in den Krieg zu ziehen. Dies erfordert, so legt es etwa die athenische Verfassung des Solon fest, ein substantielles Bauerngut oder äquivalentes Einkommen. Statt also, wie es der natürlichen Tendenz von Eliten entspricht, möglichst viel Kapital – sprich Grundbesitz – in den eigenen Händen zu konzentrieren, sind die griechischen Aristokraten daran interessiert, eine große Zahl an mittelgroßen, bäuerlichen Grundbesitzern als Nachbarn zu haben. Eine breite Mittelschicht entsteht. Die Adeligen können infolgedessen nicht viel reicher sein als der Durchschnitt. Das Gut eines Adeligen in Athen ist vielleicht zehn bis dreizehn Mal so groß wie der durchschnittliche Bauernhof. So entsteht eine Vermögens- und Einkommensverteilung, die heutige Verhältnisse geradezu grotesk erscheinen lässt. Sie ist der Ursprung des Gleichheitsideals, das die ganze athenische Klassik des fünften Jahrhunderts atmen wird, bis zu dem Punkt, dass auch alle Statuen dieselben – idealen – klassischen Gesichtszüge tragen. Die Adeligen berauben sich auf diese Weise auch der Möglichkeit, ihre Güter durch landlose Pächter oder gar Leibeigene bebauen zu lassen, was die Herausbildung feudaler Untertänigkeit verhindert oder gar wieder rückgängig macht. In Randregionen – wie Thessalien, wo die Reiterei wegen der weiten Ebenen weiterhin eine dominante Rolle spielt – gibt es diese später nachweislich, in der eigentlichen Poliswelt von der Nordküste des Golfes von Korinth über die Peloponnes, Attika und die Inseln nach Kleinasien dagegen nicht. Spartas eigenwilliges System der von unterworfenen Heloten bewirtschafteten Landgüter ist ein einzigartiger Kompromiss zwischen beiden Optionen: Er macht alle Spartiaten zu Hopliten und gleichzeitig zu Aristokraten, die sich allein auf das Kriegshandwerk konzentrieren können. Kein Wunder, dass sie als die besten Krieger Griechenlands galten. Überall, wo sich die Phalanxtaktik durchsetzte, sorgt sie dafür, dass diejenigen, die in der Phalanx kämpften, früher oder später politische Mitbestimmung erhalten. Die Logik ist einfach: Wer im Krieg kämpft, will mitentscheiden, ob Krieg geführt wird. Dies schloss umgekehrt alle von der politischen Beteiligung aus, die nicht wehrfähig waren: Frauen, Kinder, Sklaven und Arme, doch für Letztere bestand immer noch die Chance, durch wirtschaftlichen Erfolg in die Klasse der vollberechtigten Bürger aufsteigen zu können. Die attische Demokratie ist die maximale Ausdehnung dieses Grundgedankens auf die Schicht der Besitzlosen, deren Dienst als Ruderer durch die Seemacht Athen mit derselben politischen Mitsprache belohnt wurde, die anderswo auf die Hoplitenklasse beschränkt war. Das griechische System bringt damit ein ungewöhnlich hohes Maß an ökonomischer Gleichheit, sozialer Freiheit und politischer Beteiligung für eine relativ breite Schicht mit sich und schränkt gleichzeitig die Macht des Adels ein; ein ungewöhnlicher Weg von den Häuptlingtümern zur Staatlichkeit, der eben deswegen die erhöhte Aufmerksamkeit durchaus verdient, der ihm seitdem durch die politischen Denker entgegengebracht wurde.

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