Buch lesen: «Der Krieg», Seite 3

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Nachlese

Die maßgeblichen Erkenntnisse über die soziale Evolution der Menschheit verdanken wir den Archäologen und vor allem den Sozialanthropologen. Unbedingt lesenswert ist Marvin Harris „Kannibalen und Könige. Die Wachstumsgrenzen der Hochkulturen.“ dtv, München 1995 und „Menschen. Wie wir wurden, was wir sind.“ ebenfalls dtv, München 1996. Jarred Diamond stellt in „Arm und Reich. Die Schicksale menschlicher Gesellschaften.“ Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1999, diese Überlegungen in einen größeren Kontext und Ian Morris hat in „Krieg. Wozu er gut ist.“ bei Campus, Frankfurt 2013, noch ein provokantes Schäufelchen nachgelegt.



DER HELD

Achilleus, Sohn des Peleus

(Legendär, 13. Jahrhundert vor Christus)

„Wenn du nach Troja gehst, wirst du Ruhm ernten. Viele tausend Jahre lang wird man Geschichten über deine Siege schreiben … Aber wenn du nach Troja gehst, kehrst du nie wieder heim. Denn deine ruhmreichen Taten gehen Hand in Hand mit deinem Untergang.“ Dies prophezeit die Meernymphe Thetis in Wolfgang Petersens Film „Troja“ von 2004 dem jungen Achilleus. Drei Millennien später hält die Verfilmung immer noch Platz 8 in der Liste der kommerziell erfolgreichsten Filme aus der modernen Mythenwerkstatt. Die Alternative, welche die überprotektive Mutter-Göttin dem Sohn anbietet, ist ein langes glückliches Leben, zahlreiche liebende Nachkommen und das Vergessen. Doch Achill zieht nach Troja und wird damit zum unsterblichen Helden des ersten großen Werkes der abendländischen Literatur.

Der eigentliche Inhalt der Ilias ist der Streit zwischen ihm und dem Anführer der Griechen, Agamemnon, um die schöne Gefangene Briseis. Zwei Krieger streiten um Beute, menschliche, weibliche zwar, doch spielt Liebe dabei im Original keine Rolle. Das ist der Zuckerguss, mit dem Hollywood den Stoff überziehen muss, um ihn für ein modernes Publikum schmackhaft zu machen. Feldzug, Schlachten und Belagerung, „the face that launch‘d a thousand ships“ und die „unbezwingbaren Mauern von Ilion“ bilden nur die Rahmenhandlung für ein Drama, in dem es um gekränkte Kriegerehre geht. Weder die bekannte Vorgeschichte mit dem Urteil des Paris und der Entführung der Helena noch das hölzerne Pferd kommen in der Ilias selbst vor. Auch der tragische Tod des Achilleus durch die Fersenwunde findet sozusagen im Abspann statt. Trotzdem ist der Sohn des Peleus die Achse, um die sich der Epos dreht und die Schlüsselfigur zum Verständnis der homerischen Helden und damit einer ganzen Epoche.

Die Herausgeber diverser „Griechischer Sagen“ für den Schulgebrauch wie den bildungsbürgerlichen Bücherschrank haben traditionell zu dem lässlichen Schwindel gegriffen, ihren Käufern unter dem Titel der Ilias ein literarisches Flickwerk unterzujubeln. Der narrativen Geschlossenheit des Stoffes war dieses Vorgehen zweifellos dienlich, es verstellt aber den Blick auf das, was dem Dichter – Homer nennen wir ihn gewohnheitsgemäß – wichtig war, dem späteren Leser aber eher als mühsamer Ballast erscheint, der die Handlung unnötig verzögert: ausführliche Genealogien, langatmige Reden, Reminiszenzen an vergangene Heldentaten der Beteiligten und ihrer Ahnen, an Gastmähler, Wettspiele, Raubzüge und den Austausch von Geschenken.

Mitten im Gemetzel (im 6. Gesang, ab Vers 119) hält so zum Beispiel auf Seiten der Griechen der Held Diomedes inne und fragt den Feind, der sich ihm entgegenstellt, nach seinem Namen und seiner Abstammung. Ausführlich schildert der Lykier Glaukos – sein so angesprochenes Gegenüber – seine Ahnenreihe, die über Belerophon, den Reiter des geflügelten Pferdes Pegasus, zum tragischen König Sisyphos führt. Freudig stößt nun Diomedes seine Lanze in die Erde und eröffnet dem Feind, dass ihre beiden Großväter – Oineus und Belerophon – Gastfreunde waren und dass er den goldenen doppelhenkeligen Becher, den der Großpapa als Abschiedsgeschenk erhielt, immer noch zuhause stehen hat. Man kommt überein, einander aufgrund der alten Familienfreundschaft nicht zu bekämpfen. Immerhin, so Diomedes, gibt es für beide genug andere Griechen und Trojaner, die man umbringen kann. Zum Abschied tauschen sie noch ihre Rüstungen – ganz wie Fußballer heutzutage mit ihren Trikots verfahren – und ziehen von dannen, jemand anderen zu töten.

Oder nehmen wir den 11. Gesang (ab Vers 670), wo sich der greise Nestor, ältester und erfahrenster der griechischen Heerführer, seiner jugendlichen Heldentaten erinnert. Die erwähnenswerteste davon: Der „Rinderraub von Pylos“, als Nestor, noch jung und voller Tatendrang, mit einigen Kumpanen loszog, um des Königs von Elis schönste Rindviecher bei Nacht und Nebel über die Grenze auf pylische Weiden zu treiben. Die Beute verteilt man anschließend zuhause unter jenen Pyliern, denen vorher von den nördlichen Nachbarn Vieh gestohlen worden war. Nestors Jugenderinnerung gewährt Einblick in eine Abfolge ständiger räuberischer Übergriffe, in denen sich die jungen Krieger zu beweisen suchen, und die blutigen Fehden, die aus ihnen resultieren: Zwölf Söhne hatte Neleus, Nestors Vater. Nestor allein überlebte ins Mannesalter.

Helden tauschen ihre schimmernde Wehr: zeitloses Ritual kriegerischer Männlichkeit.

Hier vorgeführt von Florian Klein vom VfB Stuttgart (links) und David Alaba vom FC Bayern München bei einem Bundesligaspiel in der Allianz Arena München 2015.

Eine eigentümliche, archaische Welt lebt in diesen Details: autonom, ruhmsüchtig, kleinteilig, raubgierig, sippenstolz und bodenständig eng mit ihren agrarischen Grundlagen verbunden. Eine Welt, in der Odysseus der König – basileus, „König“ eben, nennt der Dichter seine Heerführer – selbst hinter dem Pflug über die Fluren Ithakas schreitet, mit eigenen Händen das Ehebett aus dem lebenden Olivenstamm schnitzt und oft am Tisch seines Schweinehirten Eumaios – selbst aus königlichem Geschlecht, aber von phönizischen Händlern als Kind geraubt und nach Ithaka in die Sklaverei verkauft – Platz nimmt, ehe er in den langen Krieg gegen Troja zieht, von dem der „vielgeplagte Mann“ nur nach mühsamer Irrfahrt wieder zurückfinden wird.

Warum gibt das Epos diesen Dingen so viel Raum? Doch nur, weil sie bedeutsam, das eigentlich Wichtige an dem Text sind, vor allem, wenn man bedenkt, wie viel mehr Gewicht jeder einzelnen Verszeile in Anbetracht der Tatsache zukommt, dass das Epos vor der schriftlichen Aufzeichnung über Generationen mündlich überliefert werden musste. Die dichterische Form selbst ist ursprünglich Werkzeug des Vortrages – mit Musikbegleitung, sei angemerkt – und der Mnemotechnik. Das zeitgenössische Publikum vermisste im Unterschied zum modernen Leser und Herausgeber weder den Anfang noch das Ende des Krieges um Troja. Die Rahmenhandlung war ohnehin bekannt. Die eigentliche Leistung des Dichters lag in der Ausgestaltung des Segments der großen Erzählung, das er sich als Thema erwählt hatte, und in der geschickten Anreicherung der Handlung mit Features, die sein Publikum zu schätzen wusste: Genealogien zum Beispiel, Beschreibungen wertvoller Geschenke und Beutestücke – schöner Frauen inklusive. Und wie es scheint: Viehdiebstahl …

Die vielen Gesichter des Helden

Geschichte sei die Suche nach „meaningful patterns“ („Mustern“, so müsste man im Deutschen wohl ungelenk übersetzen, „die auf etwas Bedeutendes hinweisen“) schreibt Arnold Toynbee, der große und wahrscheinlich letzte Universalhistoriker. Ein solches Muster wird sichtbar, wenn man sich die frühesten literarischen Werke der verschiedensten Völker ansieht:

Wann – und wo – auch immer Kulturen beginnen, sich eine Literatur zu schaffen, weil der Gebrauch von Schriftlichkeit weit genug verbreitet ist, dass es eine Leserschaft gibt, schreiben sie Bücher über den Krieg, über Helden und Heldentaten.

All diese Bücher sind voll mit Befremdlichkeit, wie den oben beschriebenen. Es ist der Nachglanz einer Welt, die gerade eben untergegangen war, als diese Völker anfingen, schriftbrauchende „Hochkulturen“ zu werden, einer Welt, die untergehen musste, damit aus Homers heroischen Achäern Herodots historische Hellenen werden konnten. Die wilden Könige mussten der wohlgeordneten Polis weichen, damit sie als epische Helden die Zeiten überdauern konnten.

Buchhalter als Kulturstifter: Der Anfang der Schrift liegt in der Lagerhaltung, wie hier auf diesem Linear-B-Täfelchen aus Nestors Palast in Pylos, Peloponnes.

Schriftlichkeit ist ein Kind des Staates; die schöne Literatur – les belles lettres – ein Bastard der Bürokratie mit den Erzählkünsten wandernder Sänger. Die ersten geschriebenen Texte sind Listen: Lagerbestände, -eingänge, -ausgänge; die banalen Aufzeichnungen einer ebenso fleißigen wie fantasielosen Verwaltung, Leitfossilien des Staates in seiner reinsten Form. Die Erzählkunst ist zu dieser Zeit noch eine allein mündliche, ihre Träger sind die Aöden, die an den Höfen der Fürsten und auf den Marktplätzen der entstehenden Städte ihre Dichtungen vortragen. Um die Gunst der Herrschenden zu gewinnen, reichern sie ihre Erzählungen, die aus einem überlieferten Repertoire bekannter Sagenkreise, wie eben den Krieg um Troja, schöpfen, mit Details an, von denen sie erwarten, dass sie ihrem anvisierten Gönner schmeicheln werden: Heldentaten seiner Vorfahren, Genealogien, welche den örtlichen Potentaten in eine Linie stellen mit den großen Gestalten des Epos, saftige Räubergeschichten, welche aus dem Leben der kleinen, lokalen Räuberbarone gegriffen sind. Denn eben das sind sie, Homers „Könige“: Herrscher von allem, was sie von ihrem Burgberg überblicken und mit der Kraft ihres Armes verteidigen können. Es ist diese Welt der „Dunklen Jahrhunderte“, der frühen Eisenzeit, des „Mittelalters“ der alten Griechen im 12. bis 8. Jahrhundert vor Christus, die uns in den Epen entgegentritt. Zur Zeit von deren Endredaktion (nach gängiger Meinung zwischen 750 und 700 v. Chr.) wird sie gerade eben verdrängt von der aufkeimenden Ordnung des frühen Staates, war aber noch erinnerlich, wenige Generationen zurückliegend, eine kriegerische, romantische Welt: das „Heroische Zeitalter“, wie Hesiod es in seinen Werken und Tagen nennt.


Räuberhäuptlinge streiten um die Beute: Die griechischen Helden vor Troja zanken sich um die wertvolle Rüstung eines Gefallenen. Rotfigurige Vasenmalerei um 490 v. Chr.

„Mit der Einführung des Eisens erleben alle Völker ihr Heldenzeitalter,“ bemerkt Friedrich Engels im „Ursprung von Privateigentum und Familie“, seinem Basistext zur Prähistorie der Menschheit. Das „Heldenzeitalter“ ist hierbei das Chiffre für eine Phase kleiner, kriegerischer, agrarischer, vorstaatlicher und vorstädtischer – Troja war vor allem Feste und Handelsplatz, nicht Stadt – Gesellschaften, die die Völkerkundler „Chiefdoms“ nennen: „Häuptlingtümer“. „Basileus“ versteht man also vielleicht besser als „Häuptling“. In ihnen basieren Wirtschaft, Politik und gesellschaftlicher Zusammenhalt noch auf dem alten Clansystem. Aus den charismatischen Anführern früherer Epochen haben sich räuberische „Warlords“ entwickelt, die, gestützt auf ihre Gefolgschaften aus Kriegern und vermittels ihrer Fähigkeit, Tribute zu erpressen, Beute zu machen und diese als Gaben an ihre Getreuen zu verteilen, zunehmend den politischen Ton angeben. Die Erblichkeit von Macht und Herrschaft ist indes noch nicht gesichert. Darauf weisen die zahlreichen, turbulenten Familiengeschichten voll Bruderzwist, Erbstreit, Vertreibung und Wiedererlangung des verlorenen Erbes hin, welche die heroischen Genealogien durchziehen. Im indischen Epos des Mahabharata, das ab 400 vor Chr. niedergeschrieben wurde, ist der Erbstreit zwischen den verfeindeten Cousins – den fünf Pandavas und den einhundert Kauravas – der Auslöser einer langen Erzählung, die in einer Schlacht von wahrhaft epischen Ausmaßen mündet: Auf beiden Seiten stehen einander in Summe 3,94 Millionen Krieger gegenüber!

In den Hallen dieser „Kriegsherren“ treten also die oben erwähnten Sänger epischer Gedichte auf. Der Archetyp des kriegerischen Helden wird dort in ihren Liedern geboren: Hektor, Achill, Beowulf, Sigurd/Siegfried, Dietrich von Bern, Arjuna, Cú Chulainn, Ilja Muromez, Rustam, die vorhöfischen Erzählkerne, die hinter ritterlichen Helden wie Artus und Roland stecken, aber auch die streitbaren Frauen, die in der epischen Welt, anders als in der Wirklichkeit, eine wichtige Rolle spielen, wie die leichtfüßige Jägerin Atalante oder die Amazonenkönigin Penthesilea in der Ilias selbst, Hervör aus der nordischen Hervarasaga oder Aoife, die Kriegerkönigin von Alba (Schottland), mit der sich Cú Chulainn messen muss. Weil sie mehr exotisch-erotische Fantasie wie historische Wahrheit widerspiegeln, lässt vielleicht auch der Umstand erahnen, dass so gut wie alle schließlich auf die eine oder andere Weise von ihrem männlichen Widerpart auch sexuell „erobert“ werden.

Gleich unter welchem Namen, gleich zu welchem historischen Zeitpunkt entstanden, gleich wann, durch wen und in welcher Form er literarisch verewigt wurde: Der kriegerische Held ist der literarische Archetyp, der ebenso Ideal wie Realität jener altertümlichen Gesellschaftsordnung zurückstrahlt, die alle späteren Hochkulturen aus ihrer Frühzeit gerade noch erinnern, deren brutale und unkultivierte Seiten sie an ihren Zeitgenossen als „Barbarei“ wahrnahmen, an ihren eigenen Vorfahren aber als ursprünglich und unverdorben priesen.

Während sie sich von den Barden unterhalten lassen, schließen die „Könige“ selbst Bündnisse durch Ehen ihrer Töchter und Schwestern mit potentiellen Bundesgenossen. So entzieht sich die entstehende Adelsschicht gleichzeitig dem alten Clansystem und webt ihre eigenen überregionalen Netzwerke. Neben die tatsächliche Verwandtschaft treten durch Heiratsallianzen „fiktive“ Verwandtschaften wie manchmal mit dem Element der Homoerotik liebäugelnde „Blutsbrüderschaften“ (Achilleus und Patroklos), Ziehelternschaften (Cú Chulainn bei Fergus) und Gastfreundschaft (Diomedes und Glaukos). Diese überregionale Kriegerschicht verknüpft nun, im Interesse möglichst zahlreiche Streitkräfte ins Feld zu führen, größere Räume und schafft frühe „nationale“ Identitäten. Es ist kein Zufall, dass der erste Versuch, einen Überbegriff für alle Griechen zu finden, in den Epen stattfindet. Das Heer-volk (laos im Griechischen, wie in Menelaos: „Volksführer = Heerführer“) nimmt Gestalt an, will gesammelt und von den Plänen der Heerkönige überzeugt werden, denn die Häuptlinge haben noch keine Macht zu befehlen.

Wohlgesetzte Reden nehmen deswegen einen so großen Raum in den Epen ein. Ebenso wichtig für den Status als „Held“ wie das Kampfgeschick ist die Fähigkeit, wortgewaltig zu sprechen oder andere Überzeugungsmittel zu gebrauchen: Gerade der silberzüngige Odysseus verprügelt in einer Heeresversammlung einen renitenten Widerspruchsgeist am Ende mit dem Szepter (2. Gesang, Verse 212–277). Über tausend Jahre später werden sich merowingische Könige in gleicher Weise vor der Heeresversammlung der Franken verantworten müssen und 1018 – ganz am anderen Ende von Europas langer Eisenzeit – steht der „Lagman“ (Gesetzeskundige) Torgny vor dem Schwedenkönig Olaf III. Skötkonung auf und, so berichtet Snorri Sturluson in der Heimskringla (verfasst um 1230), hält eine Rede, die in Odysseus Halle in Ithaka jeder verstanden hätte: „Die Einstellung der schwedischen Könige,“ meint er, „hat sich gegenüber früher geändert. Mein Großvater konnte sich noch an Eirik Eymundson als König von Upsala erinnern, und er pflegte von ihm zu sagen, dass er jeden Sommer zu Raubzügen in die verschiedensten Länder aufbrach.“ „Und,“ so setzt er fort, „er war auch nicht zu stolz, auf die Leute zu hören, die ihm etwas zu sagen hatten.“

Der Krieg – so betont Torgny hier – ist die eigentliche Aufgabe der Könige. Sie sollen das Heervolk in fremde Länder führen, um Beute zu machen, fremde Völker zu unterwerfen und dadurch zu Tributleistungen zwingen.

Krieg, hier ist das Deutsche wünschenswert eindeutig, kommt von „kriegen“. Die Kriegereliten – Achäer wie Wikinger – sind in erster Linie (See-)Räuber. Die Hauptbeschäftigung der griechischen Helden vor Troja ist das Plündern umliegender Städte, und das skandinavische Heldenzeitalter, das sich in Torgnys Generation gerade ihrem Ende zuneigt, nennt man treffend auch „Wikingerzeit“. Wikinger ist laut gängiger Etymologie vor allem „ein Seekrieger, der sich auf langer Fahrt von der Heimat entfernt“. Odysseus hätte sich ohne Zögern so bezeichnet.

Hätte der alte Viehdieb Nestor jemals Gelegenheit gehabt, das gewaltige indische Epos Mahabarta zu hören, so wäre ihm Vaisampayanas Vorschlag im 4. Buch, Kapitel 30, ganz nachvollziehbar vorgekommen: „… lasst uns seine Stadt überfallen, und zu Tausenden seine ausgezeichneten Rinder der verschiedensten Arten fortführen. Mit vereinten Kräften der Kauravas und der Trigartas holen wir, oh König, sein Vieh in ganzen Herden herbei.“ Am Táin Bó Cúailnge (Rinderraub von Cooley, spätes 11. Jh.), der zentralen Sage des irischen Ulster-Zyklus, hätten wahrscheinlich beide Gefallen gefunden. Darin tritt dem jungen Cú Chulainn im Entscheidungskampf sein Ziehvater Fergus entgegen. Ein tragisches Schicksal, das er mit dem Helden Rustam im persischen „Königsbuch“ (Schāhnāme, um 1000 verfasst) und mit dem namengebenden Helden im althochdeutschen Hildebrandslied (9. Jh.) teilt. Beide erschlagen ihre Söhne ohne es zu ahnen. Cú Chulainn ergibt sich Fergus, unter der Bedingung, dass dieser sich beim nächstem Zusammentreffen ihm ergeben wird. Den eigenen Sohn, den er mit der zuvor erwähnten kriegerischen Aoife zeugte, tötet er später wider Willen unter dem Zwang eines mächtigen Zaubers. Heldengeschichten sind fast immer tragisch, doch zeigt sich in diesen Tragödien – in Gestalt des Vater-Sohn-Duells auf die Spitze getrieben – eine häufige Realität in der überschaubaren Welt der dicht vernetzten Kriegerelite: Schon im nächsten Kampf mag man einem Blutsverwandten, Schwager oder Gastfreund gegenüberstehen. Die Entscheidung, ob und gegen wen man am Ende wirklich kämpfen wird, fällt oft erst am Morgen der Schlacht, wenn man erkennen kann, wer in den eigenen Reihen, aber auch, wer in denen des Feindes steht. So entscheidet sich im Mahabharata, Shalya, der König von Madra und „Onkel“ der Pandavas, nachdem die verfeindeten Kauravas ihn mit Geschenken und Verpflegung geehrt hatten, auf Seiten der neuen Gastfreunde und nicht der Verwandtschaft in die Entscheidungsschlacht von Kurukshetra zu ziehen.

Saufen, Raufen und Rumzicken

Auch wenn man sich gerade noch geschlagen hat, ebenso schnell schließt man Frieden und feiert diesen mit Festmahl und freundschaftlichem Wettstreit, dem zahnlosen Bruder des echten Kampfes: Wagenrennen, Pferderennen, Wettläufe, Speerwerfen, Kugelstoßen, Diskuswerfen, Kraftproben. Die heroische Welt der Epen ist voll damit. Nach dem Tod des geliebten Freundes Patroklos lässt Achilleus Leichenspiele an seinem Scheiterhaufen veranstalten. Die keltischen Helden Irlands streiten sich am liebsten um den „Heldenbissen“, die beste Portion vom Braten, und regeln das rasch, indem sie nach draußen gehen und einen improvisierten Wettkampf abhalten. Auch die Achäer kannten diesen Brauch. Vor Troja bieten die anderen Könige Ajax dem Großen nach einem erfolgreichen Kampf gegen Hektor die erste Wahl am Grillbuffet an. Helden, so sei an dieser Stelle angemerkt, sind Fleischfresser. Die wikingische Vorstellung vom Paradies – Walhalla – ist bekanntlich eine Ewigkeit aus Saufen, Fressen und Raufen ohne Brummschädel oder ernsthafte Verletzungen, bis dereinst Odin die Krieger zur letzten Schlacht ruft.

Zum heldischen Habitus gehört auch eine ausgeprägte Emotionalität – echte Helden weinen oft – und ein empfindliches Ehrgefühl.

Achill verweigert dem Agamemnon die Gefolgschaft, nachdem dieser die schöne Gefangene aus seinem Zelt holen lässt, um sich selbst für den Verlust seiner eigenen Beutefrau zu entschädigen. Hier wird die Brüchigkeit der achäischen Allianz sichtbar. Schwer vorstellbar in der staatlichen Welt klarer Hierarchien, gerade im Krieg, wie alle späteren Leser des Epos sie verinnerlicht hatten. Völlig klar aber im Kontext der „Chiefdom“-Gesellschaft, welche die Ilias abbildet. Agamemnon hat Achill nichts zu befehlen. Er ist nur Führer der Griechen, weil ihn seine verwandtschaftliche Stellung dazu macht: Er ist der ältere Bruder des Menelaos, des Geschädigten in der Geschichte, dem Paris die schöne Helena ausgespannt hat – und damit Oberhaupt des beleidigten Clans: der Atriden. Achill, wie all die anderen basileis, ließ sich von der Aussicht auf Beute und Ruhm anlocken. Die eigentlichen „Kriegsziele“ – die Eroberung Trojas oder die entführte Helena – sind ihm herzlich gleichgültig. Die achäische Allianz von Warlords und ihren Kriegergefolgschaften ist eine Erwerbsgemeinschaft. Agamemnon führt so lange und kann seine Verbündeten so lange bei der Stange halten, so lange er Beute zu verteilen hat. Kleinlichkeit ist sein Fehler. Der Anführer, der nimmt und nicht gibt, hat seinen Führungsanspruch verspielt. Wenn Verwandtschaft und Gefolgschaft das Skelett der heroischen Gesellschaft sind, ist Beute ihr Blutkreislauf. Erfolgreiche Kriegsherren machen ein lohnendes Ziel aus, bringen eine ausreichende Streitmacht zusammen, um es zu erobern und verteilen danach die Beute unter den Beteiligten. Großzügigkeit ziemt sich für einen wahren König. Hrothgar, den vom Ungeheuer Grendel bedrängten Dänenkönig im angelsächsischen Beowulf und Widsith, nennt der Dichter fast schon stereotyp „ringeverteilend“. Wer die Gaben des Königs annimmt, wird sein Gefolgsmann, doch wenn der König von seinem Gefolgsmann nimmt, hat er seine Macht über ihn verloren.

Der Zorn des Achill entzündet sich an der Beleidigung, dass Agamemnon ihm seine Beute wegnimmt. Seine Reaktion ist innerhalb der Logik der heroischen Gesellschaft völlig klar: Er sieht sein Bündnis mit den Atriden als aufgelöst an und zieht sich aus dem Kampf zurück. Es ist eine dramatische Überspitzung, die das Epos braucht, um die Handlung voranzutreiben, dass nun mit seinem Ausscheiden durch göttlichen Ratschluss, Mama Tethis hat hier ihre Hand im Spiel, die Griechen keine Fortschritte mehr gegen die Trojaner machen. Erst als ein stärkeres Argument ins Spiel kommt – der Tod des Freundes Patroklos und damit Rache –, ist er bereit, die Beleidigung zu vergessen. Achill kehrt in die Schlacht zurück.

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