Buch lesen: «50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2», Seite 31

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Kapitel Ein­und­zwanzig

Aber schon eine Sekunde später sind sie verschwunden. Atemlos starrt alles empor. Die Dampffeuerspritze, nur allmählich zu ihrer ganzen Wirksamkeit gelangend, beginnt rhythmisch zu arbeiten und hohe Dampfwolken, die sich in den feuerbeglänzten Kronen unserer schönen Bäume verfangen, auszustoßen. Aber nichts von Bäumen. Nur das Feuer beherrscht alles. Dumpf rumort es im Innern der Schule, als würden schwere Möbel oder Kisten die Treppe herabgerollt, und mit einem Male donnert es dröhnend aus dem Innern, man sieht feurige Massen sich auf die steinernen Treppenstufen ergießen, die wir Jahr für Jahr, Tag für Tag bestiegen haben. Wie sollen die unseligen Kameraden zurück? War alles vergeblich? Umsonst der Heldenmut des tapferen Piggy, des wahren Mannes, des richtigen Helden?

Jetzt zeigt sich zum zweiten Male das Köpfchen des Alma, um das sich der Arm des Prinzen schlingt – in einer vorsorgenden, beruhigenden Geste, nicht anders, als mein lieber Vater vor sieben Jahren seinen Arm um meinen Knabenhals geschlungen hat, wenn wir beide aus dem Fenster des Salons unserer Wohnung in Brüssel der Fronleichnamsprozession zusahen, vorn der Erzbischof, der Hof …

Vergebens will ich mich in diesem furchtbaren Augenblick an die Vergangenheit klammern, will nicht glauben, was ich doch vor mir sehe, will nicht einstimmen in das schrille Rufen und Heulen der Menschen ringsum, die den beiden unseligen Knaben oben zuwinken und sie auffordern, ruhig zu bleiben, nicht zu verzagen – sie alle nicht minder feig und erbärmlich als ich. Aber sie sind keine Orlamünde, Orlamünde bin ich allein. Auch ich winke, ich, der Feigste, ihnen hinauf mit meinen Handschuhen, den alten weißen, die an manchen Stellen des Handrückens schwarze, verkohlte Stellen aufweisen. Ich ziehe sie ab, die Zeichen meines gehobenen Standes, den ich durch meine Feigheit vor mir selbst verscherzt habe, aber das Abziehen tut mir weh, und als ich sie endlich heruntergebracht habe, sehe ich, daß gleichzeitig runde Stücke Hautmitgegangen sind. Meine Hände sind an vielen Stellen von Brandwunden bedeckt, die ich mir bei der Rettung des Rendanten zugezogen habe. Aber dieser körperliche Schmerz, mag er auch mit jedem Augenblick, aufreizender, peinigender werden, ist nichts gegen das Gefühl der Schande. Man wirft mir nichts vor. Niemand kommt zu mir. Um mich ist ein leerer weiter Kreis, nur von goldenen Funken, von rieselnder glühender Asche durchflogen, die der Wind nicht zur Ruhe kommen läßt. Vor ihnen schütze ich meine Augen – oder verberge meine Augen vor dem unvergeßlichen Anblick, dem unbeschreiblichen, wie Alma und der Prinz abwechselnd im Innern des brennenden Zimmers verschwinden, dann wieder an den Fenstern erscheinen, winken und Unhörbares rufen. Ein Taschentuch entgleitet ihnen, oder ist es ein Papier, eine Botschaft? Sie flammt während des Weges auf und erreicht uns nicht.

Die Feuerwehrleute stehen nicht untätig da, der Brandmeister, ein dicker, schwerfälliger Mann mit kupferbraunem Gesicht, hat vor allem das Brandgelände abgesperrt. Alle, der Direktor, der Herzog, die Schüler, das Dienstpersonal, auch der Anstaltsarzt, der als einziges seine schwarze Kiste mit Verbandzeug gerettet hat, der Abbe, die Präfekten, alles ist fortgeschickt worden, bloß mich hat man vergessen. Oder weicht man mir aus? Sie richten den Schlauch gegen das bedrohte Fenster. Umsonst. Der Druck ist zu schwach, die Wasserreserve zu klein, die altmodische Maschine zu ohnmächtig. Einer schleppt die Feuerleiter von Onderkuhle herbei, aber sie reicht nicht hoch genug, sie stört nur, sie selbst kann verbrennen.

Kein Augenblick ist jetzt zu verlieren, aus dem Dache braust es manchmal auf, nicht anders, als wenn man ein Brausepulver ins Wasser wirft, nur sind es nicht Wasserblasen, nicht ein nach Zitronen schmeckender Dunst, sondern bordeauxweinrote, aufsprühende Partikel, aufrauschender Feuerstaub, da die Gegenstände der Bodenkammern Feuer gefangen haben. Das Treppenhaus in Flammen. Der Bodenraum ebenfalls im Beginn des Brandes. Wie lange kann es noch dauern, bis zwischen beiden auch der Fechtboden erfaßt wird und die beiden Knaben vernichtet werden, wenn sie es nicht vorgezogen haben, sich mittels eines der scharfen Fechtrapiere die Adern zu öffnen und so den unbeschreiblichen Schmerzen zu entgehen? Warum versucht von den bewährten Feuerwehrleuten keiner, das Gebäude zu stürmen? Unfaßbar ist mir freilich, wie es geschehen könnte, aber in der tiefsten Tiefe meines Herzens flehe ich zu der unbekannten Gottheit (Christus und sein Wunder!) dennoch um die Rettung dieser zwei Menschenleben und des meinen dazu. Denn ich weiß genau: jetzt schon ist meine Rückkehr unter meine Kameraden unmöglich, unmöglich auch mein ganzes künftiges Leben, wie ich es bis zu diesem Tage geplant habe, unmöglich auch das, daß ein feiger, ein infamer Orlamünde unter die Augen seines Vaters tritt. Aber auch jede andere Art des Lebens wäre mir abgeschnitten, jede, wenn einer von meinen Kameraden, Alma oder Piggy, durch mein Versagen seinen Untergang unter den Brandtrümmern des Hauses Onderkuhle fände. Mag das Haus zugrunde gehen! Mögen die Bäume, die schönen, verbrennen, mögen die Reitschulen, die eine wie die andere, mit ihrem alten Strohbelag an den ovalen Wänden wie Zunder aufflammen, mögen die Kücken sich selbst braten, mögen die Pferdeställe zusammenfallen, das ganze herrliche Anwesen in Nichts aufgehen, nur Menschenleben sollen nicht verloren sein: dies mein Gebet, das erste seit Jahren, das echte. Nicht auf den Knien gebetet, sondern aufrecht. Meine Hände, die mit Brandblasen bedeckten, presse ich mit aller Gewalt gegeneinander. Wird das erhört? Niemand mir zur Seite, kein Vater, kein väterlicher Freund, keine Obrigkeit, keine Mutter: bloß ich allein mit meiner Schuld.

Da begibt sich das Unerwartete, die letzte Rettung. Ich sehe, es wird ein großes Tuch, von allen Feuerwehrleuten gehalten, unter dem flammenumlohten Fenster ausgespannt. Ähnelt es nicht auch dem Innentuch einer Wiege, so tief, so weich? Zwei Feuerwehrleute schreien, indem sie die Hände von dem Sprungtuch lassen und sie wie eine Trompete an ihre Lippen halten. Einer macht eine mit aller Energie angedeutete Bewegung vor. Diejenigen Feuerwehrleute, die mehr zur Wand aufgestellt sind, sind besonders gefährdet, denn Trümmer stürzen flammend jeden Augenblick herab, und man versteht jetzt, warum die Leute eiserne Dragonerhelme tragen, an deren messinggezogenen Raupen kleinere Fragmente ohne Schaden abprallen können.

Kaum kann ich durch die wehenden Schleier brennender Luft die Gesichter meiner Freunde im Fensterrahmen erkennen. Jetzt aber weht der Wind die Flammensträhnen fort. Wie durch ein Opernglas erblickt man alles in äußerster Klarheit.

Der kleine Alma ist der erste. Piggy hilft ihm aus dem Fenster heraus, schützt ihn vor den Glassplittern, die noch da sind, läßt ihn sich so weit als möglich hinausbeugen, dann faßt er ihn um die Hüften, hebt ihn wie ein Federchen aus dem Fenster, so weit als möglich ab von der Mauer, an der sich der Kleine den Kopf zerschellen könnte, und gibt ihm einen kurzen Befehl, ein Kommando, und Alma, der nicht den Mut gehabt hat, sich mir an der Stange im Schwimmunterricht anzuvertrauen, der geschrien hat: »Ich ertrinke!«, er wagt den furchtbar gefährlichen Sprung, durchmißt den heißen, leeren Raum, das Stück Weltall, ohne Furcht, er weiß sich zu halten, während er fällt. Schon ist er unten, hüpft noch einmal, in den wogenden Falten des Tuches halb verborgen, auf. Die Köpfe der Feuerwehrleute werden durch den Zug des Tuches etwas einander genähert; mit einem unbeschreiblichen Gefühl empfinde ich die Tatsache dieser Rettung, und zugleich ist mir bewußt, daß ich dies schon einmal (eben im Traume) erlebt habe.

Jetzt schwingt sich, während Alma flink wie ein Wieselchen und lachend (!) sich seinen Weg aus dem Getümmel bahnt und während das Licht der Brandfackeln über sein kleines Köpfchen und die feinen Haare streichelt, jetzt schwingt sich der viel massivere Prinz aus dem Fenster; er stößt seine Ellbogen und Fäuste nach rückwärts, um sich vor dem Anprall an die Wände zu schützen. Schon ist er unten angelangt, viel plumper als der Knabe, und die Köpfe der Träger des Sprungtuches knallen aneinander. Lachen kann ich nicht, aber erlöst atme ich auf. Dies war es, was ich im Traum der letzten Nächte gesehen habe. Der Prinz drängt sich durch die Menge der Mannschaft. Mich sieht er nicht. Er gesellt sich den anderen zu, langsam gehend, ein Lächeln auf seinen dunklen Lippen verbeißend, mit ungleichen, müden Schritten den Hof überquerend.

Jetzt ist das Werk der Feuerwehrleute vollendet. Hilflos ist die aufgeregt pustende Feuerspritze. Das Haus ist verloren. Die Feuerwehrleute müssen sich zurückziehen, die umliegenden Häuser, soweit sie noch nicht brennen, zu schützen versuchen. Die Pferde schnauben, sie stampfen mit den glitzernden Hufen auf die Schulfahnen, die jemand gerettet und am Boden liegengelassen hat, sie schlagen mit den Schweifen aufgeregt umher. Die Männer führen sie fort. Mit den hohen Schuhen treten sie sicher und fest auf den glühenden Boden, die Fahnen beachten sie nicht, lassen sie glimmen und zugrunde gehen. Ab und zu blickt einer zurück, hebt den Raupenhelm von der schweißüberströmten, aber dennoch blassen Stirn und nimmt den Weg schneller zwischen die Füße. Es ist tief in der Nacht. Kein Mond. Kein Stern. Bloß Hitze und Wind.

Bald ist der Hof verlassen. Das Feuer hat sich aus dem Stadium des wütenden in das Stadium des befriedigten Feuers gewandelt.

Als wäre es aus Papier, hebt sich plötzlich das ganze Dach, bleibt eine Sekunde oben und stürzt wie ein Feuerwerk funkelnd zusammen. Dann beginnen die Mauern zu glühen. Die lebhaften Flammen, das Züngelnde, Prasselnde ist verschwunden. Ruhig und ernst brennt das gewaltige Gebäude, die Heimat meiner Jugend, nieder und schweigt.

Kapitel Zwei­und­zwanzig

Nie vergesse ich den Gang durch das brennende Onderkuhle. Hinter mir auf dem hellen Hügel das lautlos flammende, wie in flüssige Bronze gebadete Hauptgebäude, über dem Schwärme von Vögeln kreisen, vor mir den lebhaft erleuchteten Park. Die Rauchschwaden haben sich in den Kronen der schönen Bäume verfangen, unter denen sich in jedem Augenblick mehr Menschen ansammeln. Durch viele Jahre haben nur Angehörige des adligen Stiftes diese Plätze betreten, jetzt sind von der ganzen Umgebung Menschen zusammengeströmt, in deren Mitte meine Kameraden, dann die Präfekten. Auch Gendarmensind eingetroffen und umstehen mit drohenden Mienen den Meister. Der weist sie an mich, und ich berichte, was ich weiß: daß das Feuer in der Kanzlei ausgebrochen, daß aus dem Benzinbehälter eines Motorrades Brennstoff ausgeflossen ist und sich entzündet hat. Das bin ich bereit zu beeiden. Allen leuchtet dies ein, man läßt den Meister frei, der mit einer gemessenen Verbeugung dankt. Er weiß sich zu beherrschen, anders als der Direktor, der von den verbrannten blauen Schulfahnen faselt. Ist denn nicht heute, am 29. Juni, unser ganzes Leben verbrannt und zu Asche geworden? Wenigstens das meine ist es. Mit verhülltem Gesicht, in den Händen die verbrannten, mit schwarzen Kreisen gezeichneten Handschuhe, so nehme ich den dunkelsten Weg durch das Gehöft, komme aber einer neu eintreffenden Feuerwehr, der Gutswehr des angrenzenden Gutes, in die Quere. Der Gutsherr ist ein herkulischer, nie den Humor verlierender Mann, auch er ist ein ehemaliger Schüler unserer Anstalt, und zwar ausnahmsweise ein bürgerlicher. Er erkennt mich sofort und hält mich mit seiner bäuerischen gewaltigen Faust fest, während er seinen Knechten Anweisung betreffs der Feuerspritze gibt. Aber es wird nicht viel zu machen sein, wie der Meister meldet, da an den wenigen wasserspendenden Hydranten bereits die Dampfspritze und die unsere angeschlossen sind. Der Meister und Herr B. kennen einander, oft hat Herr B. den Meister zur Jagd eingeladen, als wäre er seinesgleichen. Auch jetzt sprechen sie ruhig wie Brüder miteinander.

Unsere Kapelle ist von innen erleuchtet, als würde eine Messe hier abgehalten. Von der Reitschule ist nur ein Feuerkranz da. Ich benütze den Augenblick und flüchte mich, verliere mich tiefer in den Teil des Parkes, wo die Tiere angepflockt sind. Die Rinder sind stumpf, sie haben sich niedergelassen, ihre vielfach gewellten, überhängenden Wampen sind vom Feuer rötlich angehaucht. Sie fressen das zusammengeschmorte, fast zu Heu gewordene Gras, mahlen es und käuen wieder, mit ihren schweren eisernen Ketten rasselnd, der Leitstier mit seiner tönern klingenden Glocke läutend. Faltig und hell glitzernd hängt ihnen die erwärmte Haut an der regelmäßig atmenden Brust. Ihnen allen ist trotz des Feuers friedlich zumute. Deutlich klingt das andauernde Sausen des Feuers hinüber, ab und zu durch ein dumpfes Donnern unterbrochen, welches das Zusammenstürzen einer Treppe, einer Traverse, einer Mauer kennzeichnet. Ich blicke nicht wie die großäugigen Rinder friedlich dem Feuer entgegen. Wie die Pferde habe ich mich scheu abgewendet, meine Augen tränen. Nein, ich weine nicht, denn ganz regelmäßig sammelt sich, ohne wahre seelische Erschütterung, ein Salztropfen nach dem anderen in meinen Augenwinkeln und rinnt von da ab. Mein Freund Titurel geht an mir vorüber, mit dem Prinzen Arm in Arm. Der Prinz hinkt etwas, beide sehen mich und sehen mich nicht. Die Pferde sind aufgeregt, sie reiben sich aneinander, öffnen die Mäuler, als wollten sie gähnen, sie wiehern, sie suchen etwas mit ihren erhobenen, schwanenartig gestreckten Hälsen, sie blicken ratlos und verstört, sie winden sich, wollen fort und knabbern mit ihren Raffzähnen an den sie festhaltenden Bäumen umher, vernichten die Rinde, scharren die Erde zu ihren Füßen auf. In den Schollen bricht sich die ferne Flamme, golden und zart. Keines berührt etwas von dem Heu, das der mitleidige Stallpage zu ihren Füßen ausgebreitet hat. Sie sind einander nicht freundlich gesinnt, obwohl sie sich aneinanderdrängen, sie stoßen und beißen einander, legen die Ohren zurück, und eines von ihnen, mein geliebter Cyrus, hat sich in seiner sinnlosen Angst auf den Boden geworfen und ist in Gefahr, sich zu erwürgen, da der lederne Haltezaum ihn fesselt und ihm schon eine tiefe Furche in seine seidenweiche, feine mausgraue Haut gezeichnet hat. Dabei stößt er in unbändiger Wut alle viere von sich. Sein gewaltiger Körper hat alles platt gedrückt, das zartere Gebüsch, dessen erste Früchte im fernen Feuerglanz wie Goldträubchen leuchten, wie in der Herbariumpresse gepreßt. Wie das Licht auf immer neue Stellen seines mit schwellenden Adern bedeckten Unterleibes fällt, habe ich die Gefahr erkannt, in der das Tier schwebt; ich schütze mich, so gut ich kann, vor den umherstampfenden, in der Luft umhersausenden Hinterbeinen mit den scharf beschlagenen Hufen, gewinne schnell die Kopfseite, zäume das Pferd ab, indem ich die Schnalle löse, rede ihm gut zu, denn ich weiß, daß Pferde auch in den Augenblicken stärkster Erregung der Menschenstimme zugänglich sind. Sofort wird das Tier ruhiger, erhebt sich, erst mit den Vorderfüßen und dann, aufschnellend wie ein Ball, auf den prachtvollen Hinterbeinen und steht, tief schnaubend, schweißbedeckt, gold und grau glänzend, wie aus Erz gegossen neben mir. Es reibt seine noch zitternden Nüstern an meinem hechtgrauen Gewande und wiehert mir leise zu.

Zu meinen Füßen schlängelt sich etwas Feuerfarbenes, Rauhhaariges. Jetzt stößt die Feuerkatze ihre langgezogenen Wehklagen aus, wimmernd wie ein kleines Kind. Sie ist auf immer aus ihrem Haus vertrieben, an das solche Tiere sich mehr gewöhnen als an den liebsten Menschen. Warum hat sie sich dem Feuer nicht ganz ergeben? Sie folgt uns, mir und dem Cyrus, den ich weiter ins Dunkel führe, bald aber wendet sie sich mit einem noch wehmütigeren, zarteren Klagen von mir ab und kehrt hopsend zu dem flammenden Hause zurück, läuft mir aber bald wieder nach, erhobenen Schwanzes, das große Maul weit geöffnet beim Schreien, so daß man die spitzen Zähne alle sieht und die geriffelte große Zunge. So will mich keines der Tiere verlassen.

Ich aber will allein sein, ich muß allein sein, auf meiner Brust liegt ein Gewicht, vielleicht nur das Gewicht des eingeatmeten schweren, beizenden Rauches, da mir bei jedem Ausatmen leichter wird und es sich bei jedem Einatmen mir mit neuem Gewichte auf die Herzgrube legt. Ich wußte damals nicht, wie Kummer tut. Nur dies war es. Sähe mich ein Fremder, etwa Titurel oder Prinz Piggy, so glaubte er, ich wäre ganz gebrochen, völlig zusammengefallen. Aber ich war es nicht. Ganz kann ein Orlamünde sich nicht vergessen. Jetzt erscheint es nur als Folge meiner legeren Haltung, ich tue, als käme ich von einem weiten Spaziergange oder von einer anstrengenden Reitstunde – so schleppe ich mich über den kiesbedeckten Weg, der aus dem Park herausführt.

Ich sitze auf, mein Pferd Cyrus hält ruhig still; obwohl ich keine grobe Gewalt mehr über das Tier habe, fügt es sich mir leicht. Ich bleibe ein Mann auch in dieser Stunde, ein Reiter auch in diesem Ort, in dieser brennenden Heimat, der sterbenden. Es ist düster unter den Lindenbäumen der Allee, denn durch das dichte Dach dringt der Feuerschein nur matt auf den Hals und die kurze Mähne des Pferdes vor mir und auf meine unbehandschuhten Hände, die stark zu schmerzen beginnen. Am leichtesten erträglich wird der Schmerz, wenn ich die Hände bis zur Schulterhöhe hebe und bloß durch Schenkeldruck mich auf dem hohen Gaul behaupte. Von selbst beginnt Cyrus weich loszutraben. Weit hinter uns die Brandstätte, leise klingen die Hornsignale der Gutswehr herüber. So geht es durch die immer stärker duftende, unter den Gewitterwolken fast schwarz daliegende Lindenallee, vorbei an den für immer verlassenen Spielplätzen der brennenden Schule. Jetzt muß ich über einen kleinen Steg, der unter den Hufen des Tieres dumpf wie eine Trommel eines wilden Kongonegerstammes erklingt. Bei der Wendung des Weges leuchtet es dunkelrot herüber zu uns. Das Pferd zuckt beim Scheine zusammen, es verstärkt sein Tempo zu einem kurzen Galopp. Viele Blätter fallen. Dürre, Sommerbrand und früher Herbst in einem. Ein heißer, starker Wind beginnt sie kreisend zu umgeben und emporzutragen.

So schnell das Pferd auch geht, so versuche ich doch, einen Blick zurückzuwerfen. Ich erblicke unser Schulgebäude, ohne Dach, mit den halb zusammengebrochenen Mauern, aus denen lebhafte Flammen schlagen; je weiter man kommt, desto gewaltiger scheint es sich gegen den erzdunklen Nachthimmel abzuheben. War dies nicht alles schon einmal? Niemals wieder wird es sein. Ich werde da nicht mehr leben. Das gleichmäßige, wiegende Heben und Senken, Fallen und Steigen im Galoppschritt soll mich beruhigen. Meine Augen sind in der reineren Luft schmerzfrei geworden. Aber wenn der Huf des Cyrus gegen einen Stein stößt, geht es mir zum Herzen, nicht ohne Schmerz.

Jetzt ist die Schule mit ihrer Brandhülle ganz verschwunden, wir reiten unter jungen Buchen dahin, die in der schwülen Sommerluft nur leise hauchen und raunen. Nun kommt die Pappelallee, und dann wendet es sich bergauf. Unter dem ernsten Grün der Nadelbäume erscheint der erste Widerschein des nächtlichen Sees. Ein düster roter, von Funkensternen durchbrochener Wolkenhimmel treibt die im ewigen Windhauche erschauernden Kronen der Bäume zusammen, es öffnet sich der Weg, der Abfluß des ferne goldig angehauchten Sees rauscht in gedämpftem Paukenschlage über das Wehr. Die Trompetensignale raunen, sie tönen wie Weckrufe am Morgen oder Schlußsignale nach einer Exerzierübung. Ist es das Ende aller Versuche, den Brand zu löschen? Durch den balsamischen Odem des Waldes haucht etwas von dem schweren, giftigen Geruch des Brandes. Wir stoßen an hohe, weiche Heuschober. Ohne Kraft jetzt bin ich nur an das Pferd geklammert, ich sinke herab. Ich liege auf dem schwer duftenden Heu. Über mir die großen steingrauen Augen des Pferdes. Das Wasser ist bewegt, es schlagen die Wellen regelmäßig an. Viele Vögel regen sich im nahen Walde, von dem Brande erweckt. Einige haben sich aufgemacht, sind über die Wasserfläche geflogen. Ihre ausgebreiteten Flügel zeigen den goldenen Widerschein des Brandes von Onderkuhle, oder ist es der spät aufgehende, kupferfarbene, übergroße Mond? Ich wende mein Gesicht von dem ruhig das Gras rupfenden Pferde ab, verberge mein Gesicht in dem Ärmel und weine die ersten Tränen, nicht die letzten.