Buch lesen: «50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2», Seite 29

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Kapitel Siebzehn

Zugleich mit dem Herzog Ondermark, der dem Kuratorium unserer Anstalt angehört, wird sein Sekretär erwartet, der eine der Revisionen in bezug auf unsere Geldverwaltung vornehmen soll. Infolgedessen ist der Rendant, der »unverwüstliche Beamte«, unaufhörlich auf den Füßen. Er tut uns leid, und Prinz Piggy, der sein Motorrad (das er übrigens fast nie benutzt) sonst niemand leiht, hat es dem Rendanten auf einige Tage überlassen, wenn er es zu Fahrten nach V., wo sich die meisten Lieferanten des Stiftes Onderkuhle befinden, brauchen sollte. Es ist uns bekannt, daß der Rendant eine achtköpfige Familie zu versorgen hat. Er kennt also Entbehrungen nicht nur an sich selbst, sondern auch an seinen Kindern, den unmündigenbesonders, denen er sie nicht einmal durch seine Gegenwart lindern kann. Denn er hat hier während des ganzen Jahres Dienst, ebenso wie der Meister und ich, wogegen die andern, der Direktor, Abbé, Professoren und Präfekten, selbst die kleinen Beamten und Handwerker bis zu den Dienern, ebenso wie die Schüler ein Anrecht auf Urlaub haben. Aber ich und der Rendant sind nicht das gleiche. Wenn ich mich im Licht des Meisters sonnen konnte, bleibt der Rendant immer in seinem Schatten. Er ist nicht so sehr des Meisters rechte Hand als dessen Schuhsohle, auf die der Meister tritt, als wäre dies das Natürlichste auf der Welt. Obwohl der vertrocknete dürre Rendant zu uns Zöglingen in keinem Kameradschafts- oder Vorgesetztenverhältnis steht, grüßen wir ihn doch, und manche der freigebigen Knaben tragen ihm Kleinigkeiten für seine Kinder zu. Nun sehen wir ihn trotz der Hitze in sein langschößiges, speckig glänzendes Gewand gepreßt; vom frühen Morgen bis zum späten Abend läuft er zwischen seiner Kanzlei, den Lagerräumen und Vorratshäusern hin und her, rattert auf dem Motorrade los nach der Stadt, kommt in grauem Staubgewande zurück, sattelt seine schmutzbedeckten Aktentaschen ab und steckt sich sofort, während seine Äuglein den Meister suchen, eine der in der Mitte durchgebrochenen Zweicentimeszigaretten aus algerischem schwarzem Tabak zwischen die Lippen. Diese sind trotz der Anstrengung blaß und können selbst jetzt beim Rauchen nicht die mechanische Bewegung des Zählens und Rechnens unterbrechen, so daß des öfteren ein Stummel zur Erde fällt, wo er von den immer gierig umhergackernden Hühnern aufgenommen und wütend zerrupft wird. Piggy kann sich natürlich seines bellenden Lachens nicht enthalten, wir andern werfen aber dem Rendanten neue Zigaretten zu, die er »zur Sicherheit« zwischen die Blätter des großen Rechnungsbuches klemmt, um dann, mit den schweren Aktentaschen unter den dünnen Kanzlistenarmen, den blanken Kopf voran in der dunklen Tür seines Büros wie eine Eidechse zu verschwinden.

Ich überrasche ihn dann zu Zeiten, in denen der Hof von den Schülern verlassen ist, hier in aufgeregtem Gespräch mit dem Meister; sie bewerfen einander mit Zahlen und mit unverständlichen Geschäftsausdrücken, aber beide verstummen, als sie mich erblicken. Ich gehe fort und überlege mir, nicht ohne Bitterkeit, daß hier ein Familienvater der gutmütigsten, anspruchslosesten Art dauernd von seiner Familie ferngehalten wird, ohne diese doch von den dringendsten Sorgen befreien zu können. Alle Geschäfte betreibt er, Prolongierungen und Diskontierungen, nur die eigenen Geschäfte nicht. Wir aber, die Söhne ohne Väter? Kann mir der Meister trotz seiner vielleicht echten Neigung den Vater ersetzen? Jetzt hat er den Rendanten, so ungern dieser ihn losläßt, allein gelassen und kommt mir eilig nach. Ich gehe nur um so schneller.

Ich habe es bis jetzt nicht erklärt, aber gesagt muß es werden, daß ich körperliche Berührung von einer fremden Hand hasse. Es ist eine Erbeigentümlichkeit meiner Familie mütterlicherseits. Meine Mutter habe ich geschildert, wie sie ist, als die kindlichste, verspielteste, reizendste Frau, die es gibt. Aber habe ich gesagt, daß meine Mutter sich stets vor mir gescheut hat? Sie spielte mit allem. Sie griff einem inzwischen längst verstorbenen, immer kränklichen Hündchen ohne Scheu in das Maul, aber mich berührte sie nur mit dem äußersten Widerstreben. Dies war der einzige Grund der Zwistigkeiten zwischen meinem Vater und ihr. Sie faßte mich nie an, weder aus Zärtlichkeit noch zur Strafe. Und ich erbe dies von ihr, nähere mich kaum je ihrem Mund, ihrer Hand oder ihrem Halse, den sie gern mit Perlen geschmückt trägt, außer zu einem mehr gehauchten als wirklich mit warmen Lippen gegebenen Kusse. Es ist mir unbegreiflich, grauenvoll und beruhigend zugleich, wenn mein alter Herr mich rücksichtslos an seine schlecht rasierten Wangen drückt und wenn er mit seiner herabhängenden, müden, trübrot beschlagenen Unterlippe meinen Mund küssen will, was ich aber so geschickt abzuwehren weiß, daß er mein Widerstreben nicht merkt. Oder ist er nur zu vornehm, um es mir zu zeigen?

Jetzt kommt mir auf dem Hofe vor dem Lazarett der Meister nach und faßt nach meiner Hand, in der ich noch die zerrissenen Abschnitzel eines unvollendeten Briefes an meine Eltern trage. Meinem Vater, dem edelsten Menschen, ließ ich meine Hand nicht so lange wie jetzt dem Leibeigenen, ohne ein qualvolles Gefühl der Beklemmung zu haben. Aber dem Meister füge ich mich in alles. Es ist grauenvoll und beruhigend zugleich, wie jetzt mit dieser Berührung das Vorgefühl des T., das mich den ganzen Tag umhergehetzt und mir nicht einmal die Ruhe zu dem Briefe an meinen Vater gelassen hat, wie dieses T. sofort verschwindet, wenn der Meister meine Hand mit der seinen umfaßt. Ist es Gefangenschaft? Zärtlichkeit? Ist er der Herr? Ich der Knecht?

Schließlich muß ihm der Zug meiner Hand sagen, daß ich von ihm fortwill. Ohne mich anzusehen, gibt er mich frei. Warum ist meine Hand so schwach geworden, daß sie die Papierschnitzel, die unnützen Trümmer eines nie geschriebenen Bekenntnisses, fallen läßt, die nun von dem heißen, sandigen, in seiner Glut rauhen Winde aufgehoben werden und nun einen Flug beginnen, der sie, an den geschlossenen Fenstern der Anstalt vorbei, fast bis an das Dach des in der Hitze starrenden roten Schulhauses führt?

Kapitel Achtzehn

Die Zeit der großen Gewitter, welche während der ganzen Nacht mit ihren strömenden Güssen die Schlafräume mit ihrem balsamischen Dufte gefüllt hatten, ist vorbei. Ihr ist eine wolkenlose, für Ende Juni ungewöhnlich heiße Witterung gefolgt. Ein stürmischer Wind scheint immer von dem milchweiß oder gelblich umdunsteten Rande des Horizontes hervorzusausen, wobei seine Stärke, nicht aber seine Richtung gleichbleibt. Die Augen der Zöglinge röten sich infolge des Staubes, der von weit her zu uns getragen wird, man verläßt das Haus so wenig wie möglich und muß sogar nachts oft das Fenster schließen, da der sturmartige Wind niemand Ruhe gönnt. Wer wie ich im oberen Stockwerke des Schülertraktes wohnt, kann oft während der ersten Nachtstunden kein Auge schließen, sosehr er sich auch danach sehnt, da von den stark erhitzten Ziegeln des Daches eine furchtbare Glut ausströmt. Das nach und nach ganz ausgedörrte Gebälk beginnt zu krachen, um sich dann in den kühleren Morgenstunden wimmernd zusammenzuziehen, so daß man weder in den Stunden um Mitternacht noch in denen der Morgendämmerung die Erholung findet, deren man in dieser unnatürlichen Zeit besonders bedarf. Infolge dieser »unnatürlichen« Zeit ist eine Mißernte nicht ausgeschlossen, und der Rendant, der einen Teil der Ernte in V. verkaufen wollte, kommt mit ganz verzweifeltem, aber deshalb nur um so blasserem Gesicht auf seinem Motorrade zurück. Oder ist der Grund seiner Verzweiflung ein anderer? Was können die paar Scheffel bedeuten? Neben dem äußerlich ruhigen Meister erscheint seine Erregung fast lächerlich. Wer sollte auch das Lachen verbeißen, wenn der unverwüstliche Beamte, der sorgenreiche Rendant den Rest seiner noch nicht entzündeten Zigarette in seinen kummervollen Gedanken hinunterschluckt? Aber mir kommt dieses Lachen nicht aus dem Herzen. Wie gern wollte ich ihm helfen! Vielleicht fehlt ihm zum Ausgleich seiner schlechten Rechnung nur eine kleine Summe. Aber unter den ärmsten und hilfsbedürftigsten Zöglingen von Onderkuhle ist keiner ärmer als ich, keiner hilfsbedürftiger; wenngleich ich nicht nur in Geldmangel die Armut, noch in ein paar tausend Franken die Hilfe sehe, wie dieser arme Vater von sieben Kindern in seinem abgetragenen grauschwarzen Anzug hier …

Jetzt kommt die letzte Nacht in Onderkuhle oder die letzte Nacht von Onderkuhle. Denn dies ist das gleiche. Ich habe Onderkuhle überlebt. Es ist nicht mehr. Zwar: was von mir nach dem Brande von Onderkuhle zurückblieb, heißt nur Boëtius von Orlamünde, ist aber ein anderes Wesen. Oder scheint es nur mir so?

Nach dem gemeinsamen Abendessen (wie genau erinnere ich mich noch heute der Kirschen, die zum Nachtisch kamen, dunkelrot, feucht vom Wasser, in dem man sie gebadet hatte, und mit Resten von Blättern an den Stengeln, die aber von der unmäßigen Sonne fast zu Zunder verbrannt waren), nach dem Abendbrote begebe ich mich in mein kleines Zimmer, das mir mit seinen vielen überflüssigen Schreibsekretären doppelt leer und unwohnlich vorkommt, seitdem Titurel keinen Schritt mehr hineinsetzt. Er ist mir gegenüber nichts mehr als ein korrekter Kamerad, ich komme in seinen »Aufgaben und Rechnungen« nicht mehr vor, nicht in seinem Haß, weniger noch in seiner Liebe. Er hat mich ausgelöscht, oder, ärger noch, meine Existenz hat sich ihm von selbst ausgelöscht, so daß ich ihn nicht einmal zum Zorn reize noch auch zum Widerspruch – denn auch dies wäre mir ein Zeichen, daß ich für ihn noch lebe. Es ist vorbei.

Ich nehme noch im Waschraum ein kaltes Duschebad und begebe mich dann zu Bett. Die aus dem dämmerigen Baderaum mitgebrachte Kühle tut mir wohl. Die Dinge bleiben wohlwollend, sie versagen die Treue nie … Ich schlafe sofort fest ein.

Aber schon eine Viertelstunde später erwache ich. Vor meinem Fenster, das nach Süden geht und trotz dem unheimlich sausenden Winde weit offen ist, breitet sich der klar ausgestirnte, ultramarinfarbene, wolkenlose Himmel bis an die waldigen Berge des äußersten Horizontes aus. Ich kenne vom Unterricht her viele von den Sternen. Auch die Geographie der Erde war mir stets ein Lieblingsfach, ich kann mir die Erde mit ihren Erdteilen und riesigen Meeren ganz lebhaft vorstellen und dabei doch ihrer Kugelgestalt eingedenk bleiben, mir Städte, Gebirge und Flüsse an ihrem unverrückbaren Orte stets ins Gedächtnis rufen, das mich hier nie im Stich läßt. Aber mehr noch reizte mich immer die unabsehbare sphärische Geographie des ewig bewegten, kreisenden Himmelsgewölbes, die Namen und Stellungen, Lichtfarben und Klassen der Sterne, von denen ich immer Neues von unserm alten Professor (einem ehemaligen Seeoffizier) erfragte. Bis jetzt wirkte ihr Anblick in den guten, in den besseren Tagen ebenso wohltätig auf mich wie auf die meisten Menschen. In der Verwirrung der Menschen kann man nicht dauernd bleiben. Mit seinen unbefriedigten und unerfüllbaren Wünschen kann man nicht ruhig leben. Die Sehnsucht nach Vater und Zuhause läßt sich durch Sport und Arbeit nicht immer überwinden ohne einen Freund. Aus der Unruhe des eigenen Herzens flüchtet der Mensch zu gern in den Anblick der Sterne und wird erquickt, getröstet von ihrer Harmonie, von ihrem sanften, lautlosen Gange. So auch ich, bis auf diese Nacht. Von dem panischen Schrecken, der mich heute nacht bei dem plötzlichen Erscheinen der stark blitzenden Gestirne packt, kann aber keine Schilderung berichten. Besonders ist es ein Sternbild im südlichen Himmel, das aus fünf zusammengehörigen Sternen besteht und das mich bis zum Entsetzen ergreift, und unter den fünfen ist es wieder besonders der höchststehende, der eine Jahrmillion von uns entfernt sein soll und von dem ich nicht lassen kann. Was soll die Furcht? Furcht ist sinnlos. Vor nichts braucht ein kleines, namenloses, zu höchstens sechzig bis siebzig Jahren Lebensdauer bestimmtes, aber selbst in dieser kurzen Frist immer zwischen Leben und T. schwankendes Wesen so wenig Angst zu haben als vor diesen Weltenkörpern, die uns nie erkennen, sich nie um uns kümmern, uns ewig fremd sind. Was sind wir ihnen? Weniger als Hekuba, nichts. Wir bestehen vor ihnen nicht. Was sind sie uns? Doch nur ein schöner Anblick, etwas, das edlere Gefühle anregt, wie die blauen Fahnen unseres adeligen Stiftes, Sinnbilder ohne Wesen und Wirklichkeit. So spricht der Verstand. Aber er überzeugt nie. Vergebens lasse ich, um dem Grauen zu entgehen, die zwilchleinenen Fenstervorhänge niederfallen, wobei die eiserne Stange, an der sie aufgerollt sind, mit dumpfem Klang wie ein abgeschlagenes Haupt auf das Fensterbrett niedersaust. Die Sterne brechen dennoch mit ihrem fürchterlichen Glänze durch. Sie stechen, und der eine bestimmte Stern von den fünfen funkelt ganz besonders grell durch die feinen Lücken des schlissigen Gewebes. Vergebens hülle ich mich in mich selbst wie in eine Decke, ich erinnere mich meiner sonderbaren rothaarigen Existenz, ich denke an meine Leistungen, an meine »Rechnungen und Aufgaben«, an meine Lebensziele, an Geographie und Geschichte, Sport und Pferde, ich versuche vergebens, einen Brief an meinen Vater aufzusetzen, an ihn, der mir so sehr fehlt, gerade jetzt! Nur eine Zeile von ihm, ein Brief, wie ich deren schon so viele ohne großen Dank und sogar ohne tiefe Erregung bekommen hatte und alles wäre anders. Der Gedanke an das Unendliche faßt immer stärker in mich hinein. Es krampft sich etwas in mir fühlbar zusammen, und plötzlich höre ich mich so seufzen und stöhnen, wie das Pferd Cyrus, besiegt durch inneren Zug, gestöhnt hat. Muß es nicht schrecklich anzuhören gewesen sein, dieses mein Seufzen oder Stöhnen, wenn die Jungen im Schlafsaal nebenan aufmerksam werden? Ihre Roulettuhr hört auf, sich schnurrend zu drehen, einige stehen auf und kommen zur Tür, um nach mir zu fragen und trotz meinem Schweigen mich durch wiederholtes Pochen und sogar Pfeifen zu sich einzuladen. Bei aller Anteilnahme ist auch Hohn dabei, ich weiß es. Stolzer ist es, allein zu bleiben.

Noch kämpfe ich mit aller Energie gegen das Furchtbare an sich, gegen das Zerschmettertwerden. Ein kleines Kind, das man in wärmeren Landstrichen nackt unter die dort noch viel schärfer blitzenden Nachtgestirne legt, erträgt diesen Anblick ohne weiteres, es lächelt, leckt sich mit der Zunge die letzten Milchreste von den wulstigen Piggylippen und schläft ein. Aber ich, ein Orlamünde? Ich soll davor fliehen? Ich muß? Mit den andern Roulett spielen, wenn es hier Ernst ist? Wem kann ich dann ohne Furcht begegnen? Wovor kann ich bestehen? Was soll aus mir werden? Aber ich fühle es, wenn ich den Kopf absichtlich wende und mir trotzdem das giftige Strahlen des fünften Sternes in die Augen fällt durch die Lücken des alten Vorhanges – nur widerspenstig bin ich wie das Pferd Cyrus, nicht mehr mutig. Einst träumte mir von einem Tod unter diesem Pferd, jetzt sehe ich einen Tod, wie er dieses Pferd erwartet, vor mir.

Die Zeit muß, nach dem Stande der Sterne zu urteilen, nahe an Mitternacht sein. Die Hitze ist kaum noch zu ertragen. Ich ertrage mich selbst nicht mehr. So gehe ich zu meinen Kameraden, die mich empfangen, als wäre ich eben aus ihrem Kreise fortgegangen. Sie sind noch fast alle wach, sitzen aufrecht, manche halbbekleidet, manche nackt wegen der Hitze. Titurel trägt einen ausgewachsenen Schlafanzug, den ich schon kannte, als er ihm noch zu weit war. Er läßt die Roulettuhr in seiner abgebrannten großen gelben Hand kreisen, wobei ihm Piggy mit seinen marmeladefarbenen Augen zusieht und doch auch seine Augen nicht von den Einsätzen läßt, welche die Zöglinge machen. Da ich kein Geld habe und ohne Einsatz nicht spielen will, bekomme ich das Amt, die Uhr zu handhaben. Sie hat eine Feder, die man bis ans Ende aufzieht und dann losschnurren läßt. Der Zeiger bleibt dann auf einer wechselnden Stelle stehen, zeigt die Zahl und die Farbe an. So geht es durch Stunden. Einige Schüler haben bares Geld, Goldstücke und Silber, andere schreiben Ziffern auf Zettel aus ihren Notizbüchern, auch gibt es einige, die Wertgegenstände an Stelle des Geldes annehmen und abgeben. Alles Derartige überwacht Piggy, während Titurel sich ganz dem Spiel als solchem hingibt. Inzwischen wird es Morgen. Es hat sich am Rande des Horizontes eine rauchige Trübung des ultramarinfarbenen klaren Himmels eingestellt. Einige unter uns sind bereits von der Müdigkeit überwunden; sie sind eingeschlummert, liegen mit ihren nackten Oberkörpern, an denen man die Rippen sich ausweiten sieht, auf der Seite, einer hält mit seinen blassen vollen Lippen, welche von dem ersten Flaum eines Schnurrbartes beschattet werden, den Rest einer allmählich verkohlenden Zigarette umklammert, bis sie ihm ein anderer, jüngerer, lachend fortnimmt, andere haben sich, in den Händen noch die Zettel mit Einsätzen und Gewinnen tragend, wie Igel zusammengerollt und schnarchen ächzend. Einer trägt die Likörflaschen an den Hälsen zusammen und verbirgt sie in einem Fach des großen Institutsschrankes. Vor den Fenstern hört man die Hähne krähen. In den Gebüschen flattert es, und die Singvögel beginnen die ersten, fast unhörbaren, sehr süßen Flötentöne, die sie absichtlich recht lang ziehen, als wenn es Fragen wären. In der bereits taubengrauen Dämmerung durchschwirren sie die feuchte Luft, noch unsicher erheben sie sich im Morgennebel und senken sich, während sie sich wie kleine Gewichte schnell niederfallen lassen. Die rauchige Stelle am Horizonte hat sich wie ein weißlicher Flaus mit Blut gefüllt. Langgestreckte Wolken beginnen mit ihrer der Erde zugewandten Seite wie Apfelsinen zu glänzen. Mit einem Male ist es ganz hell, und das Rot ist glühend geworden, in Wellen bewegt und kaum mit bloßem Auge zu ertragen. Die Jungen sind alle verstummt, niemand schenkt der Roulettuhr Aufmerksamkeit außer Piggy, der unermüdlich wacht und dem alle übrigen Einsätze bleiben. Er nimmt nachher die Roulettuhr als sein Eigentum in Empfang.

Ich kehre in mein Zimmer zurück, das im Gegensatz zu der verbrauchten und nach Zigaretten riechenden Atmosphäre des Schlafsaales von einem würzigen Salbeiduft erfüllt ist, wie er jetzt durch den kühleren Morgenwind von den frisch gemähten Wiesen herübergeweht wird. Die Gutsarbeiter verlassen jetzt in kleinen Gruppen ihre Häuser. Der Meister tritt fröstelnd und blaß vor das Haus und sieht sich um. Dann begibt er sich schnell in das Hauptgebäude, wohl um vor seinem ersten Inspektionsgang die blauen Fahnen abzustauben. – Ein Bäcker kommt mit einem großen Korb voll Brot. Das Zimmer füllt sich mit dem Lichte der grandios aufsteigenden Sonne, man hört das Getümmel der Pferde in den Stallungen, das Brüllen der hungrigen Kühe und leise und vertraut das Scharren und fragende Miauen meiner Feuerkatze, die sich während der Nacht auf den Wiesen und Getreidefeldern umhergetrieben hat, wo sie auf die Mäusejagd gegangen ist. Jetzt schmeichelt sie sich hinein, will mich mit ihrem noch mit Blut befleckten Maule liebkosen, wobei sie schnurrend den feuerroten Rücken hochwölbt. Jetzt möchte sie sich zu meinen Füßen auf der Anstaltsdecke zusammenrollen und schlafen. Lange sucht sie nach der für sie bequemsten Stellung, wobei sich ihr Schnurren verstärkt. Das ganze schlecht gezimmerte Institutsbett zittert mit – unter diesem Geräusch schlafe ich endlich ein.

Kapitel Neunzehn

In dem Traum dieser Nacht muß etwas von dem Brande Onderkuhles gewesen sein. Zwar ist es mir nicht klar, wie es möglich sein sollte, daß Onderkuhle zweimal gebrannt habe, und zwar das erstemal während meines kurzen, durch Windstöße gestörten Schlafes zwischen vier und acht Uhr morgens und dann in Wirklichkeit an dem Abend dieses Tages. Ich weiß nur, daß ich dadurch geweckt werde, daß zu ungewohnter Stunde die Zöglinge in den Schlafsaal zurückkehren, um sich dort die Galauniform anzuziehen. Der Herzog hat eben aus der nächst Onderkuhle gelegenen großen Bahnstation dem Obersten telegrafiert, daß er mit seinem Sekretär lieber mit dem Wagen abgeholt sein will, statt die Reise mit der Kleinbahn fortzusetzen. Ich höre dies aus den Gesprächen der Knaben und richte mich für meine Person danach. Zufällig blicke ich hinaus und sehe den Meister neben dem »unverwüstlichen Beamten« mitten in der sausenden Morgenglut stehen, sie sprechen aber nicht miteinander, sondern bloß ihre Hände bewegen sich unruhig, schließlich rafft sich der Meister auf und geht seiner Behausung zu; der Rendant folgt ihm wie hypnotisiert, so in Gedanken versunken, daß er fast von dem eben in schnellem Tempo losfahrenden Wagen, der mit unseren besten Pferden bespannt worden ist, überfahren wird. Der dritte in Träume Versunkene bin ich, der weiß, daß er etwas Bedeutsames geträumt hat, aber noch nicht richtig auf den Geschmack dieses Traumbildes gekommen ist.

In sehr kurzer Zeit erscheint der Wagen wieder. Im Fond sitzt ein einfach gekleideter Mann von etwa fünfundvierzig Jahren. Er ist in einen sehr weiten, aber ausgezeichnet geschnittenen englischen Reiseanzug gekleidet. Er ist eher klein als groß und unmilitärisch in seiner Haltung. Nur beim Reden werden die schon etwas schlaffen Züge straffer. Das unbewußte, das angeborene Kommandieren (eine seltene Begabung) wird dann offenbar, wenn er etwas ablehnt: dann hält er den linken Vorderarm rechtwinklig abgebeugt und schiebt das von ihm nicht Gewollte in eine nur ihm sichtbare Versenkung, so daß nie mehr die Rede davon ist. Dagegen winkt er, wenn er etwas haben will, bloß mit dem Zeigefinger der rechten Hand das Gewünschte zu sich her, wobei er den gelblichen, mit kurzem Haar bedeckten, langen und sehr schmalen Schädel ein wenig hebt. Er gibt dem neben ihm sitzenden Sekretär allerhand Winke und Aufträge, die sich offenbar auf die Zeiteinteilung des ganzen Tages beziehen. Am Abend, gegen zehn, muß der Herzog wieder fort, es erwartet ihn ein Extrazug, da er am nächsten Morgen einer wichtigen Sitzung in Brüssel beiwohnen muß. Seinen etwas verdrossenen und mißtrauischen Charakter versucht der Herzog mit großer Willensanstrengung zu überwinden, ebenso auch die Anzeichen einer Schwerhörigkeit zu vertuschen, die er wohl den gewaltig das Trommelfell erschütternden Winchesterbüchsen verdankt, wie man sie bei Tropenjagden anwenden muß. Solche Jagden hat er zu wiederholten Malen im Kongo und im englischen Sudan mitgemacht. Er winkt den in seiner goldgestickten Uniform schwitzenden Direktor an seine rechte Seite, offenbar, weil er an dieser besser hört, dann verbittet er sich, während er mit mißvergnügter Miene die Lippen des Obersten betrachtet, alle Adelsprädikate und ruhmvollen Ansprachen und ist für Einfachheit. Sein Blick hellt sich auf, als er uns in unsern neuen Uniformen schön aufgestellt erblickt, aber unsere Personen sind es und nicht die Galauniformen oder die Paradeaufstellung, die ihn erfreuen, denn er versammelt uns kurzerhand um sich und wünscht, daß wir die gewöhnlichen Uniformen anlegen. Auch im übrigen soll sich dieser Tag in nichts von einem gewöhnlichen Schultage in Onderkuhle unterscheiden, wie er solche in seiner Jugend hier mitgemacht hat.

Wir legen nun unter großem Hallo die Extrauniformen ab. Es ist ein ganz unvorschriftsmäßiges Geschrei. Aber der Meister, der im Hintergrunde steht und alles mit seinen eisgrauen Augen umfaßt, lächelt dazu. Er lächelt selten, und das Lächeln an diesem Tage hat viel bei mir entschieden. Nach dem Ausbruch des Brandes kam es dazu, daß man den Meister, dessen »Unregelmäßigkeiten« hier jeder kannte, aber keiner anzugreifen wagte, verdächtigte, er hätte gemeinsam mit dem Rendanten, der in die Geschäfte (Diskont und Prolongation, Börsenengagements und Verluste auf Kosten der Anstalt) verwickelt war und der die Untersuchung durch den Sekretär des Herzogs fürchten mußte, den Brand von Onderkuhle gelegt. Obwohl viel dafür sprach, glaube ich es nicht. Ich glaube nicht an die Schuld des Meisters. Erstens deshalb nicht, weil tatsächlich das ganze Hab und Gut, das schwer und gewissermaßen ehrlich erworbene Vermögen des Meisters in dem Brande unterging, doch vor allem nicht wegen dieses wohltuenden, leichten, väterlichen Lächelns, mit dem er die kreischende, jauchzende, sich schon im Hofe und auf den Treppen entkleidende Jugend begleitete.

Aber wozu jetzt schon von dem Brande sprechen? Noch stehen die Mauern des hohen, roten, schloßähnlichen Baues, noch flattern die grauen Vorhänge aus Zwilchleinwand vor den Fenstern. Die Pferde und Kühe und das andere Vieh, soweit es sich nicht auf der Weide befindet, leben heil und wohlbehalten in diesem Augenblicke noch in den gewohnten Ställen, und von dem ganzen Brand ist noch nichts da außer einer Vorahnung im Herzen des achtzehnjährigen Boëtius von Orlamünde. Jetzt trete ich mit den andern Jungen in das bedrückend schwüle, von gleißendem Glanz erfüllte Schlafzimmer der »Fünften«, blicke in die schnell geöffneten, riesigen Schränke, wo die Uniformen und die andern Habseligkeiten der Zöglinge sich in abgeteilten Fächern numeriert befinden. Dann erst stutze ich, seit langem bin ich ja aus diesem Raum verbannt, ich begreife mein Mißverständnis und gehe zurück in mein Kabinett. Titurel, beim Umkleiden halb entblößt, wirft mir einen sonderbar kalten Blick zu. Der Prinz Piggy legt nur den Kopf zur Seite, so daß sich richtige Speckfalten an seinem gelblichen, stämmigen Halse bilden. In meinem Zimmer erblicke ich die Feuerkatze, die noch tief schläft und sich in meinem Bett eine kleine Höhle gegraben hat. Eine Minute später eile ich zum Schwimmunterricht in die Halle, wo ich den verreisten Rittmeister vertreten soll.

Der Herzog hat sich inzwischen von dem Sekretär getrennt, der sich mit dem Rendanten an die Bücher und Kassarevision machen soll. Der Herzog selbst will mit der jüngsten Klasse zusammen sein, die jetzt ihre ersten Schwimmlektionen erhält. Die meisten können allerdings schon beim Eintritt ins Institut schwimmen, nur wenige, die Zartesten, können es nicht. Da ist ein blonder, sehr zierlicher Knabe, zehn Jahre alt, so alt wie ich, als ich hierherkam. Er ist ein wenig wasserscheu. Man merkt es gleich, wenn er aus der Kabine herauskommt. Das grünweißgestreifte Trikot ist ihm zu groß. Der Junge zittert. Vor Kälte kann er nicht zittern an diesem sausenden, überheißen Junitage. Aber er nimmt sich zusammen, streckt seine magere Kehle vor, blickt mutig mich, das Wasser und den Herzog an. Die seidigen aschblonden Haare hat ihm seine zärtliche Mutter daheim tief in die mädchenhafte, niedrige Stirn wachsen lassen, an deren unterer Grenze die ebenfalls aschblonden Augenbrauen wie mit einem millimeterbreiten Stift gezogen sind. Er spricht mit einem hellen, silbernen Stimmchen, halblaut wehrt er sich, ohne seinen Stolz aufzugeben, ohne seine Schwäche einzugestehen, gegen die gutmütigen oder auch boshaften Scherze seiner Kameraden, die sich darüber lustig machen, daß er an die »Angelrute« kommen soll, woran sie aber auch fast alle einmal gewesen sind, denn wie sollte man das Schwimmen sonst lernen?

Es gibt zwar auch Menschen, die man einfach ins Wasser wirft oder die sich selbst ins Wasser werfen (wie ich) und sofort schwimmen, schlecht zwar und unter großer Kraftvergeudung – aber doch. Sie sind selten. Ich sorge selbst dafür, daß die Riemen der Angelrute richtig umgeschnallt werden. Die Angelrute ist der in allen Schwimmanstalten gebräuchliche Apparat, der aus einer Stange besteht, die der Schwimmeister führt, und dem dazugehörigen Riemenzeug, das um den Schüler gelegt wird. Ich warte ab, bis sich die Aufregung des Jungen, den man bei uns Alma Venus oder einfach Alma genannt hat, etwas gelegt hat, bis sich seine feine Haut kühl anfühlt und sein Pulsschlag ruhig geht. Gerade diese Vorsorge scheint aber Alma zu bedrücken, denn seine mädchenhafte Stirn wird immer röter, seine niedlichen Lippen zucken, immer krankhafter reckt er seinen schmächtigen Körper, und unter den beiden Riemen an der Brust rieseln geradezu Ströme von Schweiß herab. Also: bloß schnell ins Wasser – und alles ist gut.

Da tritt der Fürst, der meinen Vater kennt, zu mir. Er reicht mir die Hand, die ich ehrerbietig nehme, er lehnt sich neben mich über das Messinggeländer des Schwimmbassins und gibt mir Grüße an meinen Vater auf. Er merkt aber, daß meine Aufmerksamkeit in dieser Minute geteilt ist. Er winkt mir freundlich mit seiner gelben, starken, männlichen, mit keinem Ringe, sondern nur mit einer breiten, dunkelbraun gewordenen Narbe geschmückten Hand. Ich wende mich meinem Alma wieder zu. Die wenigen Augenblicke Wartens haben aber die moralische Widerstandskraft des Jungen stark angegriffen. Er verkrampft jetzt seine schönen Lippen. Die Neckereien seiner Kameraden, welche sich durch die Anwesenheit eines Mitgliedes des königlichen Hauses nicht im mindesten bedrückt fühlen, lassen ihn abwechselnd erblassen und erröten, seine ersten Tränen rinnen, glücklicherweise nur von mir bemerkt, in das von den Zöglingen aufgerührte, in kleinen Wellen bewegte Wasser des Schwimmbassins. Unter anderen Umständen hätte ich die Schwimmlektion verschoben, bis wir, Alma und ich, allein gewesen wären.

Jetzt aber ist der Herzog aufmerksam geworden. Er ist entfernt mit Alma verwandt. Er lehnt sich nun in seinem leichten englischen Reiseanzug (Pfeffer und Salz) an das Geländer und raunt dem Jungen an der Angelrute zu: »Nur Mut, Baby! Hopp!« Gerade das macht das arme Baby ganz kopfscheu. Es weint nun ganz offensichtlich, während es die vorgeschriebenen Bewegungen rein mechanisch so ausführt, wie ich sie ihm beim Vorunterricht auf der Matratze beigebracht habe. Und nach ein paar schlechten, kraftlosen Schwimmbewegungen geschieht das Unglaubliche: Alma verliert die Fassung, beginnt nach der Mutter zu schreien und sich mit beiden Händchen um das eiserne Rohr zu klammern, das innen in Wasserhöhe um das ganze Bassin herumläuft. Ich nehme davon natürlich keine Notiz – merke nur, wie ich rot werde. Ich hätte selbst in der größten Gefahr nie an meine Mutter gedacht. Ich hätte sie nie gerufen. Nur meinen Vater. Nur ein Vater hat die Kraft, mir in meiner Angst vor dem T. helfend zur Seite zu stehen – aber wie weit entfernt ist er jetzt? Seit fünf Wochen habe ich keine Nachricht von ihm. Aber ich beherrsche mich – ich mahne auch die laut aufschreienden und boshaft johlenden Kameraden des mitleidswürdigen Alma zur Ruhe. Ich kommandiere weiter. Ich gehe Schritt für Schritt mit meiner Stange vorwärts und schleppe den hilflos mit den feinen, spitz zulaufenden Füßchen zappelnden Alma mit. Ich bin natürlich stärker als er. Er muß folgen. Er muß das eiserne Rohr loslassen. Es kann ihm nichts geschehen. Zwar ist das Becken hier so tief, daß ein Stück Blei versinken oder ein mit Willen ertrinkender Mensch untergehen könnte, aber der Knabe hat ja mich, der ihn vor dem Tode schützt.