Buch lesen: «50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2», Seite 16

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So berichtete Josi.

»Schon morgen willst du wieder fort, Josi, Herzensbruder? Sei nicht so bitter, glaube mir, Binia hat gräßlich um dich gelitten. Sie ist zu der Verlobung mit Grieg gezwungen worden.« Und in fliegenden Zügen schildert ihm Vroni die Ereignisse der Zeit. »Sie hat gräßlich gelitten um mich.« Tonlos sagt es Josi und weint.

»Daß ich auch so flennen muß,« stammelt er, »es ist ja eine Schande, wenn ein Mann greint, aber ich kann mich nicht wehren – ich flenne vor Freude, weil es dir so gut gegangen ist, Vroni, – wer hätte gedacht, daß Eusebi so ein Mann, wer hätte gedacht, daß wir die nächsten Verwandten des Garden würden – ich flenne, weil dein Kind Joseli heißt – weil ich wieder in St. Peter bin, wo Vater und Mutter begraben sind. Ich weine aus Wut über Thöni Grieg, erschlagen könnte ich ihn vor Grimm – ich weine, weil es mir das Herz vertrüdelt und bricht, daß ich Bini wiedergesehen habe. – Und schmerzenreich ist sie gewesen um mich, sagst du, schmerzenreich und ist jetzt doch Thönis Braut!«

Josi hat alle Fassung verloren.

Da kommt der Garde zurück. Wie er hört, daß Josi schon am Morgen in die Stadt gehen will und von dem Versprechen erfährt, das er Indergand gegeben, seufzt er erleichtert auf. Er setzt sich Josi gegenüber und nimmt seine Hand. »Ich meine,« sagt er herzlich, »ich sei auch dein Vater, Josi, und will offen mit dir reden. Wie du zu Bini standest, weiß ich und der Herrgott, der ins Herz sieht, weiß ebenso gut, wie schwer es mir wird, ihr ein Leid anzuthun. Daß du aber morgen die Beate Indergand sehen willst, das ist des Himmels Wink. Kämpfe, kämpfe, Josi, gegen dein Herz! Es wird jetzt schon eine Aenderung im Bären geben, Thöni Grieg kann nicht in St. Peter bleiben, ich könnte mich nicht zähmen, wenn ich ihn träfe, den unseligen Hund. Was da aber komme, Josi, hüte dich vor Binia! Der Bären wankt. Zu maßlos hat der Presi gewütet. Ein Volksgericht bereitet sich vor, wie es in alten Zeiten gegeben hat – und, lieber Josi, ich möchte dich, wenn der Bären gestürzt ist, nicht unter den blutenden Opfern finden. Darum, um Gottes willen, Hand weg von Binia. So wenig zu ihr wie zu den Feinden des Presi – mein Haus soll rein bleiben von Schuld – und wenn dir die Beate ein wenig gefällt, so sei freundlich zu ihr. Es ist Gottes Hilfe zu deiner Rettung.«

»O, wäre Bini nur nicht verlobt,« stöhnt Josi, »ich holte sie jauchzend mitten aus der Wut derer von St. Peter, aber ich kann nicht der Nachgänger Thöni Griegs sein – nein, beim Himmel nicht – und nicht mit einem Stecklein könnte ich sie mehr anlangen.«

»Josi, geh' zur Ruhe,« mahnt Vroni, »du bebst ja am ganzen Leib – du bist krank.«

Josi steht auf.

»Noch eins, Josi,« sagt der Garde, »so schwer es dir und mir fallen mag – gegen das Dorf wollen wir über Thönis That schweigen und wenigstens jetzt auch noch nicht vor Gericht klagen. Die Wildleutlawine hat sich gerüstet und das ist immer eine schwere Zeit – ein Wort von uns, und sie kann den Bären mit den heligen Wassern zusammenschlagen. Gieb mir die Hand darauf, Josi, daß du ruhig bist.«

Stumm reichen sich die Männer die Hände, zuletzt sagt der Garde: »Mit dem Presi will ich aber morgen doch reden – nicht seinetwegen – aber wegen des armen Dorfes.«

Zum erstenmal schlief Josi wieder in der Heimat, doch wirre Träume quälten ihn, am meisten der, Binia schwebe in irgend einer großen Gefahr und rufe mit ihrem Vogelstimmchen: »Josi – Josi – ich bitte dich – hilf mir.« Schreiende Amseln flogen die ganze Nacht um ihn und einmal war ihm, jetzt sei wirklich eine an die Kammerscheiben geschossen. Er wollte aufstehen, aber mit bleiernen Gliedern blieb er liegen. Im ersten Grauen des Morgens sah er ganz bestimmt etwas Weißes vor seinem Fenster. Er stand auf. Ein Briefchen, durch das ein Faden gezogen war, hing am Fensterhaken.

»Bini!« schrie er.

Sie schrieb: »Ich muß mich vor Dir rechtfertigen, sonst sterbe ich. Bei dem schönen, unvergeßlichen Tag von Santa Maria del Lago, sei heute um Mitternacht im Teufelsgarten. Dein unglücklicher Vogel Binia.«

Josi biß sich auf die Lippen und sein Gesicht verfinsterte sich. »Thorheiten, Bini,« flüsterte er, und beim frühen Morgenessen sagte er zu Vroni: »Schwesterlein, ich habe es mir überlegt. Ich muß wieder in die Fremde. Je bälder je besser. Am Sonntag noch wollen wir miteinander zur Kirche gehen, dann reise ich wieder ab.«

Und seltsam! Vroni war über seine Rede wohl traurig, das Wasser trat ihr in die Augen, aber sie widersprach ihm nicht.

Sie dachte an Binia und ihre ahnungsreiche Seele witterte Gefahr für Josi.

Er zögerte und zögerte fortzugehen, er scherzte noch mit Joseli, der erwacht war, und dann war es immer, als wolle er noch etwas sagen oder fragen.

»Du kommst gewiß zu spät,« mahnte Vroni.

Jetzt endlich ging er, er ging den erinnerungs- und schmerzenreichen Weg über den Stutz hinunter, am Teufelsgarten und am Schmelzwerk vorbei.

Als er zu den Weißen Brettern aufschaute, erschrak er. Es rieselte weiß in den Wildleutfurren und knatterte in einem fort. »Gerade wie damals,« dachte er, »als ich mit Vroni Mehl holen ging. Aber so früh im Jahre!«

Er dachte an den Vater – er dachte an seinen eigenen großen Plan, als ein zweiter und stärkerer Matthys Jul und für Binia die heligen Wasser den sicheren Weg durch die Felsen zu führen und St. Peter aus der Blutfron zu lösen.

In seinen sehnigen Armen zuckte das Leben, ein wunderbarer Anreiz lag in dem Gedanken.

Bah – Bini ist für ihn verloren – er will wieder fort, die in St. Peter mögen selber sehen, wie sie mit den heligen Wassern fertig werden.

Im Teufelsgarten dufteten die ersten Veilchen. Eine wunderliche Stunde kam ihm ins Gedächtnis.

»O Binia! – Binia!« seufzte er.

Er hatte nicht den Mut gehabt, Vroni zu Binia zu schicken und ihr sagen zu lassen, sie möchte von dem Stelldichein abstehen. Ein Wort, wenn auch nur zu Vroni, wäre ihm doch wie ein schnöder Verrat am geliebten Bild erschienen.

»Glaube mir, sie hat gräßlich um dich gelitten – sie ist zur Verlobung mit Thöni gezwungen worden.« Die Worte Vronis klangen ihm in den Ohren. Und Binia ist in Gefahr.

»Ich kann sie aber doch nicht treffen – sie ist die Braut Thöni Griegs,« murmelte er, und der Gedanke an Binia und an die Warnung des Garden quälte ihn so, daß er im reinen Frühlingstag vor Weh fast starb. Da kam ihm Kaplan Johannes entgegen. Der Schwarze mit dem Bettelsack stutzte einen Augenblick – dann schlug er ein höllisches widriges Lachen an: »Guten Tag, Söhnchen! – Bist du wieder da, du undankbares Aas!«

»Schweige, Pfaff!« Und Josi machte eine drohende Bewegung mit seinem Stock.

Ein entsetzlicher Haß loderte aus den Augen des Verrückten, Josi aber hatte eine sonderbare Empfindung: »Wie wenn mir einer Gift angeworfen hätte.«

In Tremis streckte die alte verkrümmte Susi ihren Kopf aus dem Fenster. »Je, je,« lachte sie verwundert, »der zweimal verloren gegangene Rebell! – Jetzt seht Ihr aber schön aus. Bini muß jetzt wohl den Thöni fahren lassen. Hä-hä hä!«

»Haltet Euer altes Maul!« rief er ihr verdrossen zu, er eilte vorwärts und kam in Hospel eben recht auf die Post.

Der Wagen rollte das große Thal entlang. Ein betagtes Ehepaar und ein junges Mädchen teilten sich mit Josi in den Raum des offenen Gefährtes. Das Mädchen glich Vroni und war blond wie sie. Er hörte bald, daß sie erst in Hospel eingestiegen sei, wo sie übernachtet habe. Die drei sprachen dann aber wieder von gleichgültigen Dingen, namentlich vom Segen der heligen Wasser zu Hospel und den fünf Dörfern, wo ihr erster lauer Strom die Aprikosen- und Pfirsichblüten geöffnet hatte.

»Ihr seid von Bräggen,« wandte sich Josi höflich an das Mädchen, »sagt, ist Felix Indergand gut heimgekommen von seiner weiten Reise?« »Vorgestern,« antwortete sie frisch, »kennt Ihr ihn?«

»Freilich, freilich, warum nicht. Wir waren in Indien zusammen, mir haben uns erst vor wenigen Tagen getrennt.«

»Da seid Ihr Josi Blatter von St. Peter im Glotterthal?«

Zwei hübsche Augen richteten sich auf ihn, ein herzliches Lächeln umspielte die Lippen des Mädchens.

»Felix,« fuhr sie fort, »hat uns viel von Euch erzählt, er sagte, ohne Euch hätte er es niemals ausgehalten in dem fremden Land, aber wenn er fast vergangen sei vor Heimweh, dann habet Ihr ihn immer so lieb angesehen mit Euren braunen Augen.«

Sie lächelte wieder und betrachtete Josi, der unter ihren Blicken unruhig wurde.

Himmel, dachte er, das ist wirklich ein frisches liebes Mädchen.

Bei einem der nächsten Dörfer stiegen die alten Leute aus – die Jugend fuhr bis in die Nähe der Stadt allein durch den Frühling und plauderte.

Beate Indergand war Waise, ein stattliches Bauernheimwesen lastete auf ihr und ihrer Mutter, und wenn Josi nicht zu viel in ihre Worte legte, so dachte sie ernstlich, sich männliche Hilfe zu suchen.

»Ja, in Bräggen,« scherzte er, »giebt es gewiß Bursche genug, die gern zu Euch in den Dienst treten, zu so einer Jungfrau wie Ihr, Beate.«

»Seid doch still,« antwortete sie, »die Bursche bei uns lungern lieber vor den Gasthöfen herum.«

Da stellte sich Josi, wie wenn er Lust hätte, bei ihr als Knecht einzutreten. »Ach, geht,« sagte sie errötend, »so ein gescheiter, schöner Mann wie Ihr, der in Indien Aufseher gewesen ist, wird doch nicht Knecht, das könnte ich gar nicht leiden.«

Und sie sah ihn so sonderbar fröhlich und gütig, mit so viel Achtung an, daß er ganz verwirrt wurde.

»Kommt aber,« sprach sie, »nur sonst bald einmal nach Bräggen, Felix wird eine große Freude haben und Euch alles bieten. Wir lassen Euch dann selbstverständlich ein paar Tage nicht los.«

Sie blinzelte ihn freundlich an, dann sagte sie: »Ja, etwas muß ich Euch noch erzählen. Wie ich gestern mit der Post im Kreuz zu Hospel angekommen bin, saßen zwei Männer von St. Peter da, der Präsident und ein jüngerer Herr, Thöni haben sie ihn genannt. Ich frage sie, ob Ihr schon daheim seid. Da sagt der Präsident: ›Der ist ja gestorben!‹ der jüngere aber wird grün und gelb wie eine Leiche und wiederholt auf spaßige Art: ›Ja, der ist gestorben!‹ Jetzt bin ich eifrig geworden und habe erzählt, was ich von Felix über Euch wußte: wie Ihr, obgleich noch so jung, geachtet und angesehen und Aufseher über mehr als hundert Arbeiter gewesen seid und gute Zeugnisse bekommen habt, worin steht, daß man Euch wieder an einen guten Posten stellen wird, wenn Ihr Euch wieder meldet. Die haben Mund und Augen aufgesperrt, der Präsident hat vor Schlucken nichts sagen können als: ›So – so – – Josi Blatter – so – so!‹ Der jüngere aber hat die Gläser nur so gestürzt. Es war ganz sonderbar. Da hat aber der Kreuzwirt auf einmal gesagt: ›Die Maultiere sind bereit – reitet heim, ihr habt ja eine große Neuigkeit zu bringen.‹« »So lieb habt Ihr von mir geredet,« dankte Josi, seine Wangen glühten, er versprach den Besuch zu Bräggen und nahm ihre Hand. »Ihr seid so ein artiges Mädchen!«

»Ihr gefallt mir auch gut – ich bin sonst nicht von der Art, daß einer nur meine Hand nehmen darf, sondern recht wählerisch,« lächelte sie.

Da hielt die Postkutsche im letzten Dorf, ein Mann stieg ein, und weil Josi und Beate nichts Gleichgültiges sprechen wollten, so wurden beide still.

Es wäre gewiß ein schöner Traum: Ein freundliches Gut im grünen Oberland, darauf gesegnete Arbeit, das Lachen eines so jungen sonnigen Weibes wie Beate, am Feierabend das Geplauder des liebsten Freundes, der in schweren Jahren genug Proben wankloser Treue abgelegt hat, und dazu den Frieden der Heimat.

Josi weiß es. Aber er ist kaum allein, so bereut er das Versprechen, nach Bräggen zu kommen, bitterlich. Es wäre ein Unrecht an der sonnigen, arglosen Beate, wenn er ihr Liebe heuchelte, während er doch ein anderes Bild im Herzen trägt: Binia, das feurige Herz, die mutvolle Seele. Da giebt es keine Rettung.

Indem er sich Beate vorzustellen sucht, sieht er immer Binia, ihr glänzendes Augenpaar, die frischen Lippen, das rosige Ohr und er geht mit ihr am Gestade von Santa Maria del Lago.

Wie einen Diebstahl an ihr empfindet er jedes gute Wort, das er Beate gegeben hat.

»Felix, ich kann dir nicht helfen!« sagt er für sich, und dann: »Bini! – Bini! – Ich komme, wenn es das Leben kostete, in den Teufelsgarten – ich muß deine dunklen Augen sehen – deinen Ruf ›‹Josi‹ hören. – Dann aber fort, wieder zu George Lemmy nach Indien

– morgen schon fort – trotz Garde, Vroni und Joseli

– fort – fort! ein einsamer heimatloser Mann.

»Wie gern wäre ich für dich an die Weißen Bretter gestiegen, aber – o Bineli – weil du mit Grieg gegangen bist, habe ich den Mut nicht mehr.«

Kapitel Sechzehn

Einen Tag zurück.

Binia ist vom Haus des Garden wieder daheim. Mit verkrampften Händen sitzt sie am Rand des Bettes. Die dunkle Flut ihrer Haare ist ihr zu beiden Seiten niedergeglitten, zwei brennende Augen schauen zwischen den Strähnen hervor. Das Gesicht ist starr und blaß wie ein Steinbildnis, aber im Blick funkelt das Leben, strömt die Leidenschaft. Sie stößt einen Ton hervor, wie ein kleines Kind, das seufzt. Es beben die Lippen: »Er ist gekommen wie ein Held – er ist schön wie ein Held!«

Dann wimmert sie und beißt sich die Fingerknöchel wund. »Wie hat er mich genannt? – Frau Thöni Grieg!« Das Wort brennt sie wie eine Hölle im Herzen! »Es ist nicht wahr. Nein. In Ewigkeit nein. – Ich werde es nicht.«

Sie schleudert den Reifen weit von sich.

Sie wankt zum Schrank, sie nimmt aus einer kleinen bemalten Truhe ein goldenes Kettchen, sie öffnet die Kapsel die daran hängt, und ein Tautropfen glänzt. Sie küßt ihn mit glühenden Lippen und sagt: »Wie ein Tautropfen so frisch, so rein, so sonnenvoll habe ich wollen sein, damit ich dir immer gefalle, Josi.«

Die Stimme erbebt zart und fein. Da merkt sie erst, daß ihr die Haare niedergefallen sind. Sie tritt vor den Spiegel und ordnet sie. Und nun lächelt sie doch. Sie ist wohl blaß und ihre Wänglein sind schmal, aber ihre gewölbte Stirn ist rein – und die Lippen sind rein.

Und sie stammelt: »Das Herz ist rein! – Und er liebt mich noch – ich habe es ihm angesehen – ich will demütig sein gegen ihn – o, so demütig – und wenn er mich nicht mehr will –«

Ein Schrei!

Und nun staunt sie wieder: »Wenn der Vater nicht will, wenn Thöni nicht will. Sie wollen nicht!«

Kämpfen, kämpfen will sie jetzt um Josi bis ans Ende – gegen Thöni – gegen den Vater – gegen die ganze Welt. Nein, um das einzige große Glück ihrer Liebe darf sie sich nicht betrügen lassen.

Und wenn sie Josi fortjagt, so will sie zu ihm hinkriechen und betteln: »Dulde mich bei dir!«

Sie sinnt und nach einer Weile tönt wieder ihr kleiner Schrei.

In den fliegenden Gedanken hat sie etwas Sonderbares gehört und gesehen; die Leute haben gesagt, Josi habe geglaubt, Vroni sei tot. Und auf dem Tisch des Garden lagen zwei Briefe. – Ein alter Verdacht zuckt auf: »Warum hat Thöni die Postschlüssel immer abgezogen?« Ist sie hellseherisch geworden aus langer, unbegreiflicher Blindheit?

»In verbrecherischer Weise hat sich Thöni zwischen mich und Josi gestellt.« Mit einem Schlag hat sie die sichere Ueberzeugung gewonnen.

»Ja, jetzt Kampf!« Ihre Augen flammen auf, alles an ihr lebt und bebt. »Du wirst sehen, Vater, du armer, in einen Verbrecher vernarrter Thor, wie ich Thöni liebe.«

Mit fieberglühendem Köpfchen schwankt sie hinab in die Postablage. Sie hat die Hand am Telegraphenapparat: »Postdirektion. In St. Peter ist ein Postverbrechen geschehen. Ich bitte um Untersuchung. Binia Waldisch.« Da läßt sie die Hand sinken – der Schrecken lähmt sie. Der Vater ist der Posthalter, nicht Thöni. Hat je ein Kind seinen Vater den Gerichten ausgeliefert?

Wie mit Wasser begossen schleicht sie davon. Sie weiß ja nicht einmal, ob ihr brennender Verdacht gerechtfertigt ist. Und nun noch ein furchtbarer Gedanke: »Wenn der Vater in seinem wilden Haß auf Josi der Anstifter der Briefunterschlagungen wäre?«

»Schäme dich, Binia,« flüstert sie, »so ist er nicht. – Unerhörte Gewaltthaten haben dir sein Bild verdunkelt, aber du mußt ihm nur in die Augen sehen, in die lieben und schönen Augen, dann siehst du einen gewaltigen Mann, der sich eher würde zerbrechen lassen, als daß er mit Absicht und wissentlich bei einer Schlechtigkeit mithülfe. – Er ist das Opfer – armer, armer Vater!«

Ehe es Morgen wird, will sie hinter den Geheimnissen Thönis sein.

Sie sieht, wie ihr die Blicke der Frau Cresenz mißtrauisch folgen – sie geht in ihre Kammer – – sie liest den Ring Thönis knirschend auf – aber sie bringt ihn nicht mehr an den Finger – sie läßt ihn in die Tasche gleiten.

»Mutter,« flüstert sie, »jetzt sollte dein armes Kind klug sein wie eine Schlange.«

Sie steigt in die große Wohnstube hinab – sie näht – aber die Nadeln brechen und der Faden reißt. Und dennoch denkt sie: »Wie ich heucheln gelernt habe! Nähen – und das Herz zerspringt.«

Sie denkt an alles, was sie mit Josi gemeinsam erlebt hat. Sie sieht die Bilder, als schaue sie in einen Guckkasten: den kleinen Buben, der das wilde Kind herumträgt – den Kuß im Teufelsgarten – den schlafenden Josi, den sie mit Fränzi beschaut – Josi, das Knechtlein, das zerschmettert mit Bälzi geht – Josi, der unter dem Peitschenhieb des Vaters blutet – Josi, der zu Madonna del Lago erwartungsvoll vor der Gartenpforte steht.

Wie hat sie auch nur einen Augenblick vor dem Zorn des Vaters schwanken, einen Augenblick glauben können, Josi sei tot.

Da kommen die Männer heim.

»Hole mir Wein, Bini, ich habe noch einen verdammten Durst,« johlt Thöni, – »schau mich nicht so verächtlich an, Bini, und so seltsam. So, schwillt dir der Kamm wieder, weil der Rebell und Halunke da ist. Es nützt dir nichts. – Am Sonntag muß der Pfarrer unsere Ehe verkündigen!«

»Ins Bett mit dir, Thöni,« keucht und donnert der Presi, der müde und elend auf einen Stuhl gesunken ist.

»Von Euch laß ich mich nicht mehr so anfahren, Presi,« mault Thöni unter der Thür zurück, »wenn ich im Kot bin, so seid Ihr auch drin.« »Geh jetzt,« sagt der Presi matt, »schlafe den Rausch aus. Gelt, Bini, du machst keine Thorheiten wegen des Rebellen!« Thöni schwankt ohne »Gute Nacht« fort.

Sie antwortet dem Vater nicht. Das Linnen, an dem sie arbeitet, ist ihr vom Schoß geglitten. Sie hat das letzte Wort Thönis anders gefaßt als der Vater – für sie ist es ein Schuldbekenntnis, daß an Josi ein Verbrechen geschehen sei.

»Ich gehe jetzt auch zu Bett, es ist mir nicht recht wohl. Gute Nacht, Binia.« Der Vater sagt es so gütig, wie er seit langem nicht mehr geredet hat, aber tiefbekümmert, als hätte er etwas Schweres erlebt.

Binia schläft nicht.

Mitten in der Nacht wandelt sie barfuß und gespensterhaft durch das Haus. Leicht gekleidet schleicht sie von ihrer Kammer durch den Gang zu Thönis Zimmer. Sie lauscht eine Weile an der Thüre. Der drinnen schnarcht laut. Sie öffnet die Kammer, läuft auf den bloßen Zehen zu Thönis Kleidern und zieht daraus den Schlüsselbund, er klirrt leise, der Schläfer wendet sich auf die Seite, sie huscht in den Mondschatten, aber einen Augenblick später schnarcht er weiter, sie huscht zurück durch Gang und Treppen abwärts bis zur Postablage.

Sie entzündet Licht, schließt Pult und Truhen auf und findet, was sie sucht, in einer kleinen Schublade – Briefe – die Notschreie Josis um sein totes Schwesterlein und um sie.

Sie küßt sie – ihre Augen blitzen – ein bleiches Lächeln geht über ihr Gesicht. »Darum hast du so viel trinken müssen, Thöni, du Schuft! Aber ein Narr bist du wie alle, die Schlechtes thun. Sonst hättest du die Briefe vernichtet.« Aus der Ferne hört sie den gleichförmigen Gesang des Wächters, der mit seinem Spieß taktmäßig auf das Straßenpflaster schlägt. Sie löscht das Licht aus, bis er vorübergegangen ist.

Dann entzündet sie es wieder. Ein jubelndes Triumphgefühl steigt in ihr auf – sie will am Morgen die Briefe dem Vater vorlegen – Thöni ist geschlagen, das Feld für Josi frei. – Und vor Josi will sie sich rechtfertigen – so bald als möglich.

Sie schreibt in fliegender Hast ein paar Zeilen, die ihn in den Teufelsgarten bestellen, steigt durch den Untergaden ins Freie und hängt den Brief mit Hilfe einer Stange, einer Nadel und eines Fadens an die Haken des Fensters, hinter dem Josi schlafen muß, und kehrt leis zurück.

Alles was sie thut, thut sie wie im Traum – sie ist ihrer Sinne nicht mächtig, so hämmert die Brust – sie taumelt durchs Haus, sie tritt wieder in Thönis Zimmer, sie steckt den Schlüssel in seine Kleider, sie betrachtet einen Augenblick den Schläfer, sie hebt die geballte Faust: »Josi hast du gemartert und schläfst so gut.«

In ihren Augen funkelt der Haß, sie flüstert: »Weiß Gott, ich könnte Judith sein.«

Fort eilt sie und nun ist ihr doch, sie höre etwas. – Das Entsetzen rüttelt sie – sie hat den Vater seufzen gehört – aber sie hat nicht gewagt, sich umzusehen. War es nur Einbildung der gespannten Sinne, daß er unter der Thür seiner Kammer stand.

Wie eine Bildsäule lehnt sie noch im Morgenrot mit gefalteten Händen an ihrem Bett, blaß und aufgeregt, aber in furchtbarer Entschlossenheit. Sie muß mit dem Vater reden – rasch – rasch.

Am Morgen aber meldet Frau Cresenz, der Vater sei krank, und wie Binia doch zu ihm heraufsteigen will, da fleht jene, daß sie ihm Ruhe gönne.

Daran hätte sich Binia nicht gekehrt, es handelte sich jetzt gewiß um mehr als Ruhe, aber – ihr selber liegen die Erregungen der Nacht wie Blei in den Gliedern – sie hätte die Kraft nicht, mit dem Vater zu reden, wie sie müßte – sie könnte nur weinen.

»Wohl, wohl,« meint Frau Cresenz, »das wird eine heitere Wirtschaft auf den Sommer, der Präsident ächzt, du bist so zitterig wie Espenlaub und von Thöni mag ich schon gar nicht reden – der war heute früh wie eine Leiche – die Post hat er nicht besorgt – er hockt schon wieder beim Glottermüller und säuft. – Und ich überlege, ob ich nicht fortlaufen will.« – –

Der Presi sitzt in seiner Stube im Lehnstuhl und stöhnt: »So viel Elend! – Die Dörfler drohen mit Aufruhr – der Garde ist wild über mich – die Wildleutlaue steht in Sicht – und nun ist auch der Rebell wieder da – der unheimliche Rebell, von dem man nicht weiß, woher er in allen Dingen seine Stärke hat.«

Wie sonderbar hat er es im Kreuz zu Hospel vernommen, daß der zurück ist. Die Bräggerin plauderte so harmlos, als ob sie nichts merke. Thöni aber stürzte Glas auf Glas und in seinem Rausch sagte er auf dem Heimritt immer nur, er werde den Rebellen töten.

Er hat sich an der letzköpfigen Aufregung Thönis geärgert – er konnte nicht schlafen vor Verdruß. – Da – da – hört er eine Thür gehen – er streckt den Kopf aus dem Schlafgemach – – Binia schleicht leichtgekleidet und barfuß aus Thönis Kammer und huscht hinüber, wo sie und die Mägde schlafen – Bini – seine Bini. – Ist's möglich – sie in der Nacht bei Thöni – sie, die sich immer gegen ihn gewehrt und gesperrt hat – sie, das wilde und doch so keusche Blut ist so wohlfeil geworden.

Er ächzt – er stöhnt. – Es ist unfaßbar, daß Binia zu Thöni gegangen sei, aber was das Auge sieht, glaubt das Herz. Er hat gestern abend einen Groll gegen ihn gefaßt – und die Wahrheit – er hat schon lange etwas gegen ihn. Wie, wenn Thöni doch nicht der rechte Schwiegersohn wäre? Es ist ihm furchtbar zu Mute. Er hat mit der Verlobung das Dorf schlagen wollen, nun ist ihm, er habe sich selber und Binia geschlagen. Das arme Kind – der liebe, lose Vogel – ob ihm nun die Wiederkehr Josi Blatters nicht das Herz bricht. Und in heißen Stößen spürt der Presi, wie er Binia liebt, die arme Maus, die sich mit Thöni vergessen hat. – Er möchte sie schlagen vor Wut, er möchte vor ihr niederknieen: »Bini, meine einzige, sage es deinem alten Vater, was er gesehen hat, sei nicht wahr.« Aber er kann das Kind nicht rufen. Vor eigener Scham. Sein Herz klagt ihn schreiend an: »Ich habe sie mißhandelt. Und der Mensch ist wie ein Pferd. Das edelste Tier wird, wenn es genug Schläge bekommen hat, störrisch und stürzt sich in den Abgrund.«

So ist Binia gestürzt, sein herrliches Kind – sein ist die Schuld – er darf ihr nicht mehr in die Augen sehen.

»Möge dich Gott schlagen,« hat er einmal gesagt – und Gott hat sie geschlagen. Es ist schrecklich. – Eine Umkehr giebt es nicht mehr, nur Eile vor dem Rebellen. Am Sonntag muß der Pfarrer die Ehe Thönis und Binias verkündigen. Ein Glück ist in diesem grenzenlosen Elend: Binia weiß jetzt, daß das Spiel mit Josi Blatter aus ist – das ist vorbei!

Es ist ein furchtbar bleiches Lächeln der Genugthuung, das um die Lippen des Presi spielt.

Josi Blatter bringt er nicht aus dem Kopf. Er ist in Ehren und mit guten Zeugnissen aus der weiten Welt zurückgekehrt. – – Ja, er ist halt Fränzis Sohn, das ist seine geheimnisvolle Kraft.

Der Presi keucht und schwitzt. Da pocht es, Frau Cresenz bringt ihm einen Brief, den der Viehhüter Bonzi abgegeben hat. Er trägt die knorrige Schrift des Garden.

Der Presi ahnt nichts Gutes, erst als Frau Cresenz gegangen ist, öffnet er das Schreiben.

»Presi!« schreibt der Garde, »ich laufe Euch nicht nach, aber wenn Ihr zu mir kommen wolltet, so hätte ich Ernstes mit Euch zu reden. Ich habe die Beweise in den Händen, daß Thöni Grieg an Josi Blatter einen gottlosen Brief geschrieben, die Schrift gefälscht und das Schreiben mit meinem Namen mißbräuchlich unterzeichnet hat. Ferner besitze ich von der Post in Hospel die Bescheinigung, daß zwei eingeschriebene Briefe, darunter der des Gemeinderates an den Konsul in Kalkutta, im Postbuch nicht vermerkt und also nicht durch Hospel gegangen sind. Thöni Grieg hat also diese und andere unterschlagen. Ich hoffe, daß Ihr nicht Mitwisser des Verbrechens seid.«

Der Presi liest den Brief nicht zu Ende – er neigt das blasse Haupt auf die Seite – seine Hände zucken – er will aufstehen – es geht nicht – mit vorgelegten Armen läßt er den Kopf fallen. – Aus der Brust des Gerichteten stöhnt es, wie wenn eine gewaltige Eiche sich zum Falle rüstet.

Der Sturz einer Eiche. Wer das Bild einmal gesehen hat, vergißt es nie! Es seufzen tief unter der Erde die Wurzelgrüste, es bebt die Krone, die Vögel flattern schreiend heraus, die Käfer kriechen aus der Rinde und rennen davon, quiekend würgt es in den Stammfasern, als ob sich Jahrhunderte trennen, es ist ein Knistern und Brechen, ein geheimnisvolles Raunen von Abschiedsstimmen – das Fallen einer Eiche ist eine ganze Schlacht.

Eine würgende, ächzende Schlacht ist in dieser Stunde das Leben des Presi.

Er zweifelt nicht. Er wütet nicht, aber sein leises Zittern ist schrecklicher als ein lauter Ausbruch der Wut.

Wenn die Eiche vor dem Falle erbebt, so sagen die Holzleute: »Der Baum redet!«

Der Presi redet.

Mit zuckenden Lippen murmelt er: »Nein, Garde. – Gott weiß es – ich bin unschuldig – Bini – Vogel – meine Ehre und deine Ehre durch einen Schuft dahin.«

Sein Wort klingt wie eine sanfte, feierliche Knabenstimme. Die dünnen spärlichen Thränen des Alters rinnen über seine Wangen. Er merkt es erst, wie sie auf seine Hände fallen. Die Thränen beelenden ihn noch mehr. Sechsundzwanzig Jahre hat er nicht geweint. Er hat es beim Tode der Beth nicht gethan, sondern das letzte Mal, als er Fränzi um ihre Hand bat.

»Fränzi, – Sepp Blatter,« stöhnt er, »erbarmet euch meiner – ich gebe nach!« »Ich gebe nach – ich will hinter sich machen – Zuerst mit Bini. – – – – Ja, wenn es ginge! Aber sie ist aus Thönis Kammer gekommen!«

Und das Wort Thönis: »Wenn ich im Kot bin, seid Ihr auch drin,« tönt in seinem Ohr wie die Posaune des Gerichts.

Da murmelt er in seinen wilden Schmerzen: »Für den Rebellen thut sie es schon noch,« doch er hat es kaum gesagt, so rauft er sich das Haar: »Nein – nein – das gilt nicht – das habe ich nicht gedacht.« Er zuckt in der gräßlichen Furcht, daß dieser eine schlechte Gedanke schon wieder ein neues Verhängnis zeitige, und die Stunde ist da, von der der Garde gesprochen hat. »Auf den Knieen würdet Ihr zur Lieben Frau an der Brücke rutschen, wenn Ihr Bini nur dem Josi geben könntet und Ihr sie friedlich wüßtet.«

Die Stunde ist da – sie ist gekommen wie ein Dieb über Nacht.

O, wie der wilde Presi zahm ist und betet.

Ein schönes Alter. – Nein, kein schönes Alter. – Binias Augen reden: Vater, warum hast du mich in die Hand eines Schuftes gezwungen und ich hätte glücklich sein können mit Josi Blatter, der ehrenvoll aus der Fremde heimgekommen ist.

»Frieden. – Frieden! –«

Wieder sinkt sein Kopf. Er sieht es nicht, wie Frau Cresenz angstvoll kommt und geht. Er weiß nicht, wie viele Stunden er in brütender Vernichtung sitzt, er hört es nicht, wie der wachsende Föhnsturm pfeift und an den Fenstern rüttelt.

Sein Leib ist lahm, seine Glieder sind gebrochen. endlich aber steht er schwankend auf, er nimmt Rock und Hut und steigt die Treppe hinab. »Wo ist Bini?« fragt er Frau Cresenz. Er leidet furchtbare Angst um das Kind – es ist ihm, es schwebe in drohender Lebensgefahr – und doch, nein, er möchte sie nicht sehen – er schämt sich vor Binia und für sie.

»Sie hat so stark den Föhn im Kopf – sie hat nicht mehr stehen können – sie ist in ihre Kammer gegangen,« jammert Frau Cresenz. »Um tausend Gotteswillen redet jetzt nicht mit ihr.«

»Föhn im Kopf,« grollt der Presi dumpf – »ich gehe jetzt zum Garden – und ich hoffe, daß mir Thöni nicht begegnet – sonst muß er sterben.«

Das letzte sagt der Presi so fest, wie es ein Richter sagen würde.

Frau Cresenz schlägt die Hände über dem Kopf zusammen: »Was giebt es auch, Präsident, was giebt es?«

Da schleudert er ihr den Brief des Garden vor die Füße und geht.

Allein in der Dämmerung geht er nicht gleich zum Garden, er schwankt, ohne zu wissen, was er thut, hinüber zum Neubau, steht eine Weile davor, schüttelt den Kopf und wendet sich wieder zum Gehen.

Da hört er plötzlich ein gräßliches Lachen. Kaplan Johannes mit dem Bettelsack steht neben ihm. »Herr Presi, merkt Ihr es nicht, es kommt ein Wetter. Geht doch lieber zum Glottermüller, dort zahlt einer Wein, so viel man will, und erzählt den Leuten lustige und traurige Geschichten aus dem Bären von St. Peter.«