Kemp las eine seltsame Botschaft, die mit Bleistift auf ein fettiges Blatt Papier geschrieben war.
»Sie sind erstaunlich energisch und klug gewesen«, lautete der Brief, »obgleich ich mir nicht denken kann, was Sie dadurch gewinnen wollen. Sie sind also gegen mich. Einen ganzen Tag lang haben Sie mich gejagt, Sie haben versucht, mich um die Nachtruhe zu bringen. Aber Ihnen zum Trotz habe ich gegessen, Ihnen zum Trotz habe ich geschlafen und das Spiel beginnt erst. Es fehlt nichts, als die Schreckensherrschaft anzukündigen. Diese meine Botschaft kündigt den ersten Tag an. Port Burdock untersteht nicht länger der Königin, sagen Sie das Ihrem Polizeihauptmann und den übrigen. Es untersteht mir – dem Herrn des Schreckens. Dies ist der erste Tag des ersten Jahres der neuen Ära – der Ära des Unsichtbaren. Ich bin König Unsichtbar der Erste. Am ersten Tag wird die Herrschaft leicht zu ertragen sein. Da wird nur eine Hinrichtung vorgenommen werden, um ein Exempel zu statuieren – an einem Manne namens Kemp. Der Tod harrt heute seiner. Er mag sich einschließen, sich mit Wachen umgeben, eine Rüstung anlegen, wenn es ihm beliebt – der Tod, der unsichtbare Tod, kommt heran. Er mag Vorsichtsmaßregeln ergreifen, es wird nur umso größeren Eindruck auf mein Volk machen. Das Spiel beginnt. Der Tod ist auf dem Wege. Helft ihm nicht, meine Untertanen, sonst seid ihr selbst dem Tode verfallen. Heute wird Kemp sterben!«
»Es ist kein Scherz«, sagte Kemp, als er den Brief zweimal gelesen hatte, »das ist seine Schrift, und was er sagt, das meint er auch.«
Er drehte das gefaltete Blatt um, und sah auf der Adresse den Poststempel von Hintondean und die prosaische Bemerkung: »Zwei Pence Strafporto.«
Er erhob sich langsam, ließ sein Frühstück unbeendigt und ging in das Studierzimmer. Dann ließ er seine Wirtschafterin kommen und befahl ihr, sofort die Runde im Hause zu machen, alle Fensterriegel zu untersuchen und die Läden zu schließen. Die Fenster seines Studierzimmers schloss er selbst. Aus einem abgesperrten Fach in seinem Schlafzimmer nahm er einen kleinen Revolver, untersuchte ihn sorgfältig und steckte ihn in die Tasche seines Rockes. Er schrieb einige kurze Briefe, einen davon an Oberst Adye, und gab sie dem Hausmädchen zur Besorgung mit genauen Weisungen, wie sie das Haus verlassen solle. »Es hat keine Gefahr«, sagte er und fügte in seinem Innern hinzu: »für sie.« Ein Weilchen blieb er nachdenklich sitzen, dann kehrte er zu seinem kalt gewordenen Frühstück zurück.
Oft unterbrach ein neuer Einfall seine Mahlzeit. Endlich schlug er heftig auf den Tisch. »Wir werden ihn fangen!«, sagte er, »und ich bin der Köder. Er wird sich zu weit vorwagen.«
Er ging in sein Studierzimmer hinauf, sorgsam die Türen hinter sich schließend. »Es ist ein Spiel«, sagte er, »ein aufregendes Spiel; aber die Trümpfe sind in meiner Hand, Mr. Griffin, trotz Ihrer Kühnheit. Griffin contra mundum …«
Er stand am Fenster und blickte auf den Hügel hinaus. »Er muss sich jeden Tag Speise verschaffen – und ich missgönne es ihm nicht. Ob er heute Nacht wirklich geschlafen hat? Draußen im Freien wahrscheinlich, sicher vor jeder Begegnung. Wenn nur recht kaltes, nasses Wetter statt dieser Hitze kommen wollte!
Vielleicht beobachtet er mich eben jetzt …«
Er trat ganz nahe ans Fenster heran. Etwas schlug an das Mauerwerk über dem Fenster und ließ ihn heftig zurückfahren.
»Ich werde nervös«, sagte Kemp. Aber es dauerte fünf Minuten, ehe er wieder ans Fenster ging. »Wahrscheinlich ein Sperling«, meinte er.
Bald darauf wurde die Hausglocke gezogen und er eilte hinunter. Er schob die Riegel am Tor zurück, drehte den Schlüssel um, untersuchte die Kette und öffnete vorsichtig, ohne sich zu zeigen. Eine wohlbekannte Stimme rief ihn an. Es war Adye. »Ihr Mädchen ist angegriffen worden, Kemp«, sagte er durch die Tür.
»Was?«, rief Kemp.
»Man hat ihr den Brief weggenommen. Er ist ganz in der Nähe. Lassen Sie mich hinein.«
Kemp löste die Kette und Adye trat durch eine ganz schmale Spalte ein. Er stand in der Halle und blickte mit unendlicher Erleichterung auf Kemp, der das Tor wieder versperrte. »Der Brief wurde ihr aus der Hand gerissen. Es hat sie furchtbar aufgeregt. Sie liegt in Krämpfen. Er ist ganz in der Nähe. Was wollten Sie mir schreiben?«
Kemp fluchte.
»Was für ein Narr ich war«, sagte er, »ich hätte es wissen können. Es ist keine Stunde Wegs von Hintondean hierher. Und er ist schon da!«
»Was gibt es denn?«, fragte Adye.
»Sehen Sie her!«, sagte Kemp und ging voraus in den ersten Stock. Er händigte Adye den Brief des Unsichtbaren ein. Adye las ihn und pfiff leise vor sich hin.
»Und Sie …?«, fragte er.
»Ich wollte ihm eine Falle stellen – ich Dummkopf!«, sagte Kemp, »und sandte Ihnen meinen Vorschlag durch ein Dienstmädchen. Er weiß jetzt alles!«
Adye folgte Kemps gottlosem Beispiel und fluchte gleichfalls.
»Er wird fliehen«, meinte Adye.
»Das wird er nicht!«, erwiderte Kemp.
Der Klang von zerschmettertem Glas ließ sich eben vernehmen. Adye bemerkte, wie Kemp den kleinen Revolver, den er in der Tasche trug, halb zum Vorschein brachte.
»Es ist ein Fenster oben!«, sagte letzterer, während sie hinaufgingen. Als sie noch auf der Stiege waren, vernahmen sie denselben Klang zum zweiten Male. Als sie das Studierzimmer erreichten, fanden sie zwei von den drei Fenstern zerschmettert, das halbe Zimmer mit Glassplittern bedeckt und einen großen Kieselstein auf dem Schreibtisch. Kemp fluchte von neuem. Zugleich wurde das dritte Fenster zerschmettert, und die Stücke flogen ins Zimmer.
»Was soll das bedeuten?«, fragte Adye.
»Das ist der Anfang«, meinte Kemp.
»Es ist unmöglich, hier heraufzuklettern!«
»Keine Katze kommt hier herauf«, sagte Kemp.
»Sind hier keine Fensterläden?«
»Hier nicht. Die Zimmer unten – Hallo!«
Krach! und der Ton von heftig gegen Holz geschleuderten Steinen ließ sich vernehmen. »Verflucht!«, sagte Kemp, »das muss – ja – es ist im Schlafzimmer. Er will das Spiel im ganzen Hause wiederholen. Aber er ist ein Narr. Die Läden sind geschlossen und das Glas fällt nach außen. Er wird sich die Füße zerschneiden.«
Ein anderes Fenster zerbrach. Die beiden Männer standen betroffen auf dem Gang.
»Ich hab’s!«, rief Adye. »Geben Sie mir einen Stock oder etwas Ähnliches; ich gehe zur Polizeistation zurück und hole die Bluthunde. Das wird ihm das Handwerk legen!«
Wieder ging ein Fenster klirrend in Trümmer.
»Haben Sie keinen Revolver?«, fragte Adye.
Kemp steckte die Hand in die Tasche. Dann zögerte er. »Ich habe keinen – wenigstens keinen überflüssigen.«
»Ich bringe ihn zurück«, sagte Adye. »Sie sind ja hier in Sicherheit.«
Kemp fürchtete sich, Angst zu verraten, und übergab ihm die Waffe.
»Jetzt zur Tür«, sagte Adye.
Kemp war ein wenig bleicher als gewöhnlich. »Sie müssen schnell hinausgehen«, sagte er.
Im nächsten Augenblick stand Adye draußen und die Tür wurde hinter ihm verschlossen. Eine Sekunde zögerte er, dann schritt er gerade und entschlossen die Stufen hinunter. Er ging quer über den Rasen und näherte sich dem Gartentor. Ein leiser Hauch schien über das Gras zu streichen. In seiner Nähe bewegte sich etwas.
»Bleiben Sie ein wenig stehen!«, sagte eine Stimme. Adye leistete diesem Befehl augenblicklich Folge, wobei seine Hand den Revolver fest umklammerte.
»Nun?«, sagte Adye, bleich, aber entschlossen, mit Anspannung aller Nerven.
»Haben Sie die Güte, in das Haus zurückzukehren!«, entgegnete eine ebenso entschlossene Stimme.
»Bedaure«, erwiderte Adye ein wenig heiser und befeuchtete die Lippen mit der Zunge. Er glaubte die Stimme von links zu hören; ob er sein Glück mit einem Schuss versuchen sollte?
»Wo gehen Sie hin?«, fragte die Stimme; die beiden machten eine schnelle Bewegung, und in Adyes Tasche sah man etwas glänzen.
Adye überlegte. »Wohin ich gehe«, sagte er langsam, »ist meine Sache.« Die Worte schwebten noch auf seinen Lippen, als sich ein Arm um seinen Hals legte, ein Knie seinen Rücken berührte und er nach rückwärts geworfen wurde. Er feuerte in die leere Luft und erhielt im nächsten Augenblick einen Schlag in das Gesicht, wobei ihm der Revolver entrissen wurde. Vergebens suchte er sich auf den Füßen zu erhalten; er wollte sich aufrichten und fiel zurück. »Verdammt!«, fluchte Adye. Die Stimme lachte. »Ich würde Sie jetzt töten, wenn es mir nicht leid täte, eine Kugel zu verschwenden«, sagte sie. Fünf Fuß von seinem Gesicht entfernt, schwebte der Revolver in der Luft, gerade auf ihn gerichtet.
»Nun?«, fragte Adye, sich halb aufrichtend.
»Stehen Sie auf!«, befahl die Stimme.
Adye gehorchte.
»Achtung!«, sagte die Stimme. Dann fügte sie hinzu: »Versuchen Sie nicht, mit mir zu spielen. Denken Sie daran, dass ich Ihr Gesicht sehe, auch wenn Sie das meine nicht sehen können. Sie müssen in das Haus zurückkehren.«
»Er wird mich nicht einlassen«, sagte Adye.
»Das tut mir leid«, entgegnete der Unsichtbare. »Mit Ihnen habe ich keinen Streit auszufechten.«
Wieder befeuchtete Adye die Lippen. Aber den Revolverlauf hinwegblickend, sah er in der Ferne das Meer in der Mittagsonne dunkelblau erglänzen, sah das zarte Grün der Dünen, die weiße Klippe, die belebte Stadt unten, und plötzlich erkannte er, wie schön das Leben war. Er richtete den Blick wieder auf das kleine metallene Ding, das einige Fuß von ihm entfernt zwischen Himmel und Erde hing. »Was soll ich tun?«, fragte er mürrisch.
»Was soll denn ich tun?«, entgegnete der Unsichtbare. »Sie werden Hilfe erhalten. Sie haben nichts zu tun als umzukehren.«
»Ich will es versuchen. Wollen Sie mir versprechen, den Eingang nicht zu erzwingen, wenn er mich hineinlässt?«
»Mit Ihnen stehe ich nicht im Kampf«, sagte die Stimme.
Nachdem Kemp Adye verlassen hatte, war er die Treppen hinaufgeeilt, hatte sich durch die Glassplitter durchgewunden und sah, vorsichtig hinausspähend, Adye mit dem Unsichtbaren verhandeln. »Warum schießt er nicht?«, flüsterte Kemp vor sich hin. Dann bewegte sich der Revolver ein wenig und Kemps Augen waren geblendet. Er beschattete seine Augen und suchte den Lauf des glitzernden Stahls zu verfolgen.
»Es ist so«, sagte er. »Adye hat den Revolver übergeben.«
»Versprechen Sie mir, den Eingang nicht zu erzwingen«, wiederholte Adye. »Sie sind im Gewinn; treiben Sie das Spiel nicht zu weit. Lassen Sie Ihrem Gegner einen Weg offen.«
»Gehen Sie zurück ins Haus. Ich sage Ihnen ehrlich, dass ich nichts versprechen will.«
Adyes Entschluss schien plötzlich gefasst. Er wandte sich um und schritt langsam, die Hände auf dem Rücken, dem Hause zu. Überrascht beobachtete ihn Kemp. Der Revolver verschwand, wurde wieder sichtbar, verschwand nochmals und erschien bei genauerer Betrachtung als ein kleiner, dunkler Gegenstand, der Adye folgte. Dann überstürzten sich die Ereignisse. Adye sprang zurück, haschte nach dem kleinen Gegenstand, verfehlte ihn, hob die Hände in die Höhe und fiel aufs Gesicht nieder, während eine kleine blaue Rauchsäule in die Luft stieg. Den Schall des Schusses hörte Kemp nicht. Adye stöhnte, suchte sich auf einen Arm zu stützen, fiel zurück und lag dann still.
Eine geraume Weile starrte Kemp auf Adyes unbeweglich daliegenden Körper. Der Nachmittag war sehr heiß und ruhig; nichts schien sich zu bewegen als ein paar gelbe Schmetterlinge, die im Garten einander haschten. Adye lag auf dem Rasen in der Nähe des Tores. Die Fensterladen aller Häuser waren geschlossen, nur in einer kleinen, grünen Villa sah man eine weiße Gestalt, augenscheinlich die eines schlafenden alten Mannes. Kemp suchte in der Umgebung des Hauses den Revolver zu entdecken, aber er war verschwunden. Sein Blick schweifte zu Adye zurück. – – – Das Spiel hatte schlecht begonnen.
Dann hörte man ein heftiges Läuten und Klopfen an der Haustür, aber den Weisungen Kemps folgend, hatten sich die Dienstboten in ihre Zimmer eingeschlossen. Tiefe Stille folgte. Kemp horchte, dann spähte er vorsichtig durch die drei Fenster; er ging von einem zum anderen. Endlich wandte er sich lauschend zur Treppe und fühlte sich sehr unbehaglich. Er nahm die Feuerzange aus seinem Schlafzimmer, untersuchte nochmals die Fenster im Erdgeschoss und stieg wieder hinauf. Jetzt näherte sich seine Haushälterin in Begleitung zweier Polizeimänner von der Straße her der Villa. Totenstille überall. Die drei Personen schienen eine Ewigkeit zu brauchen. Er hätte gern gewusst, wo sein Gegner war.
Erschreckt fuhr er auf. Von unten hörte man wildes Lärmen. Er zögerte, dann ging er hinab. Plötzlich widerhallte das Haus von schweren Schlägen. Die eisernen Stäbe der Fenstergitter klirrten. Er öffnete die Küchentür. Die Fensterläden waren zertrümmert und die Holzsplitter flogen weit ins Zimmer hinein. Er stand betroffen still. Eine Axt war durch die Fensterläden gedrungen und hieb jetzt mit fürchterlicher Gewalt auf die Holzverkleidung und die Eisenstäbe los. Dann flog sie beiseite und verschwand.
Er sah den Revolver auf dem Wege liegen und dann in die Luft springen. Er wich zurück. Im nächsten Augenblick krachte ein Schuss und verfehlte seinen Kopf um eines Haares Breite. Er schlug die Tür zu und verrammelte sie. Draußen hörte er Griffin rufen und lachen. Dann wurden die Axtschläge wieder vernehmbar.
Kemp stand auf dem Gange und versuchte ruhig nachzudenken. Binnen kurzem musste der Unsichtbare in der Küche sein. Die Tür würde ihn keinen Augenblick aufhalten und dann …
Wieder wurde die Glocke an der Haustür gezogen. Das mussten die Polizisten sein. Er eilte in die Halle, löste die Kette und schob erst, als er die Stimme seiner Haushälterin erkannte, die Riegel zurück. Die drei Leute stürzten zugleich ins Haus und dann schlug er die Tür hinter ihnen zu.
»Der Unsichtbare!«, rief ihnen Kemp zu. »Er hat einen Revolver und es sind noch zwei Schüsse drin. Er hat Adye erschossen. Haben Sie ihn nicht im Garten liegen sehen?«
»Wen?«, fragte der eine der Schutzmänner.
»Adye!«, sagte Kemp.
»Wir kamen von rückwärts«, sagte das Mädchen.
»Was bedeutet der Lärm?«, fragte der eine Polizist.
»Er ist in der Küche oder wird bald drin sein. Er hat irgendwo eine Axt gefunden.«
Plötzlich widerhallte das Haus von Schlägen gegen die Küchentür. Das Mädchen flüchtete sich ins Speisezimmer. Kemp versuchte in abgebrochenen Sätzen die Sachlage zu erklären. Sie hörten die Küchentür nachgeben.
»Hierher!«, rief Kemp in neuerlich erwachter Tatkraft und schob die beiden in die Tür des Speisezimmers.
»Eine Feuerzange!«, rief er und stürzte zum Kamin. Die Feuerzange, die er getragen hatte, händigte er dem einen Schutzmann ein und die aus dem Speisezimmer dem anderen.
Plötzlich wich er zurück. »Achtung!«, rief jetzt einer seiner beiden Begleiter, duckte sich und fing einen Axthieb mit der Feuerzange auf. Der Revolver gab seinen vorletzten Schuss ab und durchlöcherte einen wertvollen Sidney Cooper. Der zweite Schutzmann schlug mit seiner Feuerzange auf die kleine Waffe, die zu Boden fiel.
Voll Todesangst schrie das Mädchen auf und öffnete schnell ein Fenster – offenbar in der Absicht, auf diesem Wege zu entfliehen.
Man hörte den schweren Atem des Unsichtbaren. »Geht weg da, ihr beiden«, rief er, »ich brauche nur Kemp!«
»Wir aber brauchen dich!«, sagte der erste Polizist und schwang seine Feuerzange nach der Richtung, aus welcher die Stimme gekommen war. Der Unsichtbare musste einen Schritt zurückgewichen sein, denn der Schutzmann stolperte in den Schirmständer. Dann zerschmetterte ihm der Unsichtbare den Helm, als ob er aus Papier gewesen wäre, und der Mann stürzte ächzend zu Boden.
Der zweite Schutzmann jedoch zielte mit der Feuerzange hinter die Axt und traf auf etwas Weiches. Man vernahm einen Schmerzensschrei und die Axt fiel zu Boden. Noch einmal zielte der Schutzmann, traf aber ins Leere. Dann stand er still und horchte auf die leiseste Bewegung.
Er hörte das Fenster öffnen und schnelle Tritte im Zimmer. Sein Gefährte richtete sich, aus einer Stirnwunde blutend, auf. »Wo ist er?«, fragte er.
»Ich weiß es nicht, ich habe ihn verwundet. Er steht irgendwo in der Halle, wenn er nicht an Ihnen vorbeigeschlüpft ist. Dr. Kemp – Herr Doktor!«
»Doktor Kemp!«, rief er nochmals.
Der zweite Schutzmann stand auf. Plötzlich hörte man die Schritte unbekleideter Füße auf der Küchen-Treppe. »Halt!«, rief der erste Schutzmann und warf die Feuerzange nach jener Richtung. Sie zerschmetterte eine Gaskrone.
Er machte Miene, den Unsichtbaren bis hinunter zu verfolgen, dann besann er sich eines Besseren und trat ins Speisezimmer.
»Dr. Kemp – –« begann er und hielt plötzlich ein.
»Dr. Kemp ist ein Held!«, sagte er, während ihm sein Gefährte über die Schulter blickte.
Das Speisezimmerfenster stand weit offen und weder das Hausmädchen noch Kemp waren zu sehen.
Auch der zweite Polizist hielt mit seiner schmeichelhaften Meinung über Kemps Heldenmut nicht zurück.
Mr. Heelas, Kemps nächster Nachbar in dem Villenviertel, schlief in seiner Laube, als die Belagerung von Kemps Haus begann. Mr. Heelas gehörte der starrköpfigen Majorität an, die sich weigerte, an all den Unsinn über die Existenz eines unsichtbaren Menschen zu glauben. Er bestand darauf, im Garten spazierenzugehen, als ob nichts geschehen wäre, und nachmittags legte er sich, einer vieljährigen Gewohnheit getreu, dort zu einem Schläfchen nieder. Er schlief, während die Fenster eingeschlagen wurden, dann erwachte er plötzlich mit dem seltsamen Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung sei. Er blickte zu Kemps Haus hinüber; dann rieb er sich die Augen und blickte nochmals hin. Jetzt richtete er sich auf und horchte. Das Haus drüben sah aus, als ob es seit Wochen verlassen wäre. Alle Fenster waren zerbrochen und, mit Ausnahme derjenigen des Studierzimmers im oberen Stockwerk, von innen durch Holzladen verschlossen.
»Ich hätte schwören können«, sagte er, auf die Uhr sehend, »dass noch vor zwanzig Minuten alles in Ordnung war!«
Er vernahm in weiter Entfernung das Klirren von zerbrochnem Glas. Und während er noch mit offenem Mund dasaß, ereignete sich etwas noch viel Wunderbareres. Die Laden des Speisezimmerfensters wurden ausgerissen, und das Hausmädchen, im Hut und zum Ausgehen gekleidet, machte krampfhafte Anstrengungen, die äußeren Riegel zu öffnen. Plötzlich erschien ein Mann neben ihr und brachte ihr Hilfe – Doktor Kemp! Im nächsten Augenblick war das Fenster offen und das Mädchen sprang heraus, – sie eilte weiter und verschwand zwischen den Sträuchern. Mr. Heelas erhob sich, aufs höchste verwundert. Er sah Kemp auf der Brüstung stehen, aus dem Fenster springen und einen Moment später dem Gebüsch zueilen, hie und da stehenbleibend, wie jemand, der sich fürchtet, beobachtet zu werden. Dann sah er ihn über ein Gitter klettern, das ins Freie führte. In einer Sekunde war er drüben und rannte, so schnell er konnte, den Hügel hinab, auf Mr. Heelas zu.
»Herr Gott!«, rief dieser, von einem plötzlichen Gedanken erschreckt. »Es ist der Unsichtbare! So ist die Geschichte doch wahr!«
Denken und Handeln war für Mr. Heelas eins, und die Köchin, die ihn vom Giebelfenster aus beobachtete, wunderte sich, ihn mit der Schnelligkeit von neun Meilen in der Stunde in das Haus rennen zu sehen. Man hörte Türen zuschlagen, Glocken läuten und Mr. Heelas’ Stimme brüllen: »Schließt die Türen, schließt die Fenster, schließt alles – der Unsichtbare kommt!« Bald war das ganze Haus in Aufruhr. Er selbst schloss die Glastür, die auf die Veranda führte; zugleich sah er Kemps Kopf, Schultern und Knie auf dem Gartengitter erscheinen. Im nächsten Augenblick war Kemp durch das Spargelbeet gekrochen und lief über den Tennisplatz dem Hause zu.
»Sie können nicht herein«, schrie Mr. Heelas, die Riegel vorschiebend. »Es tut mir sehr leid, wenn er Sie verfolgt – aber ich kann Sie nicht hereinlassen!«
Mit schreckensbleichem Gesicht erschien Kemp vor der Tür und rüttelte wie toll daran. Dann lief er, als er sah, dass seine Anstrengung nutzlos blieb, die Veranda entlang, sprang hinab und pochte heftig an die Seitentür. Dann eilte er durch ein Seitentor aus dem Garten und auf die Straße hinaus. Und kaum hatte Mr. Heelas Kemp verschwinden sehen, als das Spargelbeet von neuem zertreten wurde, diesmal von unsichtbaren Füßen. Daraufhin floh Mr. Heelas eiligst nach oben und weiß vom Schluss der Jagd nichts mehr zu sagen.
Als Kemp auf die Straße hinauskam, schlug er natürlich den Weg nach der Stadt ein. Und so kam es, dass er in eigner Person denselben tollen Lauf unternahm, den er noch vor vier Tagen von seinem Studierzimmer aus mit so kritischem Auge beobachtet hatte. Er lief gut für einen Mann, der außer Übung war; und obgleich sein Gesicht bleich und feucht war, behielt er bis zum Ende kaltes Blut. Er lief mit langen Schritten, und wo der Grund uneben war, wo raue Kieselsteine lagen oder Glassplitter in der Sonne blinkten, da übersprang er die Stelle und überließ es den unbekleideten, unsichtbaren Füßen, sich einen Weg zu suchen.
Zum ersten Mal im Leben entdeckte Kemp, dass die Straße unbeschreiblich lang und öde und die ersten Häuser der Stadt seltsam weit entfernt waren.
All die gelben Villen, die in der Nachmittagssonne zu schlafen schienen, waren verschlossen und verrammelt; zweifellos infolge seiner eigenen Aufforderung. Aber sie hätten doch die Möglichkeit eines Falles wie den seinigen bedenken können! Jetzt stieg die Stadt vor ihm auf; das Meer war hinter ihm verschwunden, und unten in der Stadt war Leben und Bewegung. Gerade hielt eine Trambahn am Fuße des Hügels. Ganz in der Nähe war das Polizeigebäude. Hörte er nicht Fußtritte hinter sich? Schnell!
Die Leute unten starrten ihn an. Sein Atem wurde schwer und keuchend. Er war jetzt ganz nahe bei der Trambahn. Wie ein Blitz durchzuckte ihn der Gedanke, in diese Trambahn zu springen und die Türen zuzuschlagen; dann beschloss er, doch zur Polizeistation zu laufen. Im nächsten Augenblick befand er sich am anderen Ende der Straße unter menschlichen Wesen.
Kemp verlangsamte den Schritt, dann hörte er seinen Verfolger dicht hinter sich, und wieder eilte er in rasendem Lauf weiter. »Der Unsichtbare!«, rief er den Leuten mit einer unbestimmten Bewegung zu; und von einem glücklichen Gedanken geleitet, übersprang er einen Graben, bei dem Erdarbeiter beschäftigt waren, und trachtete eine Gruppe kräftiger Männer zwischen sich und seinen Verfolger zu bringen. Dann kam er von seiner ursprünglichen Absicht ab und bog in eine Seitenstraße ein. Den zehnten Teil einer Sekunde zögerte er vor dem Eingang eines Ladens, dann durcheilte er eine Allee, die wieder in die Hauptstraße führte. Zwei oder drei kleine Kinder, die dort spielten, schrien bei seinem Erscheinen laut auf und liefen eilends davon; Fenster und Türen öffneten sich und erregte Mütter stürzten heraus, um ihre Kinder zu schützen. Und als Kemp wieder in die Hauptstraße einbog, bemerkte er sofort einen lauten Tumult und durcheinander eilende Menschen. Die Situation hatte sich merkwürdig verändert.
Ein Dutzend Schritte von ihm entfernt lief ein riesenhafter Arbeiter und schwang seinen Spaten. Dicht hinter ihm folgten lärmend und schreiend andere. »Bildet eine Kette!«, rief einer. »Er muss ganz nahe sein!«, schrie Kemp.
Er erhielt einen heftigen Schlag ins Gesicht, der ihn wanken machte. Da wandte er sich um, in der Absicht, seinem unsichtbaren Gegner die Stirn zu bieten. Doch traf ihn ein neuerlicher, so gewaltig geführter Stoß, dass er kopfüber zu Boden stürzte. Im nächsten Augenblick fühlte er ein Knie auf seiner Brust und zwei seinen Hals umklammernde Hände. Er packte die Handgelenke, hörte seinen Gegner schmerzlich aufschreien, und dann wirbelte der Spaten des Arbeiters durch die Luft und fiel mit dumpfem Krach auf etwas nieder. Ein feuchter Tropfen fiel auf Kemps Gesicht. Der Druck auf seinen Hals gab plötzlich nach, mit einer letzten Anstrengung machte er sich frei und schwang sich nach oben. Er drückte die unsichtbaren Ellbogen nieder. »Ich habe ihn!«, keuchte er. »Hilfe, Hilfe – haltet ihn, er liegt unten, packt seine Füße.«
Eine Sekunde später stürzte sich alles auf die Kämpfenden, und wenn ein Fremder plötzlich auf der Straße erschienen wäre, hätte er glauben können, ein ungewöhnlich wildes Fußballspiel sei im Gange. Auf Kemps Ruf folgte keine Erwiderung – man vernahm nichts als das Geräusch von Schlägen, Fußtritten und schweres Atmen.
Mit einer mächtigen Willensanstrengung gelang es dem Unsichtbaren, sich zu erheben. Kemp hing an ihm, wie ein Hund an einem Hirsch, und ein Dutzend Hände packten ihn und rissen ihn zu Boden.
Weiter ging der Kampf. Plötzlich ertönte ein wilder, röchelnder Schrei: »Barmherzigkeit!«
»Zurück, Leute!«, rief Kemp mit dumpfer Stimme, und alle die sehnigen Männer traten zurück. »Er ist schwer verletzt, sage ich euch, zurück!«
Langsam wichen die Umstehenden etwas zurück, um Platz zu machen. Gespannt sahen sie zu, wie der Doktor scheinbar in der Luft kniete und unsichtbare Arme zu Boden drückte. Hinter ihm umklammerte ein Schutzmann unsichtbare Fußgelenke.
»Lassen Sie ihn nicht aus!«, rief der riesenhafte Arbeiter, den blutigen Spaten noch immer in der Hand haltend. »Er verstellt sich bloß!« »Er verstellt sich nicht«, erwiderte der Doktor, vorsichtig aufstehend, »auch halte ich ihn fest.«
Sein Gesicht war zerschunden und rot; er sprach schwer, weil er aus der Lippe blutete. Er ließ eine Hand los und schien ein Gesicht zu betasten. »Der Mund ist ganz nass«, sagte er, und dann: »Großer Gott!«
Er kniete neben dem Unsichtbaren nieder. Um ihn herum stieß und drängte man sich, neue Ankömmlinge vergrößerten die Menge. Es wurde wenig gesprochen. Kemp tastete herum, seine Hand schien durch leere Luft zu greifen. »Er atmet nicht«, sagte er, »ich höre das Herz nicht schlagen.«
Eine alte Frau, die unter dem Arm des riesenhaften Arbeiters durchblickte, kreischte auf. »Schaut her!«, rief sie, einen runzeligen Finger ausstreckend. Und der Richtung des Fingers folgend, sah man hell und durchsichtig, wie aus Glas, sodass Venen und Arterien, Knochen und Nerven deutlich zu unterscheiden waren, die Umrisse einer Hand – einer schlanken, am Boden liegenden Hand. Je länger sie darauf blickten, desto dichter und undurchsichtiger wurde sie. »Hallo!«, rief der Schutzmann, »jetzt wird ein Fuß sichtbar!«
Und so setzte sich diese seltsame Sichtbarwerdung langsam fort, bei den Händen und Füßen beginnend und längs der Glieder langsam die Lebenszentren erreichend. Erst sah man, von kleinen Venen gebildet, die schattenhaften Umrisse der Glieder, dann die Knochen und Arterien, dann Fleisch und Haut, erst als schwacher Nebel und schließlich dicht und undurchsichtig.
Als Kemp sich endlich erhob, sah man auf dem Boden den jammervollen, zerschundenen, gebrochenen Körper eines ungefähr dreißigjährigen jungen Mannes. Er hatte weiße Haare und weiße Augenbrauen – weiß wie ein Albino, nicht durch Alter ergraut – und seine Augen waren rot wie böhmische Granaten. Er hatte die Hände geballt, die Augen waren weit geöffnet und ein Ausdruck von Zorn und Verzweiflung lag auf seinem Gesicht.
»Deckt sein Gesicht zu!«, rief ein Mann, »um Gottes willen, deckt das Gesicht zu!«
Jemand brachte ein Bettuch, und nachdem man den Leichnam damit bedeckt hatte, trug man ihn in ein Haus. Auf einem schäbigen Bett in einer bäurischen, schlecht beleuchteten Schlafstube, von einer unwissenden und erregten Menge umgeben, gebrochen und verstümmelt, verraten und unbeweint, beschloss dort Griffin, der erste Mensch, der es verstand, sich unsichtbar zu machen, Griffin, der genialste Physiker aller Zeiten und aller Völker, sein seltsames und schreckliches, tief unglückliches Leben.