Buch lesen: «H. G. Wells – Gesammelte Werke», Seite 30

Schriftart:

27. Kapitel – Die Belagerung von Kemps Haus

Kemp las eine selt­sa­me Bot­schaft, die mit Blei­stift auf ein fet­ti­ges Blatt Pa­pier ge­schrie­ben war.

»Sie sind er­staun­lich ener­gisch und klug ge­we­sen«, lau­te­te der Brief, »ob­gleich ich mir nicht den­ken kann, was Sie da­durch ge­win­nen wol­len. Sie sind also ge­gen mich. Ei­nen gan­zen Tag lang ha­ben Sie mich ge­jagt, Sie ha­ben ver­sucht, mich um die Nachtru­he zu brin­gen. Aber Ih­nen zum Trotz habe ich ge­ges­sen, Ih­nen zum Trotz habe ich ge­schla­fen und das Spiel be­ginnt erst. Es fehlt nichts, als die Schre­ckens­herr­schaft an­zu­kün­di­gen. Die­se mei­ne Bot­schaft kün­digt den ers­ten Tag an. Port Bur­dock un­ter­steht nicht län­ger der Kö­ni­gin, sa­gen Sie das Ihrem Po­li­zei­haupt­mann und den üb­ri­gen. Es un­ter­steht mir – dem Herrn des Schre­ckens. Dies ist der ers­te Tag des ers­ten Jah­res der neu­en Ära – der Ära des Un­sicht­ba­ren. Ich bin Kö­nig Un­sicht­bar der Ers­te. Am ers­ten Tag wird die Herr­schaft leicht zu er­tra­gen sein. Da wird nur eine Hin­rich­tung vor­ge­nom­men wer­den, um ein Exem­pel zu sta­tu­ie­ren – an ei­nem Man­ne na­mens Kemp. Der Tod harrt heu­te sei­ner. Er mag sich ein­schlie­ßen, sich mit Wa­chen um­ge­ben, eine Rüs­tung an­le­gen, wenn es ihm be­liebt – der Tod, der un­sicht­ba­re Tod, kommt her­an. Er mag Vor­sichts­maß­re­geln er­grei­fen, es wird nur umso grö­ße­ren Ein­druck auf mein Volk ma­chen. Das Spiel be­ginnt. Der Tod ist auf dem Wege. Helft ihm nicht, mei­ne Un­ter­ta­nen, sonst seid ihr selbst dem Tode ver­fal­len. Heu­te wird Kemp ster­ben!«

»Es ist kein Scherz«, sag­te Kemp, als er den Brief zwei­mal ge­le­sen hat­te, »das ist sei­ne Schrift, und was er sagt, das meint er auch.«

Er dreh­te das ge­fal­te­te Blatt um, und sah auf der Adres­se den Post­stem­pel von Hin­ton­de­an und die pro­sa­i­sche Be­mer­kung: »Zwei Pence Straf­por­to.«

Er er­hob sich lang­sam, ließ sein Früh­stück un­be­en­digt und ging in das Stu­dier­zim­mer. Dann ließ er sei­ne Wirt­schaf­te­rin kom­men und be­fahl ihr, so­fort die Run­de im Hau­se zu ma­chen, alle Fens­ter­rie­gel zu un­ter­su­chen und die Lä­den zu schlie­ßen. Die Fens­ter sei­nes Stu­dier­zim­mers schloss er selbst. Aus ei­nem ab­ge­sperr­ten Fach in sei­nem Schlaf­zim­mer nahm er einen klei­nen Re­vol­ver, un­ter­such­te ihn sorg­fäl­tig und steck­te ihn in die Ta­sche sei­nes Rockes. Er schrieb ei­ni­ge kur­ze Brie­fe, einen da­von an Oberst Adye, und gab sie dem Haus­mäd­chen zur Be­sor­gung mit ge­nau­en Wei­sun­gen, wie sie das Haus ver­las­sen sol­le. »Es hat kei­ne Ge­fahr«, sag­te er und füg­te in sei­nem In­nern hin­zu: »für sie.« Ein Weil­chen blieb er nach­denk­lich sit­zen, dann kehr­te er zu sei­nem kalt ge­wor­de­nen Früh­stück zu­rück.

Oft un­ter­brach ein neu­er Ein­fall sei­ne Mahl­zeit. End­lich schlug er hef­tig auf den Tisch. »Wir wer­den ihn fan­gen!«, sag­te er, »und ich bin der Kö­der. Er wird sich zu weit vor­wa­gen.«

Er ging in sein Stu­dier­zim­mer hin­auf, sorg­sam die Tü­ren hin­ter sich schlie­ßend. »Es ist ein Spiel«, sag­te er, »ein auf­re­gen­des Spiel; aber die Trümp­fe sind in mei­ner Hand, Mr. Grif­fin, trotz Ih­rer Kühn­heit. Grif­fin con­tra mund­um …«

Er stand am Fens­ter und blick­te auf den Hü­gel hin­aus. »Er muss sich je­den Tag Spei­se ver­schaf­fen – und ich miss­gön­ne es ihm nicht. Ob er heu­te Nacht wirk­lich ge­schla­fen hat? Drau­ßen im Frei­en wahr­schein­lich, si­cher vor je­der Be­geg­nung. Wenn nur recht kal­tes, nas­ses Wet­ter statt die­ser Hit­ze kom­men woll­te!

Vi­el­leicht be­ob­ach­tet er mich eben jetzt …«

Er trat ganz nahe ans Fens­ter her­an. Et­was schlug an das Mau­er­werk über dem Fens­ter und ließ ihn hef­tig zu­rück­fah­ren.

»Ich wer­de ner­vös«, sag­te Kemp. Aber es dau­er­te fünf Mi­nu­ten, ehe er wie­der ans Fens­ter ging. »Wahr­schein­lich ein Sper­ling«, mein­te er.

Bald dar­auf wur­de die Haus­glo­cke ge­zo­gen und er eil­te hin­un­ter. Er schob die Rie­gel am Tor zu­rück, dreh­te den Schlüs­sel um, un­ter­such­te die Ket­te und öff­ne­te vor­sich­tig, ohne sich zu zei­gen. Eine wohl­be­kann­te Stim­me rief ihn an. Es war Adye. »Ihr Mäd­chen ist an­ge­grif­fen wor­den, Kemp«, sag­te er durch die Tür.

»Was?«, rief Kemp.

»Man hat ihr den Brief weg­ge­nom­men. Er ist ganz in der Nähe. Las­sen Sie mich hin­ein.«

Kemp lös­te die Ket­te und Adye trat durch eine ganz schma­le Spal­te ein. Er stand in der Hal­le und blick­te mit un­end­li­cher Er­leich­te­rung auf Kemp, der das Tor wie­der ver­sperr­te. »Der Brief wur­de ihr aus der Hand ge­ris­sen. Es hat sie furcht­bar auf­ge­regt. Sie liegt in Krämp­fen. Er ist ganz in der Nähe. Was woll­ten Sie mir schrei­ben?«

Kemp fluch­te.

»Was für ein Narr ich war«, sag­te er, »ich hät­te es wis­sen kön­nen. Es ist kei­ne Stun­de Wegs von Hin­ton­de­an hier­her. Und er ist schon da!«

»Was gibt es denn?«, frag­te Adye.

»Se­hen Sie her!«, sag­te Kemp und ging vor­aus in den ers­ten Stock. Er hän­dig­te Adye den Brief des Un­sicht­ba­ren ein. Adye las ihn und pfiff lei­se vor sich hin.

»Und Sie …?«, frag­te er.

»Ich woll­te ihm eine Fal­le stel­len – ich Dumm­kopf!«, sag­te Kemp, »und sand­te Ih­nen mei­nen Vor­schlag durch ein Dienst­mäd­chen. Er weiß jetzt al­les!«

Adye folg­te Kemps gott­lo­sem Bei­spiel und fluch­te gleich­falls.

»Er wird flie­hen«, mein­te Adye.

»Das wird er nicht!«, er­wi­der­te Kemp.

Der Klang von zer­schmet­ter­tem Glas ließ sich eben ver­neh­men. Adye be­merk­te, wie Kemp den klei­nen Re­vol­ver, den er in der Ta­sche trug, halb zum Vor­schein brach­te.

»Es ist ein Fens­ter oben!«, sag­te letz­te­rer, wäh­rend sie hin­auf­gin­gen. Als sie noch auf der Stie­ge wa­ren, ver­nah­men sie den­sel­ben Klang zum zwei­ten Male. Als sie das Stu­dier­zim­mer er­reich­ten, fan­den sie zwei von den drei Fens­tern zer­schmet­tert, das hal­be Zim­mer mit Glass­plit­tern be­deckt und einen großen Kie­sel­stein auf dem Schreib­tisch. Kemp fluch­te von neu­em. Zu­gleich wur­de das drit­te Fens­ter zer­schmet­tert, und die Stücke flo­gen ins Zim­mer.

»Was soll das be­deu­ten?«, frag­te Adye.

»Das ist der An­fang«, mein­te Kemp.

»Es ist un­mög­lich, hier her­auf­zu­klet­tern!«

»Kei­ne Kat­ze kommt hier her­auf«, sag­te Kemp.

»Sind hier kei­ne Fens­ter­lä­den?«

»Hier nicht. Die Zim­mer un­ten – Hal­lo!«

Krach! und der Ton von hef­tig ge­gen Holz ge­schleu­der­ten Stei­nen ließ sich ver­neh­men. »Ver­flucht!«, sag­te Kemp, »das muss – ja – es ist im Schlaf­zim­mer. Er will das Spiel im gan­zen Hau­se wie­der­ho­len. Aber er ist ein Narr. Die Lä­den sind ge­schlos­sen und das Glas fällt nach au­ßen. Er wird sich die Füße zer­schnei­den.«

Ein an­de­res Fens­ter zer­brach. Die bei­den Män­ner stan­den be­trof­fen auf dem Gang.

»Ich hab’s!«, rief Adye. »Ge­ben Sie mir einen Stock oder et­was Ähn­li­ches; ich gehe zur Po­li­zei­sta­ti­on zu­rück und hole die Blut­hun­de. Das wird ihm das Hand­werk le­gen!«

Wie­der ging ein Fens­ter klir­rend in Trüm­mer.

»Ha­ben Sie kei­nen Re­vol­ver?«, frag­te Adye.

Kemp steck­te die Hand in die Ta­sche. Dann zö­ger­te er. »Ich habe kei­nen – we­nigs­tens kei­nen über­flüs­si­gen.«

»Ich brin­ge ihn zu­rück«, sag­te Adye. »Sie sind ja hier in Si­cher­heit.«

Kemp fürch­te­te sich, Angst zu ver­ra­ten, und übergab ihm die Waf­fe.

»Jetzt zur Tür«, sag­te Adye.

Kemp war ein we­nig blei­cher als ge­wöhn­lich. »Sie müs­sen schnell hin­aus­ge­hen«, sag­te er.

Im nächs­ten Au­gen­blick stand Adye drau­ßen und die Tür wur­de hin­ter ihm ver­schlos­sen. Eine Se­kun­de zö­ger­te er, dann schritt er ge­ra­de und ent­schlos­sen die Stu­fen hin­un­ter. Er ging quer über den Ra­sen und nä­her­te sich dem Gar­ten­tor. Ein lei­ser Hauch schi­en über das Gras zu strei­chen. In sei­ner Nähe be­weg­te sich et­was.

»Blei­ben Sie ein we­nig ste­hen!«, sag­te eine Stim­me. Adye leis­te­te die­sem Be­fehl au­gen­blick­lich Fol­ge, wo­bei sei­ne Hand den Re­vol­ver fest um­klam­mer­te.

»Nun?«, sag­te Adye, bleich, aber ent­schlos­sen, mit An­span­nung al­ler Ner­ven.

»Ha­ben Sie die Güte, in das Haus zu­rück­zu­keh­ren!«, ent­geg­ne­te eine eben­so ent­schlos­se­ne Stim­me.

»Be­dau­re«, er­wi­der­te Adye ein we­nig hei­ser und be­feuch­te­te die Lip­pen mit der Zun­ge. Er glaub­te die Stim­me von links zu hö­ren; ob er sein Glück mit ei­nem Schuss ver­su­chen soll­te?

»Wo ge­hen Sie hin?«, frag­te die Stim­me; die bei­den mach­ten eine schnel­le Be­we­gung, und in Adyes Ta­sche sah man et­was glän­zen.

Adye über­leg­te. »Wo­hin ich gehe«, sag­te er lang­sam, »ist mei­ne Sa­che.« Die Wor­te schweb­ten noch auf sei­nen Lip­pen, als sich ein Arm um sei­nen Hals leg­te, ein Knie sei­nen Rücken be­rühr­te und er nach rück­wärts ge­wor­fen wur­de. Er feu­er­te in die lee­re Luft und er­hielt im nächs­ten Au­gen­blick einen Schlag in das Ge­sicht, wo­bei ihm der Re­vol­ver ent­ris­sen wur­de. Ver­ge­bens such­te er sich auf den Fü­ßen zu er­hal­ten; er woll­te sich auf­rich­ten und fiel zu­rück. »Ver­dammt!«, fluch­te Adye. Die Stim­me lach­te. »Ich wür­de Sie jetzt tö­ten, wenn es mir nicht leid täte, eine Ku­gel zu ver­schwen­den«, sag­te sie. Fünf Fuß von sei­nem Ge­sicht ent­fernt, schweb­te der Re­vol­ver in der Luft, ge­ra­de auf ihn ge­rich­tet.

»Nun?«, frag­te Adye, sich halb auf­rich­tend.

»Ste­hen Sie auf!«, be­fahl die Stim­me.

Adye ge­horch­te.

»Ach­tung!«, sag­te die Stim­me. Dann füg­te sie hin­zu: »Ver­su­chen Sie nicht, mit mir zu spie­len. Den­ken Sie dar­an, dass ich Ihr Ge­sicht sehe, auch wenn Sie das mei­ne nicht se­hen kön­nen. Sie müs­sen in das Haus zu­rück­keh­ren.«

»Er wird mich nicht ein­las­sen«, sag­te Adye.

»Das tut mir leid«, ent­geg­ne­te der Un­sicht­ba­re. »Mit Ih­nen habe ich kei­nen Streit aus­zu­fech­ten.«

Wie­der be­feuch­te­te Adye die Lip­pen. Aber den Re­vol­ver­lauf hin­weg­bli­ckend, sah er in der Fer­ne das Meer in der Mit­tagson­ne dun­kel­blau er­glän­zen, sah das zar­te Grün der Dü­nen, die wei­ße Klip­pe, die be­leb­te Stadt un­ten, und plötz­lich er­kann­te er, wie schön das Le­ben war. Er rich­te­te den Blick wie­der auf das klei­ne me­tal­le­ne Ding, das ei­ni­ge Fuß von ihm ent­fernt zwi­schen Him­mel und Erde hing. »Was soll ich tun?«, frag­te er mür­risch.

»Was soll denn ich tun?«, ent­geg­ne­te der Un­sicht­ba­re. »Sie wer­den Hil­fe er­hal­ten. Sie ha­ben nichts zu tun als um­zu­keh­ren.«

»Ich will es ver­su­chen. Wol­len Sie mir ver­spre­chen, den Ein­gang nicht zu er­zwin­gen, wenn er mich hin­ein­lässt?«

»Mit Ih­nen ste­he ich nicht im Kampf«, sag­te die Stim­me.

Nach­dem Kemp Adye ver­las­sen hat­te, war er die Trep­pen hin­auf­ge­eilt, hat­te sich durch die Glass­plit­ter durch­ge­wun­den und sah, vor­sich­tig hin­aus­spä­hend, Adye mit dem Un­sicht­ba­ren ver­han­deln. »Wa­rum schießt er nicht?«, flüs­ter­te Kemp vor sich hin. Dann be­weg­te sich der Re­vol­ver ein we­nig und Kemps Au­gen wa­ren ge­blen­det. Er be­schat­te­te sei­ne Au­gen und such­te den Lauf des glit­zern­den Stahls zu ver­fol­gen.

»Es ist so«, sag­te er. »Adye hat den Re­vol­ver über­ge­ben.«

»Ver­spre­chen Sie mir, den Ein­gang nicht zu er­zwin­gen«, wie­der­hol­te Adye. »Sie sind im Ge­winn; trei­ben Sie das Spiel nicht zu weit. Las­sen Sie Ihrem Geg­ner einen Weg of­fen.«

»Ge­hen Sie zu­rück ins Haus. Ich sage Ih­nen ehr­lich, dass ich nichts ver­spre­chen will.«

Adyes Ent­schluss schi­en plötz­lich ge­fasst. Er wand­te sich um und schritt lang­sam, die Hän­de auf dem Rücken, dem Hau­se zu. Über­rascht be­ob­ach­te­te ihn Kemp. Der Re­vol­ver ver­schwand, wur­de wie­der sicht­bar, ver­schwand noch­mals und er­schi­en bei ge­naue­rer Be­trach­tung als ein klei­ner, dunk­ler Ge­gen­stand, der Adye folg­te. Dann über­stürz­ten sich die Er­eig­nis­se. Adye sprang zu­rück, hasch­te nach dem klei­nen Ge­gen­stand, ver­fehl­te ihn, hob die Hän­de in die Höhe und fiel aufs Ge­sicht nie­der, wäh­rend eine klei­ne blaue Rauch­säu­le in die Luft stieg. Den Schall des Schus­ses hör­te Kemp nicht. Adye stöhn­te, such­te sich auf einen Arm zu stüt­zen, fiel zu­rück und lag dann still.

Eine ge­rau­me Wei­le starr­te Kemp auf Adyes un­be­weg­lich da­lie­gen­den Kör­per. Der Nach­mit­tag war sehr heiß und ru­hig; nichts schi­en sich zu be­we­gen als ein paar gel­be Schmet­ter­lin­ge, die im Gar­ten ein­an­der hasch­ten. Adye lag auf dem Ra­sen in der Nähe des To­res. Die Fens­ter­la­den al­ler Häu­ser wa­ren ge­schlos­sen, nur in ei­ner klei­nen, grü­nen Vil­la sah man eine wei­ße Ge­stalt, au­gen­schein­lich die ei­nes schla­fen­den al­ten Man­nes. Kemp such­te in der Um­ge­bung des Hau­ses den Re­vol­ver zu ent­de­cken, aber er war ver­schwun­den. Sein Blick schweif­te zu Adye zu­rück. – – – Das Spiel hat­te schlecht be­gon­nen.

Dann hör­te man ein hef­ti­ges Läu­ten und Klop­fen an der Haus­tür, aber den Wei­sun­gen Kemps fol­gend, hat­ten sich die Dienst­bo­ten in ihre Zim­mer ein­ge­schlos­sen. Tie­fe Stil­le folg­te. Kemp horch­te, dann späh­te er vor­sich­tig durch die drei Fens­ter; er ging von ei­nem zum an­de­ren. End­lich wand­te er sich lau­schend zur Trep­pe und fühl­te sich sehr un­be­hag­lich. Er nahm die Feu­er­zan­ge aus sei­nem Schlaf­zim­mer, un­ter­such­te noch­mals die Fens­ter im Erd­ge­schoss und stieg wie­der hin­auf. Jetzt nä­her­te sich sei­ne Haus­häl­te­rin in Beglei­tung zwei­er Po­li­zei­män­ner von der Stra­ße her der Vil­la. To­ten­stil­le über­all. Die drei Per­so­nen schie­nen eine Ewig­keit zu brau­chen. Er hät­te gern ge­wusst, wo sein Geg­ner war.

Er­schreckt fuhr er auf. Von un­ten hör­te man wil­des Lär­men. Er zö­ger­te, dann ging er hin­ab. Plötz­lich wi­der­hall­te das Haus von schwe­ren Schlä­gen. Die ei­ser­nen Stä­be der Fens­ter­git­ter klirr­ten. Er öff­ne­te die Kü­chen­tür. Die Fens­ter­lä­den wa­ren zer­trüm­mert und die Holz­split­ter flo­gen weit ins Zim­mer hin­ein. Er stand be­trof­fen still. Eine Axt war durch die Fens­ter­lä­den ge­drun­gen und hieb jetzt mit fürch­ter­li­cher Ge­walt auf die Holz­ver­klei­dung und die Ei­sen­stä­be los. Dann flog sie bei­sei­te und ver­schwand.

Er sah den Re­vol­ver auf dem Wege lie­gen und dann in die Luft sprin­gen. Er wich zu­rück. Im nächs­ten Au­gen­blick krach­te ein Schuss und ver­fehl­te sei­nen Kopf um ei­nes Haa­res Brei­te. Er schlug die Tür zu und ver­ram­mel­te sie. Drau­ßen hör­te er Grif­fin ru­fen und la­chen. Dann wur­den die Axtschlä­ge wie­der ver­nehm­bar.

Kemp stand auf dem Gan­ge und ver­such­te ru­hig nach­zu­den­ken. Bin­nen kur­z­em muss­te der Un­sicht­ba­re in der Kü­che sein. Die Tür wür­de ihn kei­nen Au­gen­blick auf­hal­ten und dann …

Wie­der wur­de die Glo­cke an der Haus­tür ge­zo­gen. Das muss­ten die Po­li­zis­ten sein. Er eil­te in die Hal­le, lös­te die Ket­te und schob erst, als er die Stim­me sei­ner Haus­häl­te­rin er­kann­te, die Rie­gel zu­rück. Die drei Leu­te stürz­ten zu­gleich ins Haus und dann schlug er die Tür hin­ter ih­nen zu.

»Der Un­sicht­ba­re!«, rief ih­nen Kemp zu. »Er hat einen Re­vol­ver und es sind noch zwei Schüs­se drin. Er hat Adye er­schos­sen. Ha­ben Sie ihn nicht im Gar­ten lie­gen se­hen?«

»Wen?«, frag­te der eine der Schutz­män­ner.

»Adye!«, sag­te Kemp.

»Wir ka­men von rück­wärts«, sag­te das Mäd­chen.

»Was be­deu­tet der Lärm?«, frag­te der eine Po­li­zist.

»Er ist in der Kü­che oder wird bald drin sein. Er hat ir­gend­wo eine Axt ge­fun­den.«

Plötz­lich wi­der­hall­te das Haus von Schlä­gen ge­gen die Kü­chen­tür. Das Mäd­chen flüch­te­te sich ins Spei­se­zim­mer. Kemp ver­such­te in ab­ge­bro­che­nen Sät­zen die Sach­la­ge zu er­klä­ren. Sie hör­ten die Kü­chen­tür nach­ge­ben.

»Hier­her!«, rief Kemp in neu­er­lich er­wach­ter Tat­kraft und schob die bei­den in die Tür des Spei­se­zim­mers.

»Eine Feu­er­zan­ge!«, rief er und stürz­te zum Ka­min. Die Feu­er­zan­ge, die er ge­tra­gen hat­te, hän­dig­te er dem einen Schutz­mann ein und die aus dem Spei­se­zim­mer dem an­de­ren.

Plötz­lich wich er zu­rück. »Ach­tung!«, rief jetzt ei­ner sei­ner bei­den Beglei­ter, duck­te sich und fing einen Axt­hieb mit der Feu­er­zan­ge auf. Der Re­vol­ver gab sei­nen vor­letz­ten Schuss ab und durch­lö­cher­te einen wert­vol­len Sid­ney Cooper. Der zwei­te Schutz­mann schlug mit sei­ner Feu­er­zan­ge auf die klei­ne Waf­fe, die zu Bo­den fiel.

Voll To­des­angst schrie das Mäd­chen auf und öff­ne­te schnell ein Fens­ter – of­fen­bar in der Ab­sicht, auf die­sem Wege zu ent­flie­hen.

Man hör­te den schwe­ren Atem des Un­sicht­ba­ren. »Geht weg da, ihr bei­den«, rief er, »ich brau­che nur Kemp!«

»Wir aber brau­chen dich!«, sag­te der ers­te Po­li­zist und schwang sei­ne Feu­er­zan­ge nach der Rich­tung, aus wel­cher die Stim­me ge­kom­men war. Der Un­sicht­ba­re muss­te einen Schritt zu­rück­ge­wi­chen sein, denn der Schutz­mann stol­per­te in den Schirm­stän­der. Dann zer­schmet­ter­te ihm der Un­sicht­ba­re den Helm, als ob er aus Pa­pier ge­we­sen wäre, und der Mann stürz­te äch­zend zu Bo­den.

Der zwei­te Schutz­mann je­doch ziel­te mit der Feu­er­zan­ge hin­ter die Axt und traf auf et­was Wei­ches. Man ver­nahm einen Schmer­zens­schrei und die Axt fiel zu Bo­den. Noch ein­mal ziel­te der Schutz­mann, traf aber ins Lee­re. Dann stand er still und horch­te auf die lei­ses­te Be­we­gung.

Er hör­te das Fens­ter öff­nen und schnel­le Trit­te im Zim­mer. Sein Ge­fähr­te rich­te­te sich, aus ei­ner Stirn­wun­de blu­tend, auf. »Wo ist er?«, frag­te er.

»Ich weiß es nicht, ich habe ihn ver­wun­det. Er steht ir­gend­wo in der Hal­le, wenn er nicht an Ih­nen vor­bei­ge­schlüpft ist. Dr. Kemp – Herr Dok­tor!«

»Dok­tor Kemp!«, rief er noch­mals.

Der zwei­te Schutz­mann stand auf. Plötz­lich hör­te man die Schrit­te un­be­klei­de­ter Füße auf der Kü­chen-Trep­pe. »Halt!«, rief der ers­te Schutz­mann und warf die Feu­er­zan­ge nach je­ner Rich­tung. Sie zer­schmet­ter­te eine Gas­kro­ne.

Er mach­te Mie­ne, den Un­sicht­ba­ren bis hin­un­ter zu ver­fol­gen, dann be­sann er sich ei­nes Bes­se­ren und trat ins Spei­se­zim­mer.

»Dr. Kemp – –« be­gann er und hielt plötz­lich ein.

»Dr. Kemp ist ein Held!«, sag­te er, wäh­rend ihm sein Ge­fähr­te über die Schul­ter blick­te.

Das Spei­se­zim­mer­fens­ter stand weit of­fen und we­der das Haus­mäd­chen noch Kemp wa­ren zu se­hen.

Auch der zwei­te Po­li­zist hielt mit sei­ner schmei­chel­haf­ten Mei­nung über Kemps Hel­den­mut nicht zu­rück.

28. Kapitel – Der Jäger wird gejagt

Mr. Hee­las, Kemps nächs­ter Nach­bar in dem Vil­len­vier­tel, schlief in sei­ner Lau­be, als die Be­la­ge­rung von Kemps Haus be­gann. Mr. Hee­las ge­hör­te der starr­köp­fi­gen Ma­jo­ri­tät an, die sich wei­ger­te, an all den Un­sinn über die Exis­tenz ei­nes un­sicht­ba­ren Men­schen zu glau­ben. Er be­stand dar­auf, im Gar­ten spa­zie­ren­zu­ge­hen, als ob nichts ge­sche­hen wäre, und nach­mit­tags leg­te er sich, ei­ner viel­jäh­ri­gen Ge­wohn­heit ge­treu, dort zu ei­nem Schläf­chen nie­der. Er schlief, wäh­rend die Fens­ter ein­ge­schla­gen wur­den, dann er­wach­te er plötz­lich mit dem selt­sa­men Ge­fühl, dass et­was nicht in Ord­nung sei. Er blick­te zu Kemps Haus hin­über; dann rieb er sich die Au­gen und blick­te noch­mals hin. Jetzt rich­te­te er sich auf und horch­te. Das Haus drü­ben sah aus, als ob es seit Wo­chen ver­las­sen wäre. Alle Fens­ter wa­ren zer­bro­chen und, mit Aus­nah­me der­je­ni­gen des Stu­dier­zim­mers im obe­ren Stock­werk, von in­nen durch Holz­la­den ver­schlos­sen.

»Ich hät­te schwö­ren kön­nen«, sag­te er, auf die Uhr se­hend, »dass noch vor zwan­zig Mi­nu­ten al­les in Ord­nung war!«

Er ver­nahm in wei­ter Ent­fer­nung das Klir­ren von zer­broch­nem Glas. Und wäh­rend er noch mit of­fe­nem Mund da­saß, er­eig­ne­te sich et­was noch viel Wun­der­ba­re­res. Die La­den des Spei­se­zim­mer­fens­ters wur­den aus­ge­ris­sen, und das Haus­mäd­chen, im Hut und zum Aus­ge­hen ge­klei­det, mach­te krampf­haf­te An­stren­gun­gen, die äu­ße­ren Rie­gel zu öff­nen. Plötz­lich er­schi­en ein Mann ne­ben ihr und brach­te ihr Hil­fe – Dok­tor Kemp! Im nächs­ten Au­gen­blick war das Fens­ter of­fen und das Mäd­chen sprang her­aus, – sie eil­te wei­ter und ver­schwand zwi­schen den Sträu­chern. Mr. Hee­las er­hob sich, aufs höchs­te ver­wun­dert. Er sah Kemp auf der Brüs­tung ste­hen, aus dem Fens­ter sprin­gen und einen Mo­ment spä­ter dem Ge­büsch zu­ei­len, hie und da ste­hen­blei­bend, wie je­mand, der sich fürch­tet, be­ob­ach­tet zu wer­den. Dann sah er ihn über ein Git­ter klet­tern, das ins Freie führ­te. In ei­ner Se­kun­de war er drü­ben und rann­te, so schnell er konn­te, den Hü­gel hin­ab, auf Mr. Hee­las zu.

»Herr Gott!«, rief die­ser, von ei­nem plötz­li­chen Ge­dan­ken er­schreckt. »Es ist der Un­sicht­ba­re! So ist die Ge­schich­te doch wahr!«

Den­ken und Han­deln war für Mr. Hee­las eins, und die Kö­chin, die ihn vom Gie­bel­fens­ter aus be­ob­ach­te­te, wun­der­te sich, ihn mit der Schnel­lig­keit von neun Mei­len in der Stun­de in das Haus ren­nen zu se­hen. Man hör­te Tü­ren zu­schla­gen, Glo­cken läu­ten und Mr. Hee­las’ Stim­me brül­len: »Schließt die Tü­ren, schließt die Fens­ter, schließt al­les – der Un­sicht­ba­re kommt!« Bald war das gan­ze Haus in Aufruhr. Er selbst schloss die Glas­tür, die auf die Ve­ran­da führ­te; zu­gleich sah er Kemps Kopf, Schul­tern und Knie auf dem Gar­ten­git­ter er­schei­nen. Im nächs­ten Au­gen­blick war Kemp durch das Spar­gel­beet ge­kro­chen und lief über den Ten­nis­platz dem Hau­se zu.

»Sie kön­nen nicht her­ein«, schrie Mr. Hee­las, die Rie­gel vor­schie­bend. »Es tut mir sehr leid, wenn er Sie ver­folgt – aber ich kann Sie nicht her­ein­las­sen!«

Mit schre­ckens­blei­chem Ge­sicht er­schi­en Kemp vor der Tür und rüt­tel­te wie toll dar­an. Dann lief er, als er sah, dass sei­ne An­stren­gung nutz­los blieb, die Ve­ran­da ent­lang, sprang hin­ab und poch­te hef­tig an die Sei­ten­tür. Dann eil­te er durch ein Sei­ten­tor aus dem Gar­ten und auf die Stra­ße hin­aus. Und kaum hat­te Mr. Hee­las Kemp ver­schwin­den se­hen, als das Spar­gel­beet von neu­em zer­tre­ten wur­de, dies­mal von un­sicht­ba­ren Fü­ßen. Da­rauf­hin floh Mr. Hee­las ei­ligst nach oben und weiß vom Schluss der Jagd nichts mehr zu sa­gen.

Als Kemp auf die Stra­ße hin­aus­kam, schlug er na­tür­lich den Weg nach der Stadt ein. Und so kam es, dass er in eig­ner Per­son den­sel­ben tol­len Lauf un­ter­nahm, den er noch vor vier Ta­gen von sei­nem Stu­dier­zim­mer aus mit so kri­ti­schem Auge be­ob­ach­tet hat­te. Er lief gut für einen Mann, der au­ßer Übung war; und ob­gleich sein Ge­sicht bleich und feucht war, be­hielt er bis zum Ende kal­tes Blut. Er lief mit lan­gen Schrit­ten, und wo der Grund un­eben war, wo raue Kie­sel­stei­ne la­gen oder Glass­plit­ter in der Son­ne blink­ten, da über­sprang er die Stel­le und über­ließ es den un­be­klei­de­ten, un­sicht­ba­ren Fü­ßen, sich einen Weg zu su­chen.

Zum ers­ten Mal im Le­ben ent­deck­te Kemp, dass die Stra­ße un­be­schreib­lich lang und öde und die ers­ten Häu­ser der Stadt selt­sam weit ent­fernt wa­ren.

All die gel­ben Vil­len, die in der Nach­mit­tags­son­ne zu schla­fen schie­nen, wa­ren ver­schlos­sen und ver­ram­melt; zwei­fel­los in­fol­ge sei­ner ei­ge­nen Auf­for­de­rung. Aber sie hät­ten doch die Mög­lich­keit ei­nes Fal­les wie den sei­ni­gen be­den­ken kön­nen! Jetzt stieg die Stadt vor ihm auf; das Meer war hin­ter ihm ver­schwun­den, und un­ten in der Stadt war Le­ben und Be­we­gung. Gera­de hielt eine Tram­bahn am Fuße des Hü­gels. Ganz in der Nähe war das Po­li­zei­ge­bäu­de. Hör­te er nicht Fuß­trit­te hin­ter sich? Schnell!

Die Leu­te un­ten starr­ten ihn an. Sein Atem wur­de schwer und keu­chend. Er war jetzt ganz nahe bei der Tram­bahn. Wie ein Blitz durch­zuck­te ihn der Ge­dan­ke, in die­se Tram­bahn zu sprin­gen und die Tü­ren zu­zu­schla­gen; dann be­schloss er, doch zur Po­li­zei­sta­ti­on zu lau­fen. Im nächs­ten Au­gen­blick be­fand er sich am an­de­ren Ende der Stra­ße un­ter mensch­li­chen We­sen.

Kemp ver­lang­sam­te den Schritt, dann hör­te er sei­nen Ver­fol­ger dicht hin­ter sich, und wie­der eil­te er in ra­sen­dem Lauf wei­ter. »Der Un­sicht­ba­re!«, rief er den Leu­ten mit ei­ner un­be­stimm­ten Be­we­gung zu; und von ei­nem glück­li­chen Ge­dan­ken ge­lei­tet, über­sprang er einen Gra­ben, bei dem Erd­ar­bei­ter be­schäf­tigt wa­ren, und trach­te­te eine Grup­pe kräf­ti­ger Män­ner zwi­schen sich und sei­nen Ver­fol­ger zu brin­gen. Dann kam er von sei­ner ur­sprüng­li­chen Ab­sicht ab und bog in eine Sei­ten­stra­ße ein. Den zehn­ten Teil ei­ner Se­kun­de zö­ger­te er vor dem Ein­gang ei­nes La­dens, dann durch­eil­te er eine Al­lee, die wie­der in die Haupt­stra­ße führ­te. Zwei oder drei klei­ne Kin­der, die dort spiel­ten, schri­en bei sei­nem Er­schei­nen laut auf und lie­fen eilends da­von; Fens­ter und Tü­ren öff­ne­ten sich und er­reg­te Müt­ter stürz­ten her­aus, um ihre Kin­der zu schüt­zen. Und als Kemp wie­der in die Haupt­stra­ße ein­bog, be­merk­te er so­fort einen lau­ten Tu­mult und durch­ein­an­der ei­len­de Men­schen. Die Si­tua­ti­on hat­te sich merk­wür­dig ver­än­dert.

Ein Dut­zend Schrit­te von ihm ent­fernt lief ein rie­sen­haf­ter Ar­bei­ter und schwang sei­nen Spa­ten. Dicht hin­ter ihm folg­ten lär­mend und schrei­end an­de­re. »Bil­det eine Ket­te!«, rief ei­ner. »Er muss ganz nahe sein!«, schrie Kemp.

Er er­hielt einen hef­ti­gen Schlag ins Ge­sicht, der ihn wan­ken mach­te. Da wand­te er sich um, in der Ab­sicht, sei­nem un­sicht­ba­ren Geg­ner die Stirn zu bie­ten. Doch traf ihn ein neu­er­li­cher, so ge­wal­tig ge­führ­ter Stoß, dass er kopf­über zu Bo­den stürz­te. Im nächs­ten Au­gen­blick fühl­te er ein Knie auf sei­ner Brust und zwei sei­nen Hals um­klam­mern­de Hän­de. Er pack­te die Hand­ge­len­ke, hör­te sei­nen Geg­ner schmerz­lich auf­schrei­en, und dann wir­bel­te der Spa­ten des Ar­bei­ters durch die Luft und fiel mit dump­fem Krach auf et­was nie­der. Ein feuch­ter Trop­fen fiel auf Kemps Ge­sicht. Der Druck auf sei­nen Hals gab plötz­lich nach, mit ei­ner letz­ten An­stren­gung mach­te er sich frei und schwang sich nach oben. Er drück­te die un­sicht­ba­ren Ell­bo­gen nie­der. »Ich habe ihn!«, keuch­te er. »Hil­fe, Hil­fe – hal­tet ihn, er liegt un­ten, packt sei­ne Füße.«

Eine Se­kun­de spä­ter stürz­te sich al­les auf die Kämp­fen­den, und wenn ein Frem­der plötz­lich auf der Stra­ße er­schie­nen wäre, hät­te er glau­ben kön­nen, ein un­ge­wöhn­lich wil­des Fuß­ball­spiel sei im Gan­ge. Auf Kemps Ruf folg­te kei­ne Er­wi­de­rung – man ver­nahm nichts als das Geräusch von Schlä­gen, Fuß­trit­ten und schwe­res At­men.

Mit ei­ner mäch­ti­gen Wil­lens­an­stren­gung ge­lang es dem Un­sicht­ba­ren, sich zu er­he­ben. Kemp hing an ihm, wie ein Hund an ei­nem Hirsch, und ein Dut­zend Hän­de pack­ten ihn und ris­sen ihn zu Bo­den.

Wei­ter ging der Kampf. Plötz­lich er­tön­te ein wil­der, rö­cheln­der Schrei: »Barm­her­zig­keit!«

»Zu­rück, Leu­te!«, rief Kemp mit dump­fer Stim­me, und alle die seh­ni­gen Män­ner tra­ten zu­rück. »Er ist schwer ver­letzt, sage ich euch, zu­rück!«

Lang­sam wi­chen die Um­ste­hen­den et­was zu­rück, um Platz zu ma­chen. Ge­spannt sa­hen sie zu, wie der Dok­tor schein­bar in der Luft knie­te und un­sicht­ba­re Arme zu Bo­den drück­te. Hin­ter ihm um­klam­mer­te ein Schutz­mann un­sicht­ba­re Fuß­ge­len­ke.

»Las­sen Sie ihn nicht aus!«, rief der rie­sen­haf­te Ar­bei­ter, den blu­ti­gen Spa­ten noch im­mer in der Hand hal­tend. »Er ver­stellt sich bloß!« »Er ver­stellt sich nicht«, er­wi­der­te der Dok­tor, vor­sich­tig auf­ste­hend, »auch hal­te ich ihn fest.«

Sein Ge­sicht war zer­schun­den und rot; er sprach schwer, weil er aus der Lip­pe blu­te­te. Er ließ eine Hand los und schi­en ein Ge­sicht zu be­tas­ten. »Der Mund ist ganz nass«, sag­te er, und dann: »Gro­ßer Gott!«

Er knie­te ne­ben dem Un­sicht­ba­ren nie­der. Um ihn her­um stieß und dräng­te man sich, neue An­kömm­lin­ge ver­grö­ßer­ten die Men­ge. Es wur­de we­nig ge­spro­chen. Kemp tas­te­te her­um, sei­ne Hand schi­en durch lee­re Luft zu grei­fen. »Er at­met nicht«, sag­te er, »ich höre das Herz nicht schla­gen.«

Eine alte Frau, die un­ter dem Arm des rie­sen­haf­ten Ar­bei­ters durch­blick­te, kreisch­te auf. »Schaut her!«, rief sie, einen run­ze­li­gen Fin­ger aus­stre­ckend. Und der Rich­tung des Fin­gers fol­gend, sah man hell und durch­sich­tig, wie aus Glas, so­dass Ve­nen und Ar­te­ri­en, Kno­chen und Ner­ven deut­lich zu un­ter­schei­den wa­ren, die Um­ris­se ei­ner Hand – ei­ner schlan­ken, am Bo­den lie­gen­den Hand. Je län­ger sie dar­auf blick­ten, de­sto dich­ter und un­durch­sich­ti­ger wur­de sie. »Hal­lo!«, rief der Schutz­mann, »jetzt wird ein Fuß sicht­bar!«

Und so setz­te sich die­se selt­sa­me Sicht­bar­wer­dung lang­sam fort, bei den Hän­den und Fü­ßen be­gin­nend und längs der Glie­der lang­sam die Le­bens­zen­tren er­rei­chend. Erst sah man, von klei­nen Ve­nen ge­bil­det, die schat­ten­haf­ten Um­ris­se der Glie­der, dann die Kno­chen und Ar­te­ri­en, dann Fleisch und Haut, erst als schwa­cher Ne­bel und schließ­lich dicht und un­durch­sich­tig.

Als Kemp sich end­lich er­hob, sah man auf dem Bo­den den jam­mer­vol­len, zer­schun­de­nen, ge­bro­che­nen Kör­per ei­nes un­ge­fähr drei­ßig­jäh­ri­gen jun­gen Man­nes. Er hat­te wei­ße Haa­re und wei­ße Au­gen­brau­en – weiß wie ein Al­bi­no, nicht durch Al­ter er­graut – und sei­ne Au­gen wa­ren rot wie böh­mi­sche Gra­na­ten. Er hat­te die Hän­de ge­ballt, die Au­gen wa­ren weit ge­öff­net und ein Aus­druck von Zorn und Verzweif­lung lag auf sei­nem Ge­sicht.

»Deckt sein Ge­sicht zu!«, rief ein Mann, »um Got­tes wil­len, deckt das Ge­sicht zu!«

Je­mand brach­te ein Bet­tuch, und nach­dem man den Leich­nam da­mit be­deckt hat­te, trug man ihn in ein Haus. Auf ei­nem schä­bi­gen Bett in ei­ner bäu­ri­schen, schlecht be­leuch­te­ten Schlaf­stu­be, von ei­ner un­wis­sen­den und er­reg­ten Men­ge um­ge­ben, ge­bro­chen und ver­stüm­melt, ver­ra­ten und un­be­weint, be­schloss dort Grif­fin, der ers­te Mensch, der es ver­stand, sich un­sicht­bar zu ma­chen, Grif­fin, der ge­ni­als­te Phy­si­ker al­ler Zei­ten und al­ler Völ­ker, sein selt­sa­mes und schreck­li­ches, tief un­glück­li­ches Le­ben.