Buch lesen: «H. G. Wells – Gesammelte Werke», Seite 29

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24. Kapitel – Der Plan misslingt

Was soll also«, frag­te Kemp mit ei­nem Sei­ten­blick durch das Fens­ter, »jetzt ge­sche­hen?«

Er trat nä­her an sei­nen Gast her­an, um zu ver­hin­dern, dass die­ser zu­fäl­lig die drei Män­ner er­bli­cke, die – un­er­träg­lich lang­sam schi­en es Kemp – den Hü­gel her­auf­ka­men.

»Wel­che Ab­sicht lei­te­te Sie, als Sie nach Port Bur­dock gin­gen? Hat­ten Sie über­haupt einen Plan?«

»Ich woll­te das Land ver­las­sen. Aber seit­dem ich Sie traf, habe ich mei­ne Ab­sicht ge­än­dert. Ich dach­te, es wäre klug, jetzt, wo das Wet­ter heiß und Un­sicht­bar­keit mög­lich ist, nach dem Sü­den zu rei­sen. Be­son­ders da mein Ge­heim­nis be­kannt ge­wor­den war, und je­der nach ei­nem mas­kier­ten, ver­mumm­ten Men­schen Aus­schau hal­ten wür­de. Von hier nach Frank­reich ge­hen ver­schie­de­ne Damp­fer. Mein Plan war, an Bord ei­nes der­sel­ben zu ge­lan­gen und die Ge­fahr der Ent­de­ckung wäh­rend der Über­fahrt zu ris­kie­ren. Von dort konn­te ich mit der Bahn nach Spa­ni­en und von da nach Al­gier ge­lan­gen. Das konn­te kei­ne Schwie­rig­keit bie­ten. Dort kann man im­mer un­sicht­bar sein und doch le­ben. Und han­deln. Ich ge­brauch­te den Land­strei­cher als Geld­kas­se und Ge­päck­trä­ger, bis ich mich ent­schie­den ha­ben wür­de, auf wel­che Wei­se ich wie­der in den Be­sitz mei­ner Bü­cher und Hab­se­lig­kei­ten ge­lan­gen könn­te.«

»Das ist klar.«

»Und der Elen­de muss­te mich be­rau­ben! Er hat mei­ne Bü­cher ver­steckt, Kemp. Mei­ne Bü­cher ver­steckt! Wenn ich ihn er­wi­sche! …«

»Erst soll­te man ver­su­chen, von ihm die Bü­cher her­aus­zu­lo­cken.«

»Aber wo ist er? Wis­sen Sie es?«

»Er ist im Stadt­ge­fäng­nis und auf sei­ne ei­ge­ne Bit­te in die fes­tes­te Zel­le ein­ge­schlos­sen wor­den.«

»Der Hund!«, rief der Un­sicht­ba­re aus.

»Aber das ver­zö­gert Ihre Plä­ne.«

»Wir müs­sen die Bü­cher wie­der­be­kom­men. – Das ist eine Le­bens­fra­ge für mich.«

»Ge­wiss«, sag­te Kemp, ein we­nig ner­vös und an­ge­strengt hor­chend, ob er nicht Schrit­te drau­ßen ver­neh­me. »Ge­wiss müs­sen wir die Bü­cher ha­ben. Aber das wird nicht schwer sein, wenn er nicht weiß, dass sie für Sie be­stimmt sind.«

»Nein«, sag­te der Un­sicht­ba­re und ver­sank in tie­fe Ge­dan­ken.

Kemp ver­such­te einen neu­en Stoff zu fin­den, um das Ge­spräch auf­recht­zu­er­hal­ten, aber der Un­sicht­ba­re fuhr aus ei­ge­nem An­trieb fort.

»Dass ich in Ihr Haus ge­ra­ten bin, Kemp«, sag­te er, »än­dert alle mei­ne Plä­ne. Sie sind ein Mensch, der Ver­stand be­sitzt. Trotz al­lem, was ge­sche­hen ist, trotz des Be­kannt­wer­dens mei­ner Exis­tenz, trotz des Ver­lus­tes mei­ner Bü­cher, trotz mei­ner Lei­den, blei­ben noch reich­lich Mit­tel und Wege – – Sie ha­ben nie­mand ge­sagt, dass ich hier bin?«, frag­te er un­ver­mit­telt.

Kemp zö­ger­te. »Das war doch aus­ge­macht«, sag­te er.

»Nie­mand?«, frag­te Grif­fin drin­gen­der.

»Kei­ner See­le.«

»Ah! Dann – – –« Der Un­sicht­ba­re er­hob sich, stemm­te die Arme in die Sei­te und be­gann im Zim­mer auf und ab zu ge­hen.

»Als ich ver­such­te, die Sa­che al­lein durch­zu­füh­ren, war ich von ei­nem Irr­tum be­fan­gen, Kemp, ei­nem un­ge­heu­ren Irr­tum. Ich habe Zeit und Kraft ver­schwen­det und die güns­tigs­ten Ge­le­gen­hei­ten ver­säumt, weil ich al­lein war. Es ist selt­sam, wie we­nig ein Mensch al­lein tun kann! Ein we­nig rau­ben, ein we­nig ver­wun­den, und das ist auch al­les.

Was ich brau­che, Kemp, ist ein Hel­fer und ein Ver­steck; die Si­cher­heit, dass ich in Frie­den und un­ver­däch­tig schla­fen, es­sen und rau­chen kann. Ich muss einen Ver­bün­de­ten ha­ben. Mit ei­nem Ver­bün­de­ten, mit Nah­rung und Ruhe wer­den tau­send Din­ge mög­lich.

Bis hier­her bin ich ins Un­ge­wis­se vor­ge­gan­gen. Wir müs­sen in Be­tracht zie­hen, was Un­sicht­bar­keit be­deu­tet, und was sie nicht be­deu­tet. Sie ist von Nut­zen, um un­ge­se­hen al­les hö­ren zu kön­nen, wenn man vor­sich­tig je­des Geräusch ver­mei­det. Sie hilft ein we­nig – bei Raub, Ein­bruch und der­glei­chen. – Hat man mich je­doch ein­mal, so kann man mich leicht ge­fan­gen hal­ten. Aber an­de­rer­seits bin ich schwer zu fan­gen. Tat­säch­lich ist die Un­sicht­bar­keit nur in zwei Fäl­len wert­voll: um zu ent­kom­men und um sich zu nä­hern. Da­her ist sie ganz be­son­ders wert­voll, wenn man einen Men­schen tö­ten will. Ich kann um einen Men­schen her­um­ge­hen, mag er wel­che Waf­fe er will ha­ben, die ge­eig­nets­te Stel­le wäh­len, ihn tref­fen, wie ich will, aus­wei­chen, wie ich will, ent­wi­schen, wie ich will.«

Kemp dreh­te sei­nen Schnurr­bart. War das nicht eine Be­we­gung un­ten?

»Und tö­ten müs­sen wir, Kemp.« – –

»Tö­ten müs­sen wir«, wie­der­hol­te Kemp, »ich höre Ihren Plä­nen zu, Grif­fin, aber ich er­klä­re Ih­nen, dass ich sie nicht bil­li­ge. Wa­rum tö­ten?«

»Kein Mord aus bloßem Über­mut, son­dern ein wohl­er­wo­ge­nes Tö­ten. Die Sa­che ist die: man weiß, dass es einen un­sicht­ba­ren Men­schen gibt, die Leu­te hier wis­sen es alle – so gut wie wir selbst – und die­ser Un­sicht­ba­re, Kemp, muss jetzt ein Schre­ckens­re­gi­ment füh­ren. Ja – es ist un­ge­wöhn­lich, ge­wiss, aber ich mei­ne es im Ernst. Ein Schre­ckens­re­gi­ment. Er muss ir­gend­ei­ne Stadt ein­neh­men, wie Ihr Bur­dock zum Bei­spiel, und sie durch Schre­cken be­herr­schen. Er muss sei­ne Be­feh­le her­aus­ge­ben. Er kann dies auf tau­send Ar­ten tun – Pa­pier­strei­fen, wel­che durch die Tü­ren ge­scho­ben wer­den, wür­den ge­nü­gen. Und alle, wel­che sei­ne Be­feh­le miss­ach­ten, muss er tö­ten und alle die, wel­che den Un­ge­hor­sa­men zu Hil­fe kom­men.«

»Hm!«, sag­te Kemp, der nicht län­ger auf Grif­fin hör­te, son­dern auf das Öff­nen und Schlie­ßen der Haus­tür lausch­te.

»Es scheint mir, Grif­fin«, sag­te er, um sei­ne Unauf­merk­sam­keit zu ver­ber­gen, »dass Ihr Ver­bün­de­ter in eine schwie­ri­ge Lage käme.«

»Nie­mand wüss­te, dass er mein Ver­bün­de­ter wäre«, er­klär­te der Un­sicht­ba­re eif­rig. Und dann plötz­lich: »Pst! Was ist das un­ten?«

»Nichts«, er­wi­der­te Kemp und be­gann laut und schnell zu spre­chen. »Ich bil­li­ge dies nicht, Grif­fin«, sag­te er. »Ver­ste­hen Sie mich wohl, ich bil­li­ge dies nicht. Wa­rum wol­len Sie sich in einen so feind­li­chen Ge­gen­satz zu Ihren Mit­menschen stel­len? Wie kön­nen Sie hof­fen, glück­lich zu wer­den? Ge­ben Sie Ihrem Wun­sche nach Ein­sam­keit doch nicht nach. Ver­öf­fent­li­chen Sie Ihre Ent­de­ckun­gen – zie­hen Sie die Welt – oder doch die Na­ti­on in Ihr Ver­trau­en. Stel­len Sie sich vor, was Sie mit ei­ner Mil­li­on eif­ri­ger Mit­ar­bei­ter be­wir­ken könn­ten – – –«

Der Un­sicht­ba­re un­ter­brach ihn, den Arm aus­stre­ckend. »Ich höre Schrit­te die Trep­pe her­auf­kom­men«, sag­te er.

»Un­sinn!«, mein­te Kemp.

»Las­sen Sie mich se­hen«, sag­te der Un­sicht­ba­re und nä­her­te sich mit aus­ge­streck­tem Arm der Tür.

Und dann jag­ten sich die Er­eig­nis­se mit un­glaub­li­cher Schnel­lig­keit. Kemp zö­ger­te einen Au­gen­blick, dann stell­te er sich ihm in den Weg. Der Un­sicht­ba­re fuhr zu­sam­men und stand still. »Ver­rä­ter!«, schrie die Stim­me, und plötz­lich öff­ne­te sich der Schlaf­rock und der Un­sicht­ba­re be­gann sich zu ent­klei­den. Kemp er­reich­te mit drei Schrit­ten die Tür, als der Un­sicht­ba­re mit ei­nem lau­ten Aus­ruf auf­sprang. Kemp riss die Tür auf.

Zu­gleich hör­te man das Geräusch eilends sich nä­hern­der Schrit­te und Stim­men­ge­wirr von un­ten.

Mit ei­ner schnel­len Be­we­gung warf Kemp den Un­sicht­ba­ren zu­rück, sprang bei­sei­te und schlug die Tür hin­ter sich zu. Den Schlüs­sel hat­te er schon frü­her von au­ßen ins Schloss ge­steckt. Im nächs­ten Au­gen­blick wäre Grif­fin im Stu­dier­zim­mer ge­fan­gen ge­we­sen – hät­te sich nicht ein ge­ring­fü­gi­ger Um­stand er­eig­net. Der Schlüs­sel war am Mor­gen has­tig hin­ein­ge­scho­ben wor­den. Als Kemp die Tür zu­schlug, fiel er auf den Tep­pich.

Kemp wur­de krei­de­weiß. Mit bei­den Hän­den um­klam­mer­te er die Tür­klin­ke. Ei­nen Au­gen­blick hielt er sie fest zu. Dann gab sie sechs Zoll weit nach. Aber es ge­lang ihm, sie wie­der zu schlie­ßen. Das zwei­te Mal öff­ne­te sie sich einen Fuß weit und der Schlaf­rock zwäng­te sich in die Öff­nung. Un­sicht­ba­re Fin­ger um­klam­mer­ten sei­nen Hals, so­dass er die Tür­klin­ke los­las­sen muss­te, um sich zu ver­tei­di­gen. Er wur­de zu­rück­ge­drängt und mit Ge­walt in einen Win­kel des Gan­ges ge­schleu­dert. Der Schlaf­rock flog über ihn hin­weg. In der Mit­te der Trep­pe stand der Emp­fän­ger von Kemps Brief, Oberst Adye, Chef der Po­li­zei in Bur­dock. Ver­blüfft starr­te er auf das plötz­li­che Er­schei­nen Kemps und den au­ßer­ge­wöhn­li­chen An­blick von leer durch die Luft flie­gen­den Klei­dern. Er sah, wie Kemp nie­der­ge­wor­fen wur­de und sich wie­der zu er­he­ben such­te. Er sah ihn vor­wärts ei­len und dann wuch­tig zu­sam­men­stür­zen.

Dann er­hielt er plötz­lich selbst einen hef­ti­gen Stoß. Durch ein Nichts! Es schi­en, als ob ein schwe­res Ge­wicht sich auf ihn lege und er wur­de kopf­über die Trep­pe hin­un­ter­be­för­dert. Ein un­sicht­ba­rer Fuß trat auf sei­nen Rücken, geis­ter­haf­te Fuß­trit­te gin­gen die Trep­pe hin­ab, er hör­te die bei­den Schutz­män­ner in der Hal­le laut schrei­en und die Haus­tür hef­tig zu­schla­gen. Ganz ver­wirrt setz­te er sich auf. Er sah, wie Kemp mit blu­ten­den Lip­pen und ge­schwol­le­nem Ge­sicht, einen ro­ten Schlaf­rock im Arme, die Trep­pe her­un­ter­wank­te.

»Mein Gott!«, rief Kemp, »das Spiel ist aus! Er ist fort!«

25. Kapitel – Die Verfolgung des Unsichtbaren

Es dau­er­te ge­rau­me Zeit, ehe es Kemp ge­lang, Adye den Ver­lauf der Er­eig­nis­se der letz­ten Mi­nu­ten zu er­klä­ren. Sie stan­den auf dem Gan­ge und Kemp sprach schnell und has­tig. End­lich be­gann Adye die Lage zu be­grei­fen.

»Er ist wahn­sin­nig!«, sag­te Kemp. »Er ist der ver­kör­per­te Ego­is­mus, ohne eine Spur mensch­li­chen Füh­lens. Er denkt an nichts, als an sei­nen ei­ge­nen Vor­teil, sei­ne ei­ge­ne Si­cher­heit. Ich habe heu­te Mor­gen eine Ge­schich­te solch bru­ta­ler Selbst­sucht mit an­ge­hört … Er hat Men­schen ver­wun­det. Er wird mor­den, wenn wir ihn nicht dar­an hin­dern kön­nen. Er wird eine Pa­nik ver­brei­ten. Nichts kann ihn auf­hal­ten. Jetzt geht er los – wü­tend!«

»Wir müs­sen ihn fan­gen«, sag­te Adye, »das ist ge­wiss.«

»Aber wie?«, rief Kemp und ent­wi­ckel­te einen plötz­li­chen Ide­en­reich­tum. »Sie müs­sen so­fort be­gin­nen, Sie müs­sen je­den ver­füg­ba­ren Mann dazu ver­wen­den und ihn hin­dern, die Ge­gend zu ver­las­sen. So­bald er ein­mal fort ist, wird er mor­dend und ver­wun­dend durch das Land zie­hen. Er träumt von ei­ner Schre­ckens­herr­schaft. Ei­ner Schre­ckens­herr­schaft, sage ich Ih­nen. Sie müs­sen die Bahn­li­ni­en, die Stra­ßen und die aus­lau­fen­den Schif­fe be­wa­chen las­sen. Die Gar­ni­son muss hel­fen. Sie müs­sen um Hil­fe te­le­gra­fie­ren. Das ein­zi­ge, was ihn viel­leicht hier hal­ten kann ist die fixe Idee, wie­der in Be­sitz ei­ni­ger No­tiz­bü­cher zu ge­lan­gen, die er für wert­voll hält. Ich wer­de Ih­nen das spä­ter er­zäh­len. Auf der Po­li­zei­sta­ti­on be­fin­det sich ein Mann, na­mens Mar­vel.«

»Ich weiß es«, sag­te Adye. »Die­se Bü­cher – ja. Aber der Land­strei­cher …«

»Sagt, er habe sie nicht. Aber er glaubt doch, dass sie der Land­strei­cher hat. Und man muss ihn am Es­sen und Schla­fen hin­dern. – Tag und Nacht muss die Ge­gend nach ihm durch­sucht wer­den. Alle Le­bens­mit­tel müs­sen ein­ge­sperrt und in Si­cher­heit ge­bracht wer­den, über­haupt jede Nah­rung, so­dass er Ge­walt an­wen­den muss, um dazu zu ge­lan­gen. Die Häu­ser müs­sen ver­ram­melt wer­den. Der Him­mel sen­de uns kal­te Näch­te und Re­gen! Das gan­ze Land muss die Jagd auf­neh­men. Ich sage Ih­nen, Adye, er ist eine Ge­fahr, ein Un­glück – be­vor er ge­fan­gen und in Si­cher­heit ge­bracht ist, kann man nur mit Schre­cken an die Din­ge den­ken, die ge­sche­hen kön­nen.«

»Was könn­ten wir sonst noch tun?«, sag­te Adye. »Ich muss die Or­ga­ni­sa­ti­on so­fort in die Hand neh­men. Aber wol­len Sie nicht mit­kom­men? Ja – kom­men Sie doch auch! Kom­men Sie, wir müs­sen eine Art Kriegs­rat hal­ten – an die Bahn­sta­tio­nen te­le­gra­fie­ren. Bei Gott, das ist drin­gend. Kom­men Sie, wir kön­nen im Ge­hen spre­chen. Was könn­ten wir noch tun?«

Im nächs­ten Au­gen­blick gin­gen sie die Trep­pe hin­ab. Sie fan­den das Hau­stor of­fen und die Po­li­zis­ten drau­ßen vor sich hin­star­ren. »Er ist fort, Herr!«, sag­te der eine.

»Wir müs­sen so­fort auf die Haupt­wa­che!«, er­wi­der­te Adye, »ei­ner von euch muss einen Wa­gen ho­len – schnell. Und jetzt, Kemp, was noch?«

»Hun­de!«, sag­te Kemp, »ver­schaf­fen Sie sich Hun­de. Sie se­hen ihn nicht, aber sie spü­ren ihn auf.«

»Gut!«, mein­te Adye. »Hun­de. Was noch?«

»Ver­ges­sen Sie nicht«, sag­te Kemp, »dass sei­ne Nah­rung sicht­bar bleibt. Wenn er ge­ges­sen hat, sieht man die Spei­sen, bis sie as­si­mi­liert sind. So muss er sich ver­ber­gen, nach­dem er ge­ges­sen hat. Sie müs­sen fort­wäh­rend nach ihm su­chen. In je­dem Dickicht, in je­dem ru­hi­gen Win­kel. Und las­sen Sie alle Waf­fen – alle Werk­zeu­ge, die als Waf­fe ver­wen­det wer­den könn­ten, weg­schaf­fen. Er kann sol­che Sa­chen nicht lan­ge tra­gen, und was er zu­fäl­lig fin­den könn­te, um da­mit zu ver­let­zen, muss ver­bor­gen wer­den.«

»Auch gut«, sag­te Adye. »Wir wer­den ihn doch noch fan­gen!«

»Und auf den Stra­ßen – –« sag­te Kemp und zö­ger­te.

»Ja?«, frag­te Adye.

»Glass­plit­ter«, fuhr Kemp fort. »Es ist grau­sam, ich weiß es. Aber be­den­ken Sie, was er tun könn­te!«

Adye blies die Luft durch die Zäh­ne. »Das ist un­mensch­lich. Ich weiß wirk­lich nicht, ob ich das zu­ge­ben kann. Aber ich wer­de Glass­plit­ter be­reit­hal­ten, wenn er zu weit geht.«

»Der Mann ist ein Un­ge­heu­er, sage ich Ih­nen«, ver­si­cher­te Kemp. »Ich weiß so be­stimmt, dass er sei­ne Schre­ckens­herr­schaft be­gin­nen wird – so­bald er die Auf­re­gung über sei­ne Flucht ein­mal über­wun­den hat – als ich weiß, dass ich mit Ih­nen spre­che. Un­se­re ein­zi­ge Ret­tung ist, ihm zu­vor­zu­kom­men. Er hat sich selbst von der Mensch­heit los­ge­sagt. Sein Blut kom­me über sein Haupt.«

26. Kapitel – Der Mord im Dickicht

Der Un­sicht­ba­re scheint in ei­nem Zu­stand blin­der Wut aus dem Hau­se Kemps ge­flo­hen zu sein. Ein klei­nes Kind, das in der Nähe des To­res spiel­te, war hef­tig an­ge­packt und bei­sei­te ge­schleu­dert wor­den, so­dass es den Knö­chel brach, und nach­her ver­schwand er für ei­ni­ge Stun­den voll­kom­men. Nie­mand weiß, wo­hin er ging oder was er tat. Aber man kann sich vor­stel­len, wie er an dem hei­ßen Ju­ni­tag den Hü­gel hin­auf nach der of­fe­nen Düne hin­ter Port Bur­dock eil­te, voll Grimm sein Schick­sal ver­flu­chend, bis er end­lich er­hitzt und müde in den Wäl­dern von Hin­ton­de­an eine Zuf­lucht such­te, um wie­der neue Plä­ne ge­gen sei­ne Mit­menschen zu schmie­den.

Wie dem aber auch sei, ge­gen Mit­tag ver­schwand er aus dem Ge­sichts­kreis der Men­schen, und kei­ne le­ben­de See­le kann sa­gen, was er bis ge­gen halb 3 Uhr ge­tan hat. Vi­el­leicht war es ein Glück für die Mensch­heit, aber für ihn selbst soll­te die­se Un­tä­tig­keit un­heil­voll wer­den.

Wäh­rend die­ser Zeit war eine im­mer mehr wach­sen­de Men­schen­men­ge in der gan­zen Ge­gend ge­schäf­tig. Am Mor­gen war er noch eine blo­ße My­the, ein Ge­gen­stand des Schre­ckens ge­we­sen; am Nach­mit­tag wur­de er in ei­ner tro­ckenen Pro­kla­ma­ti­on Kemps als ein greif­ba­rer Geg­ner hin­ge­stellt, der ver­wun­det, ge­fan­gen und über­wun­den wer­den konn­te. Und die gan­ze Ge­gend be­gann sich mit un­fass­ba­rer Schnel­lig­keit zu or­ga­ni­sie­ren. Selbst um 2 Uhr noch hät­te er mit­tels ei­nes Zu­ges die Ge­gend ver­las­sen kön­nen, nach 2 Uhr aber wur­de auch dies un­mög­lich, denn alle Per­so­nen­zü­ge in der gan­zen Ge­gend fuh­ren mit ver­sperr­ten Kou­pee­tü­ren und der Gü­ter­ver­kehr war fast ganz ein­ge­stellt. Und in ei­nem Um­kreis von 20 Mei­len bra­chen Grup­pen von drei oder vier Män­nern, die mit Flin­ten und Knüt­teln be­waff­net wa­ren, in Beglei­tung von Hun­den auf, um Stra­ßen und Fel­der zu durch­su­chen.

Be­rit­te­ne Wach­leu­te spreng­ten die Land­stra­ßen ent­lang, hiel­ten bei je­dem Hau­se an und for­der­ten die Be­woh­ner auf, ihre Häu­ser zu­zu­schlie­ßen und sich in­ner­halb der­sel­ben zu hal­ten, wenn sie nicht be­waff­net wä­ren. Die Volks­schu­len wur­den um 3 Uhr ge­schlos­sen und die Kin­der ei­ligst nach Hau­se ge­schickt. Kemps Auf­ruf, der von Adye un­ter­zeich­net war, war um 4 oder 5 Uhr nach­mit­tags in der gan­zen Ge­gend an­ge­schla­gen. Und so schnell und ent­schie­den han­del­ten die Be­hör­den, so rasch und all­ge­mein ver­brei­te­te sich der Glau­be an je­nes selt­sa­me We­sen, dass noch vor Ein­bruch der Nacht eine Ge­gend von meh­re­ren hun­dert Qua­drat­mei­len Aus­deh­nung wie in Be­la­ge­rungs­zu­stand ver­setzt war.

Mitt­ler­wei­le wur­de der Ver­wal­ter Lord Bur­docks, Mr. Wicks­teed, er­schla­gen auf­ge­fun­den.

Wenn un­se­re Voraus­set­zung, dass der Un­sicht­ba­re in den Wäl­dern von Hin­ton­de­an eine Zuf­lucht ge­sucht hat­te, rich­tig ist, so müs­sen wir an­neh­men, dass er am Nach­mit­tag wie­der auf­brach und einen Plan er­wog, der den Ge­brauch ei­ner Waf­fe nö­tig mach­te. Wir kön­nen nicht wis­sen, wel­ches die­ser Plan war, aber die Tat­sa­che, dass er die Ei­sen­stan­ge in der Hand trug, be­vor er Wicks­teed traf, ist im­mer­hin über­zeu­gend.

Na­tür­lich ken­nen wir die Ein­zel­hei­ten der Be­geg­nung nicht. Es war im Dickicht am Ran­de ei­ner Kies­gru­be, nicht zwei­hun­dert Schrit­te von Lord Bur­docks Parktor ent­fernt. Al­les deu­tet auf einen ver­zwei­fel­ten Kampf hin, der zer­tre­te­ne Bo­den, die zahl­rei­chen Wun­den, die der Kör­per Mr. Wicks­teeds auf­wies, sein zer­split­ter­ter Spa­zier­stock; aber warum der An­griff ge­sch­ah, wenn nicht aus pu­rer Mord­lust, ist schwer zu be­grei­fen. Es ist tat­säch­lich fast un­ver­meid­lich, an Wahn­sinn zu glau­ben. Mr. Wicks­teed, der Ver­wal­ter Lord Bur­docks, war ein Mann von etwa 55 Jah­ren und so fried­fer­tig von Na­tur und Ge­wohn­hei­ten, dass er der letz­te ge­we­sen wäre, einen so fürch­ter­li­chen Geg­ner zu rei­zen oder her­aus­zu­for­dern. Es scheint, dass der Un­sicht­ba­re aus ei­nem ei­ser­nen Git­ter eine Stan­ge her­aus­ge­bro­chen hat­te und die­se als Waf­fe ver­wen­de­te. Er trat dem ru­hig zu sei­nem Mit­ta­ges­sen nach Hau­se ge­hen­den Mann in den Weg, schlug ihn, der sich nur schwach ver­tei­dig­te, nie­der und zer­schmet­ter­te ihm das Haupt.

Er muss ja, na­tür­lich, die Stan­ge aus dem Git­ter ge­ris­sen ha­ben, ehe er sei­nem Op­fer be­geg­ne­te – muss sie schon zur Hand ge­habt ha­ben. Nur zwei Ein­zel­hei­ten au­ßer den schon ge­nann­ten schei­nen von Be­lang. Ers­tens, dass die Kies­gru­be nicht an Mr. Wicks­teeds Heim­weg, son­dern fast ein paar hun­dert Schrit­te ent­fernt lag. Und zwei­tens die Be­haup­tung ei­nes klei­nen Mäd­chens, dass sie auf ih­rem Weg zur Schu­le nach­mit­tags den Er­mor­de­ten in ei­ner ganz merk­wür­di­gen Wei­se über einen Acker der Kies­gru­be zu stap­fen sah. So, wie sie sei­ne Art zu ge­hen nach­mach­te, muss man auf den Ge­dan­ken kom­men, dass der Mann ir­gend et­was vor sich auf der Erde ver­folg­te und dann und wann mit sei­nem Spa­zier­stock da­nach schlug. Die Klei­ne war die letz­te, die ihn le­bend sah. Er ent­schwand ih­ren Bli­cken, um sei­nem Tod ent­ge­gen­zu­ge­hen, und nur eine Grup­pe von Bu­chen und eine leich­te Bo­den­sen­kung ent­zog den Kampf ih­ren Au­gen.

Dies könn­te viel­leicht zu ei­ner Art Er­klä­rung des sonst zweck­los schei­nen­den Mor­des die­nen. Man könn­te sich vor­stel­len, dass Grif­fin die Stan­ge al­ler­dings als Waf­fe ge­nom­men hat, je­doch ohne die be­stimm­te Ab­sicht, einen Mord zu be­ge­hen. Wicks­teed mag dann vor­über­ge­kom­men sein und die Stan­ge, die sich auf so un­er­klär­li­che Wei­se durch die Luft be­weg­te, ge­se­hen ha­ben. Ohne über­haupt eine Ah­nung von dem Un­sicht­ba­ren zu ha­ben – denn Port Bur­dock liegt zehn Mei­len weit von dort –, mag er sie ver­folgt ha­ben. Es ist ganz denk­bar, dass er nichts von dem Un­sicht­ba­ren ge­hört hat­te. Die­ser hat­te sich viel­leicht – um sei­ne An­we­sen­heit in der Nach­bar­schaft nicht zu ver­ra­ten – ru­hig da­von­ma­chen wol­len, und Wicks­teed hat­te vol­ler Neu­gier und Er­re­gung den so un­er­klär­lich sich be­we­gen­den Ge­gen­stand ver­folgt und schließ­lich nach ihm ge­schla­gen.

Un­ter ge­wöhn­li­chen Um­stän­den hät­te der Un­sicht­ba­re zwei­fel­los sei­nem nicht mehr jun­gen Ver­fol­ger aus­wei­chen kön­nen; aber die Lage, in der Wicks­teeds Leich­nam ge­fun­den wur­de, deu­tet dar­auf hin, dass er das Un­glück hat­te, sei­ne Beu­te in einen Win­kel zwi­schen ei­nem Bren­nes­sel­dickicht und der Kies­gru­be zu trei­ben. Für je­den, der die au­ßer­or­dent­li­che Reiz­bar­keit des Un­sicht­ba­ren in Be­tracht zieht, wird das üb­ri­ge des Zu­sam­men­tref­fens leicht be­greif­lich sein.

Es ist dies je­doch eine blo­ße Hy­po­the­se. Die ein­zi­ge un­leug­ba­re Tat­sa­che – denn was Kin­der er­zäh­len, ist häu­fig we­nig zu­ver­läs­sig – ist die Ent­de­ckung von Wicks­teeds Leich­nam und der blu­ti­gen Ei­sen­stan­ge, die in den Bren­nes­seln lag. Dass Grif­fin die Ei­sen­stan­ge weg­warf, lässt auf die Ver­mu­tung kom­men, dass er – in der Ge­müt­s­er­re­gung je­nes Er­eig­nis­ses – die Ab­sicht, in der er sie an sich ge­ris­sen hat­te – wenn über­haupt eine be­stimm­te Ab­sicht vor­lag – auf­gab. Ge­wiss war er ein un­end­lich selbst­süch­ti­ger und ge­fühl­lo­ser Mensch; aber der An­blick sei­nes Op­fers, sei­nes ers­ten Op­fers, das da blu­tend und jam­mer­voll zu sei­nen Fü­ßen lag, mag doch eine lang zu­rück­ge­dämm­te Quel­le von Ge­wis­sens­bis­sen ent­fes­selt ha­ben, die, we­nigs­tens vor­über­ge­hend, alle Plä­ne, die er vor­ge­habt hat­te, weg­schwemm­te.

Nach die­sem Mord scheint er das Land in der Rich­tung ge­gen die Düne durch­wan­dert zu ha­ben. Ei­ni­ge Leu­te wis­sen von ei­ner Stim­me zu er­zäh­len, die sie auf ei­nem Feld in der Nähe von Fern-Bot­tom hör­ten. Sie wein­te und lach­te, seufz­te und stöhn­te, und hie und da hör­te man einen wil­den Schrei. Hin­ter ei­nem Ber­ge ver­hall­te sie.

In der Zwi­schen­zeit muss der Un­sicht­ba­re ge­wahr ge­wor­den sein, welch schnel­len Ge­brauch Kemp von sei­nen ver­trau­li­chen Mit­tei­lun­gen ge­macht hat­te. Er muss die Häu­ser ver­sperrt und be­fes­tigt ge­fun­den ha­ben, er mag nach den Ei­sen­bahn­sta­tio­nen und Wirts­häu­sern ge­schli­chen sein, wo er zwei­fel­los die Be­kannt­ma­chung las und sich über die Na­tur des Feld­zu­ges, den man ge­gen ihn führ­te, klar wur­de. Und wie der Abend her­ein­brach, tauch­ten hie und da auf den Fel­dern Grup­pen von drei oder vier Män­nern, in Beglei­tung von kläf­fen­den Hun­den, auf. Die­se Jä­ger hat­ten für den Fall ei­ner Be­geg­nung mit ihm be­son­de­re Wei­sun­gen er­hal­ten, wie sie ein­an­der bei­ste­hen könn­ten. Aber er wich ih­nen al­len aus. Wir kön­nen sei­ne Verzweif­lung be­grei­fen, und sie mag durch das Be­wusst­sein, dass er selbst die Hand­ha­be zu ei­ner so grau­sa­men Jagd ge­gen sich ge­bo­ten hat­te, nicht ver­rin­gert wor­den sein. Ei­nen Tag lang ver­lor er den Mut; durch vier­und­zwan­zig Stun­den war er au­ßer im Kampf ge­gen Wicks­teed wie ein ge­hetz­tes Wild. In der Nacht muss er ge­ges­sen und ge­schla­fen ha­ben, denn am Mor­gen war er wie­der er selbst, tä­tig, ener­gisch, rach­süch­tig und be­reit, sei­nen letz­ten großen Kampf ge­gen die Welt auf­zu­neh­men.