Was soll also«, fragte Kemp mit einem Seitenblick durch das Fenster, »jetzt geschehen?«
Er trat näher an seinen Gast heran, um zu verhindern, dass dieser zufällig die drei Männer erblicke, die – unerträglich langsam schien es Kemp – den Hügel heraufkamen.
»Welche Absicht leitete Sie, als Sie nach Port Burdock gingen? Hatten Sie überhaupt einen Plan?«
»Ich wollte das Land verlassen. Aber seitdem ich Sie traf, habe ich meine Absicht geändert. Ich dachte, es wäre klug, jetzt, wo das Wetter heiß und Unsichtbarkeit möglich ist, nach dem Süden zu reisen. Besonders da mein Geheimnis bekannt geworden war, und jeder nach einem maskierten, vermummten Menschen Ausschau halten würde. Von hier nach Frankreich gehen verschiedene Dampfer. Mein Plan war, an Bord eines derselben zu gelangen und die Gefahr der Entdeckung während der Überfahrt zu riskieren. Von dort konnte ich mit der Bahn nach Spanien und von da nach Algier gelangen. Das konnte keine Schwierigkeit bieten. Dort kann man immer unsichtbar sein und doch leben. Und handeln. Ich gebrauchte den Landstreicher als Geldkasse und Gepäckträger, bis ich mich entschieden haben würde, auf welche Weise ich wieder in den Besitz meiner Bücher und Habseligkeiten gelangen könnte.«
»Das ist klar.«
»Und der Elende musste mich berauben! Er hat meine Bücher versteckt, Kemp. Meine Bücher versteckt! Wenn ich ihn erwische! …«
»Erst sollte man versuchen, von ihm die Bücher herauszulocken.«
»Aber wo ist er? Wissen Sie es?«
»Er ist im Stadtgefängnis und auf seine eigene Bitte in die festeste Zelle eingeschlossen worden.«
»Der Hund!«, rief der Unsichtbare aus.
»Aber das verzögert Ihre Pläne.«
»Wir müssen die Bücher wiederbekommen. – Das ist eine Lebensfrage für mich.«
»Gewiss«, sagte Kemp, ein wenig nervös und angestrengt horchend, ob er nicht Schritte draußen vernehme. »Gewiss müssen wir die Bücher haben. Aber das wird nicht schwer sein, wenn er nicht weiß, dass sie für Sie bestimmt sind.«
»Nein«, sagte der Unsichtbare und versank in tiefe Gedanken.
Kemp versuchte einen neuen Stoff zu finden, um das Gespräch aufrechtzuerhalten, aber der Unsichtbare fuhr aus eigenem Antrieb fort.
»Dass ich in Ihr Haus geraten bin, Kemp«, sagte er, »ändert alle meine Pläne. Sie sind ein Mensch, der Verstand besitzt. Trotz allem, was geschehen ist, trotz des Bekanntwerdens meiner Existenz, trotz des Verlustes meiner Bücher, trotz meiner Leiden, bleiben noch reichlich Mittel und Wege – – Sie haben niemand gesagt, dass ich hier bin?«, fragte er unvermittelt.
Kemp zögerte. »Das war doch ausgemacht«, sagte er.
»Niemand?«, fragte Griffin dringender.
»Keiner Seele.«
»Ah! Dann – – –« Der Unsichtbare erhob sich, stemmte die Arme in die Seite und begann im Zimmer auf und ab zu gehen.
»Als ich versuchte, die Sache allein durchzuführen, war ich von einem Irrtum befangen, Kemp, einem ungeheuren Irrtum. Ich habe Zeit und Kraft verschwendet und die günstigsten Gelegenheiten versäumt, weil ich allein war. Es ist seltsam, wie wenig ein Mensch allein tun kann! Ein wenig rauben, ein wenig verwunden, und das ist auch alles.
Was ich brauche, Kemp, ist ein Helfer und ein Versteck; die Sicherheit, dass ich in Frieden und unverdächtig schlafen, essen und rauchen kann. Ich muss einen Verbündeten haben. Mit einem Verbündeten, mit Nahrung und Ruhe werden tausend Dinge möglich.
Bis hierher bin ich ins Ungewisse vorgegangen. Wir müssen in Betracht ziehen, was Unsichtbarkeit bedeutet, und was sie nicht bedeutet. Sie ist von Nutzen, um ungesehen alles hören zu können, wenn man vorsichtig jedes Geräusch vermeidet. Sie hilft ein wenig – bei Raub, Einbruch und dergleichen. – Hat man mich jedoch einmal, so kann man mich leicht gefangen halten. Aber andererseits bin ich schwer zu fangen. Tatsächlich ist die Unsichtbarkeit nur in zwei Fällen wertvoll: um zu entkommen und um sich zu nähern. Daher ist sie ganz besonders wertvoll, wenn man einen Menschen töten will. Ich kann um einen Menschen herumgehen, mag er welche Waffe er will haben, die geeignetste Stelle wählen, ihn treffen, wie ich will, ausweichen, wie ich will, entwischen, wie ich will.«
Kemp drehte seinen Schnurrbart. War das nicht eine Bewegung unten?
»Und töten müssen wir, Kemp.« – –
»Töten müssen wir«, wiederholte Kemp, »ich höre Ihren Plänen zu, Griffin, aber ich erkläre Ihnen, dass ich sie nicht billige. Warum töten?«
»Kein Mord aus bloßem Übermut, sondern ein wohlerwogenes Töten. Die Sache ist die: man weiß, dass es einen unsichtbaren Menschen gibt, die Leute hier wissen es alle – so gut wie wir selbst – und dieser Unsichtbare, Kemp, muss jetzt ein Schreckensregiment führen. Ja – es ist ungewöhnlich, gewiss, aber ich meine es im Ernst. Ein Schreckensregiment. Er muss irgendeine Stadt einnehmen, wie Ihr Burdock zum Beispiel, und sie durch Schrecken beherrschen. Er muss seine Befehle herausgeben. Er kann dies auf tausend Arten tun – Papierstreifen, welche durch die Türen geschoben werden, würden genügen. Und alle, welche seine Befehle missachten, muss er töten und alle die, welche den Ungehorsamen zu Hilfe kommen.«
»Hm!«, sagte Kemp, der nicht länger auf Griffin hörte, sondern auf das Öffnen und Schließen der Haustür lauschte.
»Es scheint mir, Griffin«, sagte er, um seine Unaufmerksamkeit zu verbergen, »dass Ihr Verbündeter in eine schwierige Lage käme.«
»Niemand wüsste, dass er mein Verbündeter wäre«, erklärte der Unsichtbare eifrig. Und dann plötzlich: »Pst! Was ist das unten?«
»Nichts«, erwiderte Kemp und begann laut und schnell zu sprechen. »Ich billige dies nicht, Griffin«, sagte er. »Verstehen Sie mich wohl, ich billige dies nicht. Warum wollen Sie sich in einen so feindlichen Gegensatz zu Ihren Mitmenschen stellen? Wie können Sie hoffen, glücklich zu werden? Geben Sie Ihrem Wunsche nach Einsamkeit doch nicht nach. Veröffentlichen Sie Ihre Entdeckungen – ziehen Sie die Welt – oder doch die Nation in Ihr Vertrauen. Stellen Sie sich vor, was Sie mit einer Million eifriger Mitarbeiter bewirken könnten – – –«
Der Unsichtbare unterbrach ihn, den Arm ausstreckend. »Ich höre Schritte die Treppe heraufkommen«, sagte er.
»Unsinn!«, meinte Kemp.
»Lassen Sie mich sehen«, sagte der Unsichtbare und näherte sich mit ausgestrecktem Arm der Tür.
Und dann jagten sich die Ereignisse mit unglaublicher Schnelligkeit. Kemp zögerte einen Augenblick, dann stellte er sich ihm in den Weg. Der Unsichtbare fuhr zusammen und stand still. »Verräter!«, schrie die Stimme, und plötzlich öffnete sich der Schlafrock und der Unsichtbare begann sich zu entkleiden. Kemp erreichte mit drei Schritten die Tür, als der Unsichtbare mit einem lauten Ausruf aufsprang. Kemp riss die Tür auf.
Zugleich hörte man das Geräusch eilends sich nähernder Schritte und Stimmengewirr von unten.
Mit einer schnellen Bewegung warf Kemp den Unsichtbaren zurück, sprang beiseite und schlug die Tür hinter sich zu. Den Schlüssel hatte er schon früher von außen ins Schloss gesteckt. Im nächsten Augenblick wäre Griffin im Studierzimmer gefangen gewesen – hätte sich nicht ein geringfügiger Umstand ereignet. Der Schlüssel war am Morgen hastig hineingeschoben worden. Als Kemp die Tür zuschlug, fiel er auf den Teppich.
Kemp wurde kreideweiß. Mit beiden Händen umklammerte er die Türklinke. Einen Augenblick hielt er sie fest zu. Dann gab sie sechs Zoll weit nach. Aber es gelang ihm, sie wieder zu schließen. Das zweite Mal öffnete sie sich einen Fuß weit und der Schlafrock zwängte sich in die Öffnung. Unsichtbare Finger umklammerten seinen Hals, sodass er die Türklinke loslassen musste, um sich zu verteidigen. Er wurde zurückgedrängt und mit Gewalt in einen Winkel des Ganges geschleudert. Der Schlafrock flog über ihn hinweg. In der Mitte der Treppe stand der Empfänger von Kemps Brief, Oberst Adye, Chef der Polizei in Burdock. Verblüfft starrte er auf das plötzliche Erscheinen Kemps und den außergewöhnlichen Anblick von leer durch die Luft fliegenden Kleidern. Er sah, wie Kemp niedergeworfen wurde und sich wieder zu erheben suchte. Er sah ihn vorwärts eilen und dann wuchtig zusammenstürzen.
Dann erhielt er plötzlich selbst einen heftigen Stoß. Durch ein Nichts! Es schien, als ob ein schweres Gewicht sich auf ihn lege und er wurde kopfüber die Treppe hinunterbefördert. Ein unsichtbarer Fuß trat auf seinen Rücken, geisterhafte Fußtritte gingen die Treppe hinab, er hörte die beiden Schutzmänner in der Halle laut schreien und die Haustür heftig zuschlagen. Ganz verwirrt setzte er sich auf. Er sah, wie Kemp mit blutenden Lippen und geschwollenem Gesicht, einen roten Schlafrock im Arme, die Treppe herunterwankte.
»Mein Gott!«, rief Kemp, »das Spiel ist aus! Er ist fort!«
Es dauerte geraume Zeit, ehe es Kemp gelang, Adye den Verlauf der Ereignisse der letzten Minuten zu erklären. Sie standen auf dem Gange und Kemp sprach schnell und hastig. Endlich begann Adye die Lage zu begreifen.
»Er ist wahnsinnig!«, sagte Kemp. »Er ist der verkörperte Egoismus, ohne eine Spur menschlichen Fühlens. Er denkt an nichts, als an seinen eigenen Vorteil, seine eigene Sicherheit. Ich habe heute Morgen eine Geschichte solch brutaler Selbstsucht mit angehört … Er hat Menschen verwundet. Er wird morden, wenn wir ihn nicht daran hindern können. Er wird eine Panik verbreiten. Nichts kann ihn aufhalten. Jetzt geht er los – wütend!«
»Wir müssen ihn fangen«, sagte Adye, »das ist gewiss.«
»Aber wie?«, rief Kemp und entwickelte einen plötzlichen Ideenreichtum. »Sie müssen sofort beginnen, Sie müssen jeden verfügbaren Mann dazu verwenden und ihn hindern, die Gegend zu verlassen. Sobald er einmal fort ist, wird er mordend und verwundend durch das Land ziehen. Er träumt von einer Schreckensherrschaft. Einer Schreckensherrschaft, sage ich Ihnen. Sie müssen die Bahnlinien, die Straßen und die auslaufenden Schiffe bewachen lassen. Die Garnison muss helfen. Sie müssen um Hilfe telegrafieren. Das einzige, was ihn vielleicht hier halten kann ist die fixe Idee, wieder in Besitz einiger Notizbücher zu gelangen, die er für wertvoll hält. Ich werde Ihnen das später erzählen. Auf der Polizeistation befindet sich ein Mann, namens Marvel.«
»Ich weiß es«, sagte Adye. »Diese Bücher – ja. Aber der Landstreicher …«
»Sagt, er habe sie nicht. Aber er glaubt doch, dass sie der Landstreicher hat. Und man muss ihn am Essen und Schlafen hindern. – Tag und Nacht muss die Gegend nach ihm durchsucht werden. Alle Lebensmittel müssen eingesperrt und in Sicherheit gebracht werden, überhaupt jede Nahrung, sodass er Gewalt anwenden muss, um dazu zu gelangen. Die Häuser müssen verrammelt werden. Der Himmel sende uns kalte Nächte und Regen! Das ganze Land muss die Jagd aufnehmen. Ich sage Ihnen, Adye, er ist eine Gefahr, ein Unglück – bevor er gefangen und in Sicherheit gebracht ist, kann man nur mit Schrecken an die Dinge denken, die geschehen können.«
»Was könnten wir sonst noch tun?«, sagte Adye. »Ich muss die Organisation sofort in die Hand nehmen. Aber wollen Sie nicht mitkommen? Ja – kommen Sie doch auch! Kommen Sie, wir müssen eine Art Kriegsrat halten – an die Bahnstationen telegrafieren. Bei Gott, das ist dringend. Kommen Sie, wir können im Gehen sprechen. Was könnten wir noch tun?«
Im nächsten Augenblick gingen sie die Treppe hinab. Sie fanden das Haustor offen und die Polizisten draußen vor sich hinstarren. »Er ist fort, Herr!«, sagte der eine.
»Wir müssen sofort auf die Hauptwache!«, erwiderte Adye, »einer von euch muss einen Wagen holen – schnell. Und jetzt, Kemp, was noch?«
»Hunde!«, sagte Kemp, »verschaffen Sie sich Hunde. Sie sehen ihn nicht, aber sie spüren ihn auf.«
»Gut!«, meinte Adye. »Hunde. Was noch?«
»Vergessen Sie nicht«, sagte Kemp, »dass seine Nahrung sichtbar bleibt. Wenn er gegessen hat, sieht man die Speisen, bis sie assimiliert sind. So muss er sich verbergen, nachdem er gegessen hat. Sie müssen fortwährend nach ihm suchen. In jedem Dickicht, in jedem ruhigen Winkel. Und lassen Sie alle Waffen – alle Werkzeuge, die als Waffe verwendet werden könnten, wegschaffen. Er kann solche Sachen nicht lange tragen, und was er zufällig finden könnte, um damit zu verletzen, muss verborgen werden.«
»Auch gut«, sagte Adye. »Wir werden ihn doch noch fangen!«
»Und auf den Straßen – –« sagte Kemp und zögerte.
»Ja?«, fragte Adye.
»Glassplitter«, fuhr Kemp fort. »Es ist grausam, ich weiß es. Aber bedenken Sie, was er tun könnte!«
Adye blies die Luft durch die Zähne. »Das ist unmenschlich. Ich weiß wirklich nicht, ob ich das zugeben kann. Aber ich werde Glassplitter bereithalten, wenn er zu weit geht.«
»Der Mann ist ein Ungeheuer, sage ich Ihnen«, versicherte Kemp. »Ich weiß so bestimmt, dass er seine Schreckensherrschaft beginnen wird – sobald er die Aufregung über seine Flucht einmal überwunden hat – als ich weiß, dass ich mit Ihnen spreche. Unsere einzige Rettung ist, ihm zuvorzukommen. Er hat sich selbst von der Menschheit losgesagt. Sein Blut komme über sein Haupt.«
Der Unsichtbare scheint in einem Zustand blinder Wut aus dem Hause Kemps geflohen zu sein. Ein kleines Kind, das in der Nähe des Tores spielte, war heftig angepackt und beiseite geschleudert worden, sodass es den Knöchel brach, und nachher verschwand er für einige Stunden vollkommen. Niemand weiß, wohin er ging oder was er tat. Aber man kann sich vorstellen, wie er an dem heißen Junitag den Hügel hinauf nach der offenen Düne hinter Port Burdock eilte, voll Grimm sein Schicksal verfluchend, bis er endlich erhitzt und müde in den Wäldern von Hintondean eine Zuflucht suchte, um wieder neue Pläne gegen seine Mitmenschen zu schmieden.
Wie dem aber auch sei, gegen Mittag verschwand er aus dem Gesichtskreis der Menschen, und keine lebende Seele kann sagen, was er bis gegen halb 3 Uhr getan hat. Vielleicht war es ein Glück für die Menschheit, aber für ihn selbst sollte diese Untätigkeit unheilvoll werden.
Während dieser Zeit war eine immer mehr wachsende Menschenmenge in der ganzen Gegend geschäftig. Am Morgen war er noch eine bloße Mythe, ein Gegenstand des Schreckens gewesen; am Nachmittag wurde er in einer trockenen Proklamation Kemps als ein greifbarer Gegner hingestellt, der verwundet, gefangen und überwunden werden konnte. Und die ganze Gegend begann sich mit unfassbarer Schnelligkeit zu organisieren. Selbst um 2 Uhr noch hätte er mittels eines Zuges die Gegend verlassen können, nach 2 Uhr aber wurde auch dies unmöglich, denn alle Personenzüge in der ganzen Gegend fuhren mit versperrten Koupeetüren und der Güterverkehr war fast ganz eingestellt. Und in einem Umkreis von 20 Meilen brachen Gruppen von drei oder vier Männern, die mit Flinten und Knütteln bewaffnet waren, in Begleitung von Hunden auf, um Straßen und Felder zu durchsuchen.
Berittene Wachleute sprengten die Landstraßen entlang, hielten bei jedem Hause an und forderten die Bewohner auf, ihre Häuser zuzuschließen und sich innerhalb derselben zu halten, wenn sie nicht bewaffnet wären. Die Volksschulen wurden um 3 Uhr geschlossen und die Kinder eiligst nach Hause geschickt. Kemps Aufruf, der von Adye unterzeichnet war, war um 4 oder 5 Uhr nachmittags in der ganzen Gegend angeschlagen. Und so schnell und entschieden handelten die Behörden, so rasch und allgemein verbreitete sich der Glaube an jenes seltsame Wesen, dass noch vor Einbruch der Nacht eine Gegend von mehreren hundert Quadratmeilen Ausdehnung wie in Belagerungszustand versetzt war.
Mittlerweile wurde der Verwalter Lord Burdocks, Mr. Wicksteed, erschlagen aufgefunden.
Wenn unsere Voraussetzung, dass der Unsichtbare in den Wäldern von Hintondean eine Zuflucht gesucht hatte, richtig ist, so müssen wir annehmen, dass er am Nachmittag wieder aufbrach und einen Plan erwog, der den Gebrauch einer Waffe nötig machte. Wir können nicht wissen, welches dieser Plan war, aber die Tatsache, dass er die Eisenstange in der Hand trug, bevor er Wicksteed traf, ist immerhin überzeugend.
Natürlich kennen wir die Einzelheiten der Begegnung nicht. Es war im Dickicht am Rande einer Kiesgrube, nicht zweihundert Schritte von Lord Burdocks Parktor entfernt. Alles deutet auf einen verzweifelten Kampf hin, der zertretene Boden, die zahlreichen Wunden, die der Körper Mr. Wicksteeds aufwies, sein zersplitterter Spazierstock; aber warum der Angriff geschah, wenn nicht aus purer Mordlust, ist schwer zu begreifen. Es ist tatsächlich fast unvermeidlich, an Wahnsinn zu glauben. Mr. Wicksteed, der Verwalter Lord Burdocks, war ein Mann von etwa 55 Jahren und so friedfertig von Natur und Gewohnheiten, dass er der letzte gewesen wäre, einen so fürchterlichen Gegner zu reizen oder herauszufordern. Es scheint, dass der Unsichtbare aus einem eisernen Gitter eine Stange herausgebrochen hatte und diese als Waffe verwendete. Er trat dem ruhig zu seinem Mittagessen nach Hause gehenden Mann in den Weg, schlug ihn, der sich nur schwach verteidigte, nieder und zerschmetterte ihm das Haupt.
Er muss ja, natürlich, die Stange aus dem Gitter gerissen haben, ehe er seinem Opfer begegnete – muss sie schon zur Hand gehabt haben. Nur zwei Einzelheiten außer den schon genannten scheinen von Belang. Erstens, dass die Kiesgrube nicht an Mr. Wicksteeds Heimweg, sondern fast ein paar hundert Schritte entfernt lag. Und zweitens die Behauptung eines kleinen Mädchens, dass sie auf ihrem Weg zur Schule nachmittags den Ermordeten in einer ganz merkwürdigen Weise über einen Acker der Kiesgrube zu stapfen sah. So, wie sie seine Art zu gehen nachmachte, muss man auf den Gedanken kommen, dass der Mann irgend etwas vor sich auf der Erde verfolgte und dann und wann mit seinem Spazierstock danach schlug. Die Kleine war die letzte, die ihn lebend sah. Er entschwand ihren Blicken, um seinem Tod entgegenzugehen, und nur eine Gruppe von Buchen und eine leichte Bodensenkung entzog den Kampf ihren Augen.
Dies könnte vielleicht zu einer Art Erklärung des sonst zwecklos scheinenden Mordes dienen. Man könnte sich vorstellen, dass Griffin die Stange allerdings als Waffe genommen hat, jedoch ohne die bestimmte Absicht, einen Mord zu begehen. Wicksteed mag dann vorübergekommen sein und die Stange, die sich auf so unerklärliche Weise durch die Luft bewegte, gesehen haben. Ohne überhaupt eine Ahnung von dem Unsichtbaren zu haben – denn Port Burdock liegt zehn Meilen weit von dort –, mag er sie verfolgt haben. Es ist ganz denkbar, dass er nichts von dem Unsichtbaren gehört hatte. Dieser hatte sich vielleicht – um seine Anwesenheit in der Nachbarschaft nicht zu verraten – ruhig davonmachen wollen, und Wicksteed hatte voller Neugier und Erregung den so unerklärlich sich bewegenden Gegenstand verfolgt und schließlich nach ihm geschlagen.
Unter gewöhnlichen Umständen hätte der Unsichtbare zweifellos seinem nicht mehr jungen Verfolger ausweichen können; aber die Lage, in der Wicksteeds Leichnam gefunden wurde, deutet darauf hin, dass er das Unglück hatte, seine Beute in einen Winkel zwischen einem Brennesseldickicht und der Kiesgrube zu treiben. Für jeden, der die außerordentliche Reizbarkeit des Unsichtbaren in Betracht zieht, wird das übrige des Zusammentreffens leicht begreiflich sein.
Es ist dies jedoch eine bloße Hypothese. Die einzige unleugbare Tatsache – denn was Kinder erzählen, ist häufig wenig zuverlässig – ist die Entdeckung von Wicksteeds Leichnam und der blutigen Eisenstange, die in den Brennesseln lag. Dass Griffin die Eisenstange wegwarf, lässt auf die Vermutung kommen, dass er – in der Gemütserregung jenes Ereignisses – die Absicht, in der er sie an sich gerissen hatte – wenn überhaupt eine bestimmte Absicht vorlag – aufgab. Gewiss war er ein unendlich selbstsüchtiger und gefühlloser Mensch; aber der Anblick seines Opfers, seines ersten Opfers, das da blutend und jammervoll zu seinen Füßen lag, mag doch eine lang zurückgedämmte Quelle von Gewissensbissen entfesselt haben, die, wenigstens vorübergehend, alle Pläne, die er vorgehabt hatte, wegschwemmte.
Nach diesem Mord scheint er das Land in der Richtung gegen die Düne durchwandert zu haben. Einige Leute wissen von einer Stimme zu erzählen, die sie auf einem Feld in der Nähe von Fern-Bottom hörten. Sie weinte und lachte, seufzte und stöhnte, und hie und da hörte man einen wilden Schrei. Hinter einem Berge verhallte sie.
In der Zwischenzeit muss der Unsichtbare gewahr geworden sein, welch schnellen Gebrauch Kemp von seinen vertraulichen Mitteilungen gemacht hatte. Er muss die Häuser versperrt und befestigt gefunden haben, er mag nach den Eisenbahnstationen und Wirtshäusern geschlichen sein, wo er zweifellos die Bekanntmachung las und sich über die Natur des Feldzuges, den man gegen ihn führte, klar wurde. Und wie der Abend hereinbrach, tauchten hie und da auf den Feldern Gruppen von drei oder vier Männern, in Begleitung von kläffenden Hunden, auf. Diese Jäger hatten für den Fall einer Begegnung mit ihm besondere Weisungen erhalten, wie sie einander beistehen könnten. Aber er wich ihnen allen aus. Wir können seine Verzweiflung begreifen, und sie mag durch das Bewusstsein, dass er selbst die Handhabe zu einer so grausamen Jagd gegen sich geboten hatte, nicht verringert worden sein. Einen Tag lang verlor er den Mut; durch vierundzwanzig Stunden war er außer im Kampf gegen Wicksteed wie ein gehetztes Wild. In der Nacht muss er gegessen und geschlafen haben, denn am Morgen war er wieder er selbst, tätig, energisch, rachsüchtig und bereit, seinen letzten großen Kampf gegen die Welt aufzunehmen.