Buch lesen: «H. G. Wells – Gesammelte Werke», Seite 14

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V. Die Stille

Mei­ne ers­te Hand­lung, be­vor ich in die Spei­se­kam­mer ging, war die Tür zwi­schen Kü­che und Wasch­kam­mer zu schlie­ßen. Doch die Spei­se­kam­mer war leer; je­der Bis­sen Es­sen war ver­schwun­den. Of­fen­bar hat­te der Mars­mann am vor­her­ge­hen­den Tag al­les fort­ge­nom­men. Bei die­ser Ent­de­ckung er­fass­te mich zum ers­ten Mal die Verzweif­lung. We­der am elf­ten noch am zwölf­ten Tage ge­noss ich Spei­se und Trank.

Erst trock­ne­ten mir Mund und Keh­le völ­lig aus, und mei­ne Kräf­te nah­men merk­lich ab. Ich saß hilf­los in der Dun­kel­heit der Wasch­kam­mer in ei­nem Zu­stand mut­lo­sen Elends. Mei­ne Ge­dan­ken be­schäf­tig­ten sich un­aus­ge­setzt mit dem Es­sen. Ich glaub­te, taub ge­wor­den zu sein, denn die ge­schäf­ti­gen Geräusche, die ich von der Gru­be her zu hö­ren ge­wohnt war, hat­ten voll­stän­dig auf­ge­hört. Ich fühl­te mich nicht stark ge­nug, um ge­räusch­los zum Guck­loch zu krie­chen; ich hät­te es sonst ge­wiss ge­tan.

Am zwölf­ten Tage schmerz­te mich mein Hals der­art, dass ich selbst auf die Ge­fahr hin, die Auf­merk­sam­keit der Mars­leu­te auf mich zu len­ken, mich auf die knar­ren­de Re­gen­was­ser­pum­pe stürz­te, die ne­ben der Senk­gru­be stand, und mir ein paar Glas voll ge­schwärz­ten und schmut­zi­gen Re­gen­was­sers ver­schaff­te. Ich füh­le mich nun über­aus er­frischt und durch die Tat­sa­che er­mu­tigt, dass kein spü­ren­der Ten­ta­kel dem Geräusch folg­te, das ich beim Pum­pen mach­te.

Wäh­rend die­ser Tage muss­te ich viel an den Ku­ra­ten und an die Art sei­nes To­des den­ken; aber mei­ne Ge­dan­ken wa­ren un­klar und hat­ten nur we­nig Zu­sam­men­hang.

Am drei­zehn­ten Tage trank ich wie­der et­was Was­ser und mach­te mir aben­teu­er­li­che Ge­dan­ken über Es­sen und alle mög­li­chen und un­mög­li­chen Flucht­plä­ne. So oft ich ein­sch­lief, quäl­ten mich furcht­ba­re Wahn­vor­stel­lun­gen, ein­mal vom Tod des Ku­ra­ten, dann wie­der von üp­pi­gen Ge­la­gen. Aber wa­chend und schla­fend emp­fand ich einen hef­ti­gen Schmerz, der mich zwang, im­mer wie­der zu trin­ken. Das Licht, das jetzt in den Wasch­raum drang, war nicht mehr grau, son­dern rot. Mei­ner ver­wirr­ten Ein­bil­dungs­kraft schi­en es die Far­be des Blu­tes.

Am vier­zehn­ten Tage ging ich in die Kü­che und sah zu mei­ner Über­ra­schung, dass die Zwei­ge des ro­ten Ge­wäch­ses ge­ra­de über die Mau­er­öff­nung ge­wach­sen wa­ren und so das Däm­mer­licht des Rau­mes in eine kar­me­sin­ro­te Fins­ter­nis ver­wan­delt hat­ten.

Früh­mor­gens am fünf­zehn­ten Tage hör­te ich eine selt­sa­me, aber ver­trau­te Auf­ein­an­der­fol­ge von Lau­ten in der Kü­che, und auf­hor­chend er­kann­te ich das Schnüf­feln und Schar­ren ei­nes Hun­des. Als ich in die Kü­che ging, sah ich die Nase ei­nes Hun­des, wie sie an ei­ner Mau­er­lücke durch die röt­li­chen Zwei­ge her­ein­schnüf­fel­te. Das über­rasch­te mich au­ßer­or­dent­lich. Als der Hund mich wit­ter­te, bell­te er kurz auf.

Wenn ich ihn be­we­gen könn­te, lei­se her­ein­zu­kom­men, so hoff­te ich fä­hig zu sein, ihn viel­leicht zu tö­ten und zu ver­zeh­ren. Auf alle Fäl­le aber wäre es ge­ra­ten ge­we­sen, ihn um­zu­brin­gen, da­mit sei­ne Be­we­gun­gen nicht die Auf­merk­sam­keit der Mars­leu­te auf mich zie­hen konn­ten.

Ich schlich mich zu ihm und rief schmei­chelnd: »Gu­ter Hund!« Er aber zog auf der Stel­le sei­nen Kopf zu­rück und ver­schwand.

Ich lausch­te — ich war ja nicht taub — aber, da war kein Zwei­fel mög­lich, die Gru­be war still. Ich ver­nahm Lau­te, wie das Flat­tern von Vo­gel­schwin­gen und ein hei­se­res Kräch­zen, und das war al­les.

Lan­ge Zeit lag ich dicht am Guck­loch, aber ich wag­te nicht, die ro­ten Pflan­zen zur Sei­te zu drän­gen, die es ver­dun­kel­ten. Ein oder zwei Mal hör­te ich ein lei­ses Ge­trip­pel von den Fü­ßen des Hun­des, der tief un­ter mir auf dem Sand hin- und her­lief, dann wie­der Geräusche, die von Vö­geln her­rühr­ten, aber das war al­les. End­lich, er­mu­tigt durch die an­hal­ten­de Stil­le, blick­te ich hin­aus.

Au­ßer in der Ecke, wo eine Men­ge von Krä­hen um­her­hüpf­ten und sich um die Ge­rip­pe der To­ten zank­ten, wel­che die Mars­leu­te ver­zehrt hat­ten, war kein le­ben­des We­sen in der Gru­be zu se­hen.

Ich starr­te um mich und trau­te kaum mei­nen Au­gen. Sämt­li­che Ma­schi­nen wa­ren ver­schwun­den. Ab­ge­se­hen von dem großen Hü­gel gräu­lich­blau­en Pul­vers in ei­ner Ecke, ei­ner An­zahl Alu­mi­ni­um­stan­gen in ei­ner an­de­ren, den schwar­zen Vö­geln und den Ge­rip­pen der Ge­mor­de­ten, war der gan­ze Platz nichts als eine lee­re kreis­run­de Sand­gru­be.

Ich ließ mich lang­sam durch das rote Ge­strüpp hin­ab­glei­ten und stand jetzt auf dem Schutt­hau­fen. Au­ßer hin­ter mich nach Nor­den konn­te ich in jede Rich­tung bli­cken. Und weit und breit war we­der ein Mars­mann noch das An­zei­chen ei­nes Mars­man­nes zu er­bli­cken. Zu mei­nen Fü­ßen fiel die Gru­be jäh ab; aber als ich et­was wei­ter­ging, fand ich auf dem Ge­röll einen ganz leid­li­chen Weg, auf dem ich zum Gip­fel des Trüm­mer­hau­fens ge­lan­gen konn­te. Die Ge­le­gen­heit zu flie­hen war ge­kom­men. Ich be­gann zu zit­tern.

Ich zö­ger­te ei­ni­ge Zeit und in ei­ner wil­den Auf­wal­lung von ver­zwei­fel­ter Ent­schlos­sen­heit, mit hef­tig klop­fen­dem Her­zen, klet­ter­te ich auf die Spit­ze des Schutt­hau­fens, un­ter dem ich so lan­ge be­gra­ben ge­we­sen war.

Wie­der blick­te ich rings um mich. Auch nach Nor­den zu war kein Mars­mann zu se­hen.

Als ich zu­letzt im vol­len Ta­ges­licht die­sen Teil von Sheen ge­se­hen hat­te, da war er eine Stra­ße zer­streut lie­gen­der und be­hag­li­cher wei­ßer und ro­ter Häu­ser ge­we­sen, um­pflanzt von üp­pi­gen, schat­ti­gen Bäu­men. Jetzt stand ich auf ei­nem Hau­fen zer­schell­ten Zie­gel­werks, Lehms und Kie­sels, über den eine Un­men­ge ro­ten kak­tus­ar­ti­gen Ge­wäch­ses wu­cher­te. Es wuchs in Knie­hö­he, und nicht eine ein­zi­ge ir­di­sche Pflan­ze mach­te ihm den Bo­den strei­tig. Die Bäu­me in mei­ner Nähe wa­ren er­stor­ben und braun, aber wei­ter­hin um­zün­gel­te ein Netz­werk ro­ter Fä­den die noch le­ben­den Stäm­me.

Die be­nach­bar­ten Häu­ser wa­ren alle zer­stört wor­den, kei­nes aber war nie­der­ge­brannt. Die Mau­ern stan­den bis­wei­len noch bis zum zwei­ten Stock­werk, aber die Fens­ter wa­ren alle zer­schmet­tert und die Tore zer­trüm­mert. Das rote Ge­wächs wu­cher­te üp­pig in den dach­lo­sen Stu­ben. Un­ter mir wa­ren die große Gru­be und die Krä­hen, die um die Ab­fäl­le zank­ten. Eine An­zahl an­de­rer Vö­gel hüpf­te zwi­schen den Trüm­mern um­her. Wei­ter weg sah ich eine aus­ge­mer­gel­te Kat­ze, die eine Mau­er ent­lang­sch­lich, von Men­schen aber war nir­gends eine Spur zu ent­de­cken.

Der Tag schi­en, im Ge­gen­satz zu mei­ner eben über­stan­de­nen Ein­ker­ke­rung, blen­dend hell, der Him­mel strahl­te in un­ge­trüb­tem Blau. Ein sanf­tes Lüft­chen hielt das rote Ge­wächs, das je­des Stück­chen un­be­nütz­ten Bo­dens be­deck­te, in sanf­ter Be­we­gung. Und wel­ches Ent­zücken war es mir, wie­der fri­sche Luft zu at­men!

VI. Das Werk von fünfzehn Tagen

Eine Zeit lang stand ich wan­kend auf dem Hü­gel, ohne an mei­ne Si­cher­heit zu den­ken. Als ich noch in je­ner wi­der­wär­ti­gen Höh­le lag, aus der ich eben her­aus­ge­kom­men war, hat­te ich alle mei­ne Sin­ne nur dar­auf ge­rich­tet, mich über­haupt nur zu ret­ten. Das, was in der Welt vor­ge­gan­gen war, hat­te ich nicht in Er­wä­gung ge­zo­gen, noch hat­te ich den sinn­ver­wir­ren­den An­blick die­ser völ­lig un­be­kann­ten Er­schei­nun­gen er­war­ten kön­nen. Ich war dar­auf vor­be­rei­tet, Sheen in Trüm­mern zu se­hen — aber was ich jetzt sah, war die un­heim­li­che und düs­te­re Land­schaft ei­nes an­de­ren Pla­ne­ten.

In die­sem Au­gen­blick wur­de ich von ei­ner Emp­fin­dung be­wegt, die sonst au­ßer­halb des Be­wusst­seins der Men­schen liegt, die aber die ar­men Tie­re, die wir be­herr­schen, nur zu gut ken­nen. Mir war zu Mute wie ei­nem Ka­nin­chen, das in sein Erd­loch schlüpft und sich nun plötz­lich ei­nem Dut­zend ge­schäf­ti­ger Ar­bei­ter ge­gen­über­sieht, die den Grund zu ei­nem Haus gra­ben. Ich merk­te die ers­ten An­zei­chen ei­nes Ge­fühls, das sich bald in großer Klar­heit mei­nem Geist mit­teil­te und mich vie­le Tage lang be­drücken soll­te: das Ge­fühl der Ent­thro­nung, die Über­zeu­gung, dass ich nicht län­ger ein Herr, son­dern ein Tier un­ter Tie­ren, un­ter der Fer­se der Mars­leu­te sei. Uns wür­de es nun ge­hen wie je­nen; wir muss­ten jetzt lau­ern und spä­hen, lau­fen und uns ver­ste­cken; die Macht des Men­schen und sei­ne Fä­hig­keit, Furcht ein­zu­flö­ßen, wa­ren von ihm ge­nom­men.

Aber die­se selt­sa­men Vor­stel­lun­gen gin­gen so schnell vor­über, wie sie sich ge­bil­det hat­ten, und mein al­les be­herr­schen­des Ge­fühl war nach mei­ner lan­gen und trost­lo­sen Fas­ten­zeit der Hun­ger. In der Rich­tung, die von der Gru­be weg­führ­te, er­blick­te ich jen­seits ei­ner rot­be­wach­se­nen Mau­er ein Fleck­chen Gar­ten­grund, das nicht ver­schüt­tet war. Das war mir ein Fin­ger­zeig und ich ar­bei­te­te mich durch, knie­tief, manch­mal bis zum Hals ins rote Ge­wächs ver­strickt. Die Dich­te die­ses Ge­strüpps gab mir das trost­rei­che Ge­fühl, mich im Not­fall ver­ber­gen zu kön­nen. Die Mau­er war etwa sechs Fuß hoch, und als ich ver­such­te, sie zu er­klet­tern, sah ich, dass ich mich nicht auf ih­ren Rand hin­auf­schwin­gen konn­te. So ging ich nun an der Mau­er ent­lang, und ge­lang­te zu ei­ner Ecke, wo ein Stein­hau­fen es mir er­mög­lich­te, hin­auf­zu­klim­men und in den Gar­ten hin­ab­zuglei­ten. Ich fand ei­ni­ge jun­ge Zwie­bel, ein paar Gla­dio­len­knol­len und eine An­zahl un­rei­fer Rü­ben, die ich alle zu­sam­men­raff­te. Dann stieg ich über eine ge­bors­te­ne Mau­er hin­weg und ver­folg­te un­ter schar­lach- und kar­me­sin­ro­ten Bäu­men mei­nen Weg wei­ter nach Kew. Es war mir, als gin­ge ich auf ei­ner Stra­ße von rie­si­gen Bluts­trop­fen. Von zwei Ge­dan­ken war ich er­füllt: mir mehr Es­sen zu ver­schaf­fen und so bald und so weit mei­ne Kräf­te es mir er­laub­ten, aus die­sem fluch­be­la­de­nen, un­ir­di­schen Be­reich der Gru­be hin­aus­zu­kom­men.

Et­was wei­ter­hin fand ich auf ei­nem Gras­p­latz eine An­zahl Schwäm­me, die ich gleich­falls ver­schlang; aber die­se kar­ge Nah­rung diente nur dazu, mei­nen Hun­ger zu schär­fen. Dann stieß ich auf eine brau­ne Flä­che flie­ßen­den, seich­ten Was­sers, dort, wo sonst Wie­sen wa­ren. Erst war ich über die­se Über­schwem­mung in ei­nem hei­ßen, tro­ckenen Som­mer über­rascht, aber dann ent­deck­te ich, dass sie von der ge­ra­de­zu tro­pi­schen Üp­pig­keit des ro­ten Ge­wäch­ses her­rühr­te. So­bald die­se au­ßer­or­dent­li­che Wu­cher­pflan­ze Was­ser be­rühr­te, wuchs sie mit ei­ner un­ver­gleich­li­chen Frucht­bar­keit ins Rie­sen­haf­te. Ihre Sa­men wur­den ein­fach in das Was­ser des Wey und der Them­se ge­schüt­tet, und ihre mit rei­ßen­der Schnel­lig­keit wach­sen­den, ti­ta­ni­schen Zwei­ge ließ bei­de Flüs­se so­fort aus ih­ren Ufern tre­ten.

In Put­ney war die Brücke, wie ich spä­ter sah, in ei­nem Ge­wirr die­ses Un­krau­tes ganz ver­steckt und auch in Rich­mond er­gos­sen sich die Them­se­was­ser in ei­nem brei­ten und seich­ten Strom über die Wie­sen von Hamp­ton und Twi­cken­ham. Wie das Was­ser sich aus­brei­te­te, folg­te das Kraut ihm nach, bis die zer­stör­ten Land­häu­ser des Them­se­tals eine Zeit lang in die­sem ro­ten Mo­rast, des­sen Rand ich durch­such­te, ver­schwun­den wa­ren. Da­durch wur­de vie­les von dem Zer­stö­rungs­werk der Mars­leu­te ver­hüllt.

Schließ­lich aber ging die­ses rote Ge­wächs fast eben­so rasch ein, wie es sich aus­ge­brei­tet hat­te. Eine krebs­ar­ti­ge Krank­heit, die, wie man an­nimmt, in der Wir­kung ge­wis­ser Bak­te­ri­en be­grün­det ist, er­fass­te und zer­stör­te es. Durch das Ge­setz der na­tür­li­chen Zucht­wahl ha­ben alle ir­di­schen Pflan­zen eine ge­wis­se Wi­der­stands­kraft ge­gen Bak­te­ri­en­krank­hei­ten ge­won­nen — we­nigs­tens er­lie­gen sie ih­nen nie ohne hef­ti­gen Kampf. Aber das rohe Ge­wächs ver­faul­te wie eine schon er­stor­be­ne Pflan­ze. Die Zwei­ge ver­blass­ten, schrumpf­ten zu­sam­men und wur­den sprö­de. Bei der lei­ses­ten Berüh­rung bra­chen sie ab, und das Was­ser, das ihr frü­hes Wachs­tum so an­ge­feu­ert hat­te, trug ihre letz­ten Spu­ren ins Meer hin­aus.

Als ich zum Was­ser kam, war es selbst­ver­ständ­lich mein Ers­tes, mei­nen Durst zu lö­schen. Ich trank in vol­len Zü­gen, und, ei­ner plötz­li­chen Ein­ge­bung fol­gend, zer­biss ich ei­ni­ge Zwei­ge des ro­ten Ge­wäch­ses. Aber sie wa­ren wäss­rig und hat­ten einen gars­ti­gen, me­tal­li­schen Ge­schmack. Ich sah, dass das Was­ser seicht ge­nug war, um si­cher durch­wa­tet wer­den zu kön­nen, ob­wohl das rote Ge­wächs mei­ne Füße oft hin­der­te, fest auf­zu­tre­ten. Aber die Flut wur­de ge­gen den Fluss zu sicht­lich tiefer und ich muss­te wie­der in der Rich­tung nach Mort­la­ke um­keh­ren. Es ge­lang mir da­durch, dass ge­le­gent­li­che Trüm­mer von Land­häu­sern und He­cken und Lam­pen mir den Weg wie­sen, halb­wegs auf der Stra­ße zu blei­ben. So kam ich bald aus dem Über­schwem­mungs­ge­biet her­aus, ver­folg­te mei­nen Weg zu dem Hü­gel, der nach Roe­hamp­ton führt und ge­lang­te schließ­lich bei der Ge­mein­de­wie­se von Put­ney her­aus.

Hier war das Bild ver­än­dert: nicht mehr Fremd­ar­ti­ges und Selt­sa­mes, son­dern die Zer­stö­rung des Be­kann­ten, Ver­trau­ten; klei­ne Bo­den­stre­cken sa­hen aus, als hät­te ein Wir­bel­wind sie ver­wüs­tet. Hun­dert Schrit­te wei­ter traf ich auf völ­lig un­ver­sehr­te Stel­len, Häu­ser mit nett her­ab­ge­las­se­nen Vor­hän­gen und ver­schlos­se­nen Tü­ren, gleich­sam, als hät­ten die Ei­gen­tü­mer sie nur für einen Tag ver­las­sen oder als schlie­fen die Be­woh­ner noch drin. Das rote Ge­wächs war hier nicht mehr so üp­pig; die großen Bäu­me auf den Grasp­lät­zen wa­ren frei von der ro­ten Sch­ling­pflan­ze. Ich such­te un­ter den Bäu­men nach Nah­rung, ohne et­was zu fin­den, dann brach ich in ein paar stil­le Häu­ser ein, aber die wa­ren schon vor mir durch­stö­bert und aus- ge­plün­dert wor­den. Den üb­ri­gen Teil des Ta­ges blieb ich in ei­nem Ge­büsch, da mei­ne ge­schwäch­ten Kräf­te mir nicht er­laub­ten, wei­ter­zu­ge­hen.

Wäh­rend die­ser gan­zen Zeit sah ich kein mensch­li­ches We­sen, noch auch An­zei­chen von Mars­leu­ten. Ich be­geg­ne­te zwei hung­rig aus­se­hen­den Hun­den, aber bei­de lie­fen in wei­tem Bo­gen da­von, als ich ih­nen nä­her­kam. In der Nähe von Roe­hamp­ton sah ich zwei mensch­li­che Ge­rip­pe — nicht Lei­chen, son­dern rein­ge­nag­te Ge­rip­pe — und im Ge­hölz ne­ben mir stieß ich auf ge­bro­che­ne und ver­streut lie­gen­de Kno­chen ei­ni­ger Kat­zen und Ka­nin­chen und den Schä­del ei­nes Scha­fes. Aber als ich sie teil­wei­se zu be­na­gen be­gann, woll­te sich nichts Ge­nieß­ba­res dar­an fin­den.

Nach Son­nen­un­ter­gang schlepp­te ich mich auf der Stra­ße ge­gen Put­ney wei­ter, wo, wie ich glau­be, aus be­son­de­ren Grün­den der Hit­ze­strahl in An­wen­dung ge­kom­men sein muss­te. In ei­nem Gar­ten hin­ter Roe­hamp­ton fand ich eine An­zahl un­rei­fer Kar­tof­feln, hin­rei­chend, um mei­nen Hun­ger zu stil­len. Von die­sem Gar­ten aus konn­te man auf Put­ney und den Fluss hin­ab­se­hen. In der Däm­me­rung bot die­ser Ort ein Bild trost­lo­ses­ter Ver­wüs­tung; ge­schwärz­te Bäu­me, ge­schwärz­te, trau­ri­ge Mau­er­trüm­mer, und den Hü­gel ab­wärts die wei­ten Flä­chen des aus den Ufern ge­tre­te­nen Was­sers, von dem Mar­s­kraut rot ge­färbt. Und über al­lem — die große Stil­le. Ein un­be­schreib­li­ches Ent­set­zen kam über mich, als ich dach­te, wie schnell die­se trost­lo­se Ver­än­de­rung her­ein­ge­bro­chen war.

Eine Zeit lang glaub­te ich, dass die Mensch­heit ein­fach aus­ge­rot­tet, und dass ich nun ganz al­lein üb­rig ge­blie­ben sei, der letz­te, le­ben­de Mensch. Dicht am Gip­fel von Put­ney Hill stieß ich wie­der auf ein Ge­rip­pe, des­sen Arme ab­ge­trennt und ei­ni­ge Yard vom Kör­per ent­fernt la­gen.

Als ich wei­ter­ging, wur­de ich im­mer mehr und mehr über­zeugt, dass die Aus­rot­tung der Mensch­heit, von ei­ni­gen Ver­irr­ten, wie von mir ab­ge­se­hen, in die­sem Teil der Welt be­reits eine vollen­de­te Tat­sa­che war. Ich ver­mu­te­te, dass die Mars­leu­te fort­ge­gan­gen sei­en, das Land hin­ter sich ver­wüs­tet hät­ten und jetzt ir­gend­wo an­ders nach Nah­rung such­ten: viel­leicht wa­ren sie eben dar­an, Ber­lin oder Pa­ris zu zer­stö­ren, viel­leicht auch hat­ten sie sich nach Nor­den ge­wen­det.

VII. Der Mann auf Putney Hill

Ich ver­brach­te die­se Nacht in ei­nem Gast­hof, der auf der Spit­ze von Put­ney Hill steht. Seit mei­ner Flucht nach Lea­ther­head war es das ers­te Mal, dass ich in ei­nem ge­mach­ten Bett lag. Ich will mich nicht mit der Be­schrei­bung der un­nö­ti­gen Mühe, die ich hat­te, als ich ins Haus ein­drin­gen woll­te — spä­ter fand ich, dass das Tor gar nicht ver­schlos­sen war — noch da­mit auf­hal­ten, wie ich je­den Raum nach Le­bens­mit­teln durch­stö­ber­te, bis end­lich, als mei­ne Verzweif­lung das äu­ßers­te Maß er­reich­te, ich in ei­nem Ge­lass, das ich für ein Dienst­bo­ten­zim­mer hielt, eine rat­ten­zer­nag­te Brot­krus­te und zwei Büch­sen mit Ana­nas fand. Das Haus war of­fen­bar schon durch­sucht und aus­ge­plün­dert wor­den. Im Schan­kraum ent­deck­te ich spä­ter noch et­was Zwie­back und But­ter­bröt­chen, die über­se­hen wor­den wa­ren. Die­se konn­te ich nicht mehr ge­nie­ßen, jene aber still­ten nicht nur mei­nen Hun­ger, son­dern füll­ten auch mei­ne Ta­schen. Ich steck­te kein Licht an, da ich fürch­te­te, ein Mars­mann kön­ne in der Nacht die­sen Teil Lon­d­ons nach Nah­rung durch­su­chen. Ehe ich zu Bett ging, hat­te ich eine An­wand­lung von Rast­lo­sig­keit und has­te­te von ei­nem Fens­ter zum an­de­ren, um nach ei­nem An­zei­chen je­ner Un­ge­tü­me aus­zu­spä­hen. Ich schlief we­nig. Als ich im Bett lag, wur­de ich von ei­ner un­aus­ge­setz­ten Ge­dan­ken­ar­beit ge­pei­nigt — eine Er­schei­nung, von der, seit mei­nen Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit dem Ku­ra­ten, ich mich nicht er­in­ne­re, ge­quält wor­den zu sein. Wäh­rend die­ser gan­zen Zwi­schen­zeit be­stand mei­ne geis­ti­ge Ver­fas­sung in nichts an­de­rem als in ei­ner has­ten­den Auf­ein­an­der­fol­ge von un­be­stimm­ten Ge­fühls­zu­stän­den oder in ei­ner Art stump­fer Auf­nah­me­fä­hig­keit. In die­ser Nacht ge­wann mein Hirn, durch die Nah­rung, die ich zu mir ge­nom­men, wie ich ver­mu­te, ge­kräf­tigt, wie­der sei­ne frü­he­re Klar­heit und ich konn­te wie­der den­ken.

Drei Din­ge ran­gen in mei­nem Geist um die Herr­schaft: die Tö­tung des Ku­ra­ten, der Auf­ent­halts­ort und die Tä­tig­keit der Mars­leu­te, und das Schick­sal mei­ner Frau. Das ers­te rief in mir kein wie im­mer ge­ar­te­tes Ge­fühl von Ent­set­zen oder Reue wach; ich nahm es ein­fach als eine ge­sche­he­ne Tat­sa­che hin, als eine un­säg­lich pein­li­che Erin­ne­rung, aber völ­lig ohne die Merk­ma­le der Reue. Ich be­ur­teil­te mich, da­mals, wie ich mich jetzt be­ur­tei­le, Schritt für Schritt zu je­ner schnel­len Tat ge­trie­ben, als das Ge­schöpf ei­ner Rei­he von Zu­fäl­len, die un­ver­meid­lich zu je­nem Ab­schluss hin­lei­te­ten. Ich hielt mich nicht für ver­dam­mens­wert; den­noch aber las­te­te die Erin­ne­rung dar­an auf mir, ste­tig, un­ver­rück­bar. In der Stil­le der Nacht, mit je­nem Ge­fühl der Nähe zu Gott, das einen manch­mal in der Stil­le und in der Dun­kel­heit über­kommt, be­stand ich mein Ver­hör, mein ein­zi­ges Ver­hör we­gen je­nes Au­gen­blickes der Wut und der Angst. Ich rief mir je­des Wort un­se­rer Un­ter­re­dung ins Ge­dächt­nis zu­rück, von je­nem Au­gen­blick an, als ich ihn zu­sam­men­ge­kau­ert ne­ben mir fand, als er, mei­nes Durs­tes nicht ach­tend, nach dem Feu­er und dem Rauch wies, der aus den Trüm­mern von Wey­bridge auf­stieg. Zu ge­mein­sa­mer Mit­ar­beit wa­ren wir un­fä­hig ge­we­sen — der grim­mi­ge Zu­fall aber hat­te sich nicht dar­um ge­küm­mert. Hät­te ich in die Zu­kunft bli­cken kön­nen, hät­te ich ihn in Hal­li­ford ge­las­sen! Aber ich konn­te nicht vor­her­se­hen, was kam. Ver­bre­chen aber ist, vor­her­se­hen und doch tun. Und ich schrei­be das nie­der, wie ich die­se gan­ze Ge­schich­te nie­der­ge­schrie­ben habe, so wie sie war. Ich hat­te kei­ne Zeu­gen — ich hät­te alle die­se Din­ge ver­heim­li­chen kön­nen. Aber ich schrei­be sie nie­der und der Le­ser mag sich nach sei­nem Gut­dün­ken sein Ur­teil bil­den.

Als ich mich dann auf­raff­te, um das Bild je­nes hin­ge­streck­ten Kör­pers aus mei­ner See­le zu ban­nen, fass­te ich wie­der die schwe­ren Fra­gen ins Auge, die ich mir über die Mars­leu­te und über das Schick­sal mei­ner Frau stell­te. Für bei­des hat­te ich kei­ne An­halts­punk­te; ich konn­te mir hun­dert ver­schie­de­ne Vor­stel­lun­gen ma­chen, so­wohl über die Mars­leu­te, als, un­se­lig ge­nug, auch über mei­ne Frau. Und ganz plötz­lich wur­de mir die­se Nacht zu ei­ner Nacht des Schre­ckens. Ich fand mich in mei­nem Bett auf­sit­zend und starr­te in die Fins­ter­nis hin­ein. Ich hör­te mich be­ten, dass der Hit­ze­strahl sie un­ver­mu­tet und schmerz­los aus die­sem Le­ben neh­me. Seit je­ner Nacht mei­ner Rück­kehr aus Lea­ther­head hat­te ich nicht mehr ge­be­tet. Ich hat­te Stoß­ge­be­te ge­stam­melt, Fe­tisch­ge­be­te, hat­te ge­be­tet, wie Hei­den Be­schwö­rungs­zau­ber­for­meln mur­meln, als ich in äu­ßers­ter Ge­fahr schweb­te. Jetzt aber be­te­te ich wirk­lich, in­brüns­tig und bei vol­ler Be­sin­nung, fleh­te von An­ge­sicht zu An­ge­sicht in der Dun­kel­heit Got­tes. Selt­sa­me Nacht! Am selt­sams­ten dar­in, dass, so­bald der Tag grau­te, ich, der mit Gott ge­spro­chen hat­te, aus dem Haus schlich, wie eine Rat­te, die ihr Ver­steck ver­lässt — ein Ge­schöpf, kaum grö­ßer als sie, ein nied­ri­ges Tier, ein Ding, das die flüch­ti­ge Lau­ne un­se­rer Meis­ter ja­gen und tö­ten konn­te. Vi­el­leicht be­te­ten auch jene ver­trau­ens­voll zu Gott. Wahr­lich, wenn wir nichts an­de­res ge­lernt ha­ben, die­ser Krieg hat uns Er­bar­men ge­lehrt, Er­bar­men mit je­nen ver­nunft­lo­sen Ge­schöp­fen, die un­ter un­se­rer Herr­schaft lei­den.

Der Mor­gen war hell und schön; der öst­li­che Him­mel glüh­te in ro­sen­ro­ter Far­be und war mit klei­nen gol­de­nen Wol­ken über­sät. Auf der Stra­ße, die von Put­ney Hill nach Wim­ble­don führt, sah ich zahl­rei­che, jam­mer­vol­le Spu­ren je­nes Stur­mes von Angst, der in der Sonn­tags­nacht nach der Er­öff­nung des Krie­ges in der Rich­tung nach Lon­don ge­braust war. Ich sah einen klei­nen, zwei­räd­ri­gen Kar­ren, auf dem der Name »Tho­mas Lobb, Ge­mü­se­händ­ler, New Wal­den« stand, mit ei­nem zer­trüm­mer­ten Rad und ei­nem im Stich ge­las­se­nen Blech­kof­fer. Dann sah ich einen Stroh­hut, der in den schon hart­ge­wor­de­nen Stra­ßen­schmutz hin­ein­ge­stampft wor­den war, und auf der Spit­ze des West­hü­gels einen Hau­fen blut­be­fleck­ten Gla­ses ne­ben dem um­ge­stürz­ten Was­ser­trog. Ich ging nur lang­sam wei­ter und mei­ne Plä­ne wa­ren völ­lig un­klar. Ich hat­te die et­was un­be­stimm­te Ab­sicht nach Lea­ther­head zu ge­hen, ob­wohl ich wuss­te, dass ich ge­ra­de dort am We­nigs­ten hof­fen konn­te, mei­ne Frau wie­der­zu­fin­den. Wenn nicht der Tod sie dort un­ver­se­hens er­eilt hat­te, wa­ren mei­ne Ver­wand­ten ge­wiss schon längst mit ihr von dort ge­flo­hen. Aber ich re­de­te mir ein, dass ich dort we­nigs­tens se­hen oder er­fah­ren konn­te, wo­hin die Be­völ­ke­rung von Sur­rey ge­flo­hen sei. Ich wuss­te, dass ich mei­ne Frau wie­der­fin­den woll­te, dass ich eine schmerz­li­che Sehn­sucht nach ihr und nach Men­schen emp­fand, aber ich hat­te kei­ne kla­re Vor­stel­lung, wie ich es an­fan­gen soll­te, sie zu fin­den. Auch mei­ner trost­lo­sen Ver­ein­sa­mung war ich mir jetzt deut­lich be­wusst. Un­ter dem Schutz ei­nes Dickichts von Bäu­men und Busch­werk kam ich all­mäh­lich an den Rand der Ge­mein­de­wie­se von Wim­ble­don, die sich nun weit vor mir er­streck­te.

Die­se dunkle Flä­che war stel­len­wei­se vom gel­ben Gins­ter­sträu­chen er­hellt; das rote Ge­wächs war nir­gends zu se­hen; als ich zö­gernd am Rand die­ser frei­en Stel­le hin- schlich, ging die Son­ne auf, und nun flu­te­te al­les von Licht und Le­ben. Ich stieß auf ein ge­schäf­ti­ges Volk klei­ner Frösche, die auf ei­nem sump­fi­gen Platz, un­ter den Bäu­men um­her­spran­gen. Ich stand still, um sie zu be­trach­ten, und nahm mir eine Leh­re an ih­rem fes­ten Ent­schluss, zu le­ben. Gleich dar­auf, als ich mit dem son­der­ba­ren Ge­fühl, be­ob­ach­tet zu wer­den, mich plötz­lich um­dreh­te, sah ich et­was in ei­nem Ge­strüpp zu­sam­men­ge­kau­ert lie­gen. Ich stand da und be­trach­te­te es. Dann mach­te ich einen Schritt nach vor­wärts, da er­hob es sich und wur­de ein mit ei­ner Axt be­waff­ne­ter Mann. Lang­sam nä­her­te ich mich ihm. Er stand schwei­gend und re­gungs­los da und sah mich an.

Als ich nä­her­trat, be­merk­te ich, dass sei­ne Klei­der eben­so staub­be­deckt und von Schmutz star­rend wa­ren wie die mei­nen; er sah tat­säch­lich aus, als wäre er durch eine Gos­se ge­schleift wor­den. Nä­her­kom­mend konn­te ich den grü­nen Schlamm von Pfüt­zen un­ter­schei­den, der sich mit dem Hell­braun von ge­trock­ne­tem Lehm und glän­zen­den Koh­len­fle­cken ver­meng­te. Sein schwar­zes Haar fiel über sei­ne Au­gen, und sein Ge­sicht war dun­kel und schmut­zig und ein­ge­sun­ken, so­dass ich ihn an­fangs nicht wie­der­er­ken­nen konn­te. Ich be­merk­te eine rote Nar­be, die quer über den un­te­ren Teil sei­nes Ge­sich­tes lief.

»Halt!«, rief er, als ich ihm auf zehn Yard na­he­kam; ich blieb ste­hen. Sei­ne Stim­me war hei­ser. »Wo­her kom­men Sie?«, frag­te er.

Ich über­leg­te, wäh­rend ich ihn mir nä­her an­sah.

»Ich kom­me von Mort­la­ke«, sag­te ich. »Ich lag ne­ben der Gru­be, die die Mars­leu­te um ih­ren Zy­lin­der mach­ten, be­gra­ben. Ich habe mich her­aus­ge­ar­bei­tet und bin ent­kom­men.« »Hier her­um ist kei­ne Nah­rung zu fin­den«, sag­te er. »Das ist mein Land. Al­les, von die­sem Hü­gel bis hin­ab zum Fluss, und zu­rück nach Cla­pham, und auf­wärts bis zum Ran­de der Wei­de. Nur für einen gibt es hier Nah­rung. Wel­chen Weg wer­den Sie ein­schla­gen?«

Ich ant­wor­te­te zö­gernd.

»Ich weiß es nicht«, sag­te ich. »Ich lag in den Trüm­mern ei­nes Hau­ses drei­zehn oder vier­zehn Tage lang ver­gra­ben. Ich weiß nicht, was in­zwi­schen ge­sche­hen ist.«

Er sah mich zwei­felnd an, dann stutz­te er, und blick­te mich mit ver­än­der­tem Aus­druck an.

»Ich habe nicht die Ab­sicht, in die­ser Ge­gend zu blei­ben«, sag­te ich. »Ich den­ke, ich wer­de nach Lea­ther­head ge­hen, um mei­ne Frau zu su­chen.«

Er wies has­tig mit dem Fin­ger nach mir.

»Sie sind es?«, rief er. »Der Mann von Wo­king! Und Sie wur­den nicht ge­tö­tet in Wey­bridge?«

Im sel­ben Au­gen­blick er­kann­te ich ihn.

»Sie sind der Ar­til­le­rist, der in mei­nen Gar­ten kam!«

»Das nen­ne ich Glück!«, rief er. »Wir sind ja Glückspil­ze! Nein, dass Sie es sind!« Er streck­te sei­ne Hand aus, die ich er­griff, »Ich bin da­mals einen Was­ser­gra­ben hin­aus­ge­kro­chen«, fuhr er fort. »Aber sie ha­ben nicht alle um­ge­bracht. Und als sie wie­der weg wa­ren, kroch ich her­aus, ge­gen Wal­ton zu, über die Fel­der. Aber es sind noch kei­ne sech­zehn Tage her – und Ihr Haar ist grau!« Er sah plötz­lich über sei­ne Schul­ter. »Nur eine Doh­le«, sag­te er. »Man er­fährt in Zei­ten wie die­sen, dass auch Vö­gel Schat­ten ha­ben. Aber hier ist es ein we­nig of­fen. Krie­chen wir in je­nes Ge­büsch und er­zäh­len wir uns un­se­re Er­leb­nis­se.« »Ha­ben Sie et­was von den Mars­leu­ten ge­se­hen?«, frag­te ich. »Seit ich her­aus­kroch … « – »Die sind jetzt über Lon­don hin­ge­gan­gen«, er­wi­der­te er. »Ich den­ke, sie ha­ben dort ein grö­ße­res La­ger auf­ge­schla­gen. Am Abend ist dort drü­ben, ge­gen Hamps­tead zu, der gan­ze Him­mel hell von ih­ren Lich­tern. Es ist wie eine große Stadt, und im Schein kann man noch ganz deut­lich ihre Be­we­gun­gen se­hen. Aber nicht bei Tag. Aber in der Nähe — habe ich sie nicht ge­se­hen … « – Er zähl­te an sei­nen Fin­gern. »Fünf Tage. Da sah ich zwei von ih­nen durch Ham­mers­mith hin­über­ge­hen und et­was Schwe­res schlep­pen. Und vor­ges­tern nachts« — er hielt inne, um in wich­ti­gem Ton fort­zu­fah­ren — »es wa­ren frei­lich nur Lich­ter, aber es war et­was oben in der Luft. Ich glau­be, sie ha­ben eine Flug­ma­schi­ne ge­baut und sie ler­nen jetzt flie­gen.«

Ich mach­te Halt, mit Hän­den und Kni­en auf dem Bo­den, denn wir hat­ten das Ge­büsch er­reicht.

»Flie­gen!«, sag­te er, »flie­gen.«

Ich kroch in einen klei­nen Laub­ver­schlag und setz­te mich nie­der.

»Dann ist es mit der Mensch­heit aus und vor­bei«, sag­te ich. »Wenn sie das kön­nen, dann wer­den sie ganz ein­fach um die gan­ze Welt ge­hen —.«

Er nick­te.

»Das wer­den sie auch. Aber un­ter­des­sen kön­nen wir hier ein we­nig Atem schöp­fen.« Er sah mich an.

»Sind Sie denn nicht zu­frie­den, dass es mit der Mensch­heit vor­bei ist? Ich bin’s. Wir sind un­ter­le­gen; wir sind ge­schla­gen.«

Ich stutz­te. So selt­sam es schei­nen mag, ich war noch nicht zu die­sem Schluss ge­kom­men, ei­nem Schluss, der mir voll­kom­men ein­leuch­te­te, so­bald je­ner ihn aus­sprach. Ich hat­te noch im­mer lei­se zu hof­fen ge­wagt; zu dem hat­te ich mir mein Le­ben lang im­mer selbst mei­ne Ge­dan­ken zu­recht­ge­legt. Er wie­der­hol­te sei­ne Wor­te. »Wir sind ge­schla­gen.« Sie ent­hiel­ten sei­ne un­ver­rück­ba­re Über­zeu­gung.

»Es ist al­les vor­bei«, sag­te er. »Sie ha­ben einen ver­lo­ren — nicht mehr als einen. Und sie ha­ben fes­ten Fuß ge­fasst und ha­ben die größ­te Macht der Welt zum Krüp­pel ge­schla­gen. Sie sind über uns hin­weg­ge­gan­gen. Der Tod je­nes einen bei Wey­bridge war ein Zu­fall. Und dazu sind die­se da nur die Vor­hut. Un­un­ter­bro­chen kom­men im­mer mehr. Die­se grü­nen Ster­ne — ich habe jetzt wohl fünf oder sechs Tage lang kei­nen ge­se­hen, aber ich zweifle nicht dar­an, dass sie jede Nacht ir­gend­wo nie­der­fal­len. Da ist nichts zu ma­chen. Wir lie­gen un­ten! Wir sind ge­schla­gen!«