Einer der Männer eilte auf meinen Bruder zu.
»Wo bekommt man hier etwas Wasser?«, fragte er. »Er geht rasch seinem Ende entgegen und leidet heftigen Durst. Es ist Lord Garrick.«
»Lord Garrick!«, rief mein Bruder, »Der Präsident des obersten Gerichtes?«
»Das Wasser!«, rief der andere.
»Vielleicht finden Sie in einem dieser Häuser eine Wasserleitung«, sagte mein Bruder. »Wir haben kein Wasser. Und ich darf meine Begleiterinnen nicht verlassen.«
Der Mann drängte sich durch die Menge gegen das Tor des Eckhauses zu.
»Vorwärts!«, riefen die Leute, ihn zur Seite schiebend. »Sie kommen! Vorwärts!«
Jetzt wurde die Aufmerksamkeit meines Bruders durch einen bärtigen Mann mit einem adlerartigen Gesicht abgelenkt, der eine kleine Handtasche trug, die gerade platzte, als meines Bruders Augen auf sie fielen, und eine Masse Sovereignstücke2 entleerte, die in einzelne Münzen zu zerfallen schien, als sie den Boden berührten. Sie rollten hierhin und dorthin unter die vorwärtsdrängenden Füße von Menschen und Pferden. Der Mann blieb stehen und stierte stumpfsinnig auf den Goldhaufen; die Deichsel eines Mietwagens traf seine Schulter und warf ihn nieder. Er stieß einen Schrei aus und kroch zur Seite; das Rad eines Karrens ging hart an ihm vorbei!
»Platz da!«, rief die Menge um ihm herum. »Macht Platz!«
Sobald der Mietwagen vorbeigefahren war, stürzte er sich mit beiden Händen auf die Goldhaufen und raffte eine Handvoll um die andere in seine Taschen. Ein Pferd bäumte sich dicht über ihm; als er sich im nächsten Augenblick halb aufgerichtet hatte, war er schon unter die Hufe des Pferdes geraten.
»Halt!«, schrie mein Bruder, und eine Frau zur Seite drängend, versuchte er, den Zaum des Pferdes zu fassen.
Ehe er noch herankommen konnte, hörte er ein Geschrei unter den Rädern und sah durch den Staub hindurch, wie die Vorderräder des Karrens über den Rücken des armen Teufels gingen. Der Kutscher des Karrens schlug mit der Peitsche nach meinem Bruder, der herum hinter den Karren eilte. Das vielstimmige Geschrei betäubte seine Ohren. Der Mann wand sich im Staub mitten unter seinem verstreuten Geld, unfähig sich zu erheben, denn die Räder hatten ihm den Rücken gebrochen und seine Beine lagen schlaff und tot da. Mein Bruder richtete sich auf und stieß einige gellende Rufe gegen den nächsten Kutscher aus; ein Mann auf einem Rappen kam zu seinem Beistand heran.
»Ziehen Sie ihn doch von der Straße weg«, sagte er; und mit seiner freien Hand den Mann am Kragen fassend, schleifte ihn mein Bruder zur Seite, der Mann aber griff noch immer gierig nach seinem Geld, blickte meinen Bruder wütend an und hämmerte mit einer Handvoll Gold fortwährend auf den Arm meines Bruders. »Vorwärts! Vorwärts!«, riefen zornige Stimmen von rückwärts. »Platz! Platz!«
Mit heftigem Krachen fuhr die Deichselstange einer Kutsche in den Karren hinein und der Reiter hielt an. Mein Bruder blickte auf, und der Mann mit dem Gold drehte seinen Kopf herum und biss in das Handgelenk meines Bruders, um seinen Kragen freizubekommen. Nun folgte ein Zusammenstoß, der Rappe stolperte zur Seite und das Karrenpferd drängte nach. Ein Huf verfehlte den Fuß meines Bruders um Haaresbreite. Er ließ den Kragen des gestürzten Mannes los und sprang zurück. Er sah noch, wie der Zorn in dem Gesicht des armen Teufels sich in Entsetzen verwandelte; der nächste Augenblick schon verbarg ihn seinen Blicken. Mein Bruder wurde nach rückwärts gedrängt und von der Menge an der Mündung des Feldweges vorbeigerissen; er hatte in der wild einherströmenden Menschenflut hart zu kämpfen, um die Mündung wieder zu gewinnen.
Er sah, wie Fräulein Elphinstone ihre Augen bedeckte, und wie ein kleines Kind, mit dem ganzen Mangel teilnahmsvoller Vorstellungskraft des Kindes, mit weitgeöffneten Augen auf ein staubbedecktes Etwas starrte, das schwarz und still, zermalmt und zerquetscht unter den rollenden Rädern lag. »Wir müssen zurück!«, schrie er und begann das Pony herumzuführen. »Wir können nicht hindurch durch diese — Hölle«, sagte er; und sie gingen etwa hundert Yard den Weg, den sie gekommen waren, zurück, bis die kämpfende Menge ihren Blicken entschwand. Als sie an die Wegkrümmung kamen, sah mein Bruder das Gesicht des sterbenden Mannes im Graben unter der Ligusterhecke; es war totenblass und verzerrt und glänzte vor Schweiß. Die beiden Frauen saßen schweigend da, in ihre Sitze gepresst und bebend vor Entsetzen.
Hinter der Wegbiegung machte mein Bruder wieder Halt. Fräulein Elphinstone war totenblass, und ihre Schwägerin saß still weinend da, zu elend sogar, um nach ihrem »George« zu rufen. Mein Bruder war entsetzt und verwirrt. Sobald sie sich zurückgezogen hatten, kam es ihm wieder zum Bewusstsein, wie dringend und unvermeidlich es war, den Menschenstrom zu durchqueren. Ohne Verzug wandte er sich entschlossen an Fräulein Elphinstone.
»Wir müssen diesen Weg einschlagen«, sagte er und lenkte das Pony wieder herum.
Zum zweiten Male an diesem Tag legte das Mädchen eine Probe seiner Unerschrockenheit ab. Um eine Furt durch diesen Menschenstrom zu erzwingen, stürzte sich mein Bruder in das Getriebe hinein und hielt ein Droschkenpferd zurück, während sie das Pony an dessen Kopf vorbeilenkte. In diesem Augenblick bremste ein Fuhrwagen und riss dabei einen langen Splitter vom Ponywagen ab. Gleich darauf wurden sie vom Strom erfasst und vorwärtsgetrieben. Mein Bruder, dessen Antlitz und dessen Hände die roten Spuren von des Kutschers Peitsche aufwiesen, kletterte in den Wagen zurück und nahm seiner Begleiterin die Zügel ab.
»Richten Sie den Revolver auf den Mann hinter uns«, sagte er, ihr die Waffe reichend, »wenn er zu heftig drängt. Nein! — Richten Sie ihn auf sein Pferd.«
Dann begann er, nach einer Gelegenheit auszuspähen, über die Straße hinweg nach rechts seitwärts zu fahren. Aber einmal im Strom drin, schien er seine Willenskraft zu verlieren, ein Glied dieses staubbedeckten Menschenrudels zu werden. Sie wurden von dem wilden Strom durch Chipping-Barnet geschwemmt; sie befanden sich schon wieder eine Meile jenseits des Mittelpunktes der Stadt, bevor sie sich auf die gegenüberliegende Seite des Weges durchgekämpft hatten. Der Lärm, die Verwirrung waren unbeschreiblich. Aber in der Stadt und hinter ihr verzweigte sich die Straße zu wiederholten Malen und lichtete so in einem beschränkten Maße den Andrang der Menge.
Sie wandten sich nun östlich durch Hadley und dort stießen sie auf beiden Seiten der Straße, und auch später, auf eine beträchtliche Menge von Leuten, die aus dem Fluss tranken; manche mussten geradezu kämpfen, um zum Wasser zu gelangen. Etwas weiter bemerkten sie von einer Anhöhe in der Nähe von Ost-Barnet zwei Eisenbahnzüge, die langsam einer hinter dem anderen ohne Signal, ohne Aufsicht dahinfuhren. Die Züge wimmelten von Leuten, selbst zwischen den Kohlen hinter der Maschine kauerten Menschen, die aus der großen Nordlinie zu entkommen trachteten. Mein Bruder vermutete, dass diese Züge sich erst außerhalb Londons mit Flüchtlingen gefüllt haben mussten, denn zu jener Zeit hatte der wütende Ansturm der Leute die Benützung der hauptstädtischen Bahnhöfe unmöglich gemacht.
In der Nähe von Hadley machte die Gesellschaft meines Bruders für den Nachmittag Halt; denn die Schrecken des Tages hatten alle drei fast völlig erschöpft. Schon regten sich in ihnen die ersten Anzeichen des Hungers, die Nacht war kalt, und keiner von ihnen wagte, zu schlafen. Am Abend eilten viele Leute die Straße entlang an ihrem Rastplatz vorbei, vor ungekannten Gefahren fliehend, die in Wahrheit noch vor ihnen lagen. Denn sie eilten nach der Richtung, von der mein Bruder gekommen war.
1 Zweirädrige, einspännige Mietwagen, deren Kutschbock hinter dem eigentlichen Wagen angebracht ist. Die übliche englische nach ihrem Erfinder benannte Mietwagentype. <<<
2 Die gewöhnliche englische Goldmünze im Werte von einem Pfund Sterling = K 24 <<<
Hätten die Marsleute es nur auf blinde Zerstörung abgesehen gehabt, so hätten sie am Montag die gesamte Bevölkerung Londons vernichten können, wie sie sich langsam über die nächsten Grafschaften hin ausbreitete. Nicht nur längs der Straße durch Barnet, sondern auch durch Edgware und Waltham Abbey, und die ostwärts laufenden Straßen entlang nach Southend und Shoeburyness, und südlich von der Themse nach Deal und Broadstairs, ergoss sich derselbe tobende Haufen. Wenn einer an jenem Junimorgen in einem Ballon in dem strahlenden Blau über London geschwebt wäre, dann hätte er jede Straße, die aus dem unendlichen Straßenknäuel nach Norden oder Osten führte, von den dahinströmenden Flüchtlingen schwarz übersät erblickt, jeder Punkt eine menschliche Agonie von Schrecken und körperlichem Elend. Ich habe im vorigen Abschnitt die Beschreibung, die mein Bruder von der Straße durch Chipping-Barnet machte, ausführlich wiedergegeben, um meinen Lesern eine Vorstellung davon zu ermöglichen, wie jenes Gewimmel schwarzer Punkte einem unmittelbar daran Beteiligten erschien. Nie noch in der Geschichte der Welt hatte sich eine solche Masse menschlicher Wesen in Bewegung gesetzt, nie noch so gemeinsam dieselben Leiden ertragen. Die sagenhaften Scharen von Goten und Hunnen, die riesigsten Heere, die Asien je erblickt hatte, was wären sie anderes gewesen, als Wellen dieses Stromes. Und das war kein durch Manneszucht geleiteter Marsch; es war ein zuchtloses Vorwärtsdrängen, riesenhaft und schreckensvoll, ohne Ordnung, ohne Ziel, sechs Millionen Menschen, die unbewaffnet und ohne Lebensmittel, blindlings weitertrieben. Es war der Anfang einer Ausrottung der Gesittung, ein Niedermetzeln des Menschengeschlechtes.
Gerade unter sich hätte der Luftschiffer ein weithin gesponnenes Netzwerk von Straßen gesehen, von Häusern, Kirchen, Plätzen, Gassen, Gärten, die, schon verödet, sich ausdehnten, wie eine ungeheure Landkarte, die im Süden verwischt und zerstört war. Es sah aus, als ob eine Riesenfeder über Ealing, Richmond und Wimbledon Tinte über die Karte gespritzt hätte. Stetig und unaufhaltsam wuchs jeder dieser Flecken; er breitete sich aus, sandte Abzweigungen hierhin und dorthin, staute sich gegen Erhebungen des Bodens, ergoss sich dann wieder über abschüssiges Erdreich in neuentdeckte Täler, genau so, wie ein Strom von Tinte sich über Löschpapier verteilt.
Und drüben, bei den blauen Hügeln, die sich üblich vom Fluss erheben, eilten die glitzernden Marsleute hin und her, und versendeten bedächtig und glanzvoll einmal über diesen, dann über jenen Landstrich ihre Giftwolken, die sie, sobald sie ihren Zweck erfüllt hatten, wieder mit ihren Dampfstrahlen erstickten. So ergriffen sie Besitz von dem besiegten Land. Ihr Vorhaben schien nicht so sehr auf Ausrottung abzuzielen, wie auf völlige Unterjochung und Niederwerfen jedes Widerstandes. Sie sprengten jede Pulveransammlung, auf die sie stießen, in die Luft, schnitten jede Telegrafenlinie ab und zerstörten, wo sie konnten, jede Eisenbahn. Sie schnitten die Sehnen der Menschheit durch. Sie schienen keine besondere Eile zu haben, ihr Arbeitsfeld auszudehnen, und gelangten an diesem Tag nicht über den Mittelpunkt von London hinaus. Es ist sehr möglich, dass eine beträchtliche Anzahl Leute in London am Montagmorgen in ihren Häusern blieb. Dass viele, vom schwarzen Rauch erstickt, zu Hause starben, ist gewiss.
Um die Mittagsstunde stellte die Werft von London ein erstaunliches Schauspiel dar. Dampfboote und Schiffe aller Art, deren Eigentümer von den ungeheuren Geldsummen, welche die Flüchtlinge anboten, versucht wurden, lagen in Bereitschaft; viele Menschen, welche an diese Fahrzeuge heranschwammen, sollen mit Bootshaken zurückgestoßen und ertränkt worden sein. Um ein Uhr nachmittags etwa wurde ein dünnes Überbleibsel einer Wolke des schwarzen Qualmes zwischen den Bögen der Blackfriars Bridge gesehen. Und nun wurde die Werft der Schauplatz einer wahnsinnigen Verwirrung, heißer Kämpfe und Zusammenstöße; eine Zeit lang war eine Menge von Booten und Barken im nördlichen Bogen der Towerbrücke eingeklemmt; Seeleute und Löscharbeiter mussten wie Wilde gegen die Menge ankämpfen, die in hellen Haufen vom Ufer her andrängte. Die Leute kletterten tatsächlich die Brückenpfeiler hinab.
Als eine Stunde später ein Marsmann jenseits des Uhrenturms des Parlamentshauses2 auftauchte und den Fluss hinabwatete, trieben nur Schiffstrümmer am Limehouse vorüber.
Über den Niedergang des fünften Zylinders werde ich später berichten. Der Sechste ging bei Wimbledon nieder. Mein Bruder hielt neben den im Wagen schlafenden Frauen auf einer Wiese Wache und sah seinen grünen Blitz weit drüben jenseits der Hügel. Am Dienstag strebte die kleine Gesellschaft, noch immer entschlossen, über das Meer zu fahren, durch das von Menschen wimmelnde Land Richtung Colchester vorwärts. Die Nachricht, dass die Marsleute nun im Besitz von ganz London seien, wurde bestätigt. Sie waren in Highgate gesehen worden, und, wie man erzählte, sogar schon bei Neasden. Aber sie kamen bis zum nächsten Morgen meinem Bruder nicht zu Gesicht.
Am Dienstag nun begannen die verstreuten Massen, die zwingende Notwendigkeit zu empfinden, sich mit Lebensmitteln zu versehen. Und sobald sie hungrig wurden, hörten sie auf, das Recht des Eigentums zu beachten. Mit den Waffen in der Hand rückten die Bauern aus, ihre Viehställe, ihre Scheunen, ihre reifenden Feldfrüchte zu verteidigen. Eine Anzahl von Leuten hatten wie mein Bruder nun die Absicht, eine östliche Richtung einzuschlagen, und einige ganz Verzweifelte gingen sogar nach London zurück, um sich Nahrung zu holen. Das waren hauptsächlich Leute aus den nördlichen Vororten, deren Kenntnisse über den schwarzen Rauch nur vom Hörensagen stammten. Mein Bruder erfuhr, dass etwa die Hälfte der Mitglieder der Regierung sich in Birmingham versammelt hatte und dass ungeheure Mengen starker Sprengstoffe vorbereitet wurden, um für selbsttätige Minen in den Binnengrafschaften verwendet zu werden.
Zur gleichen Zeit hörte mein Bruder, dass die Midland Railway Company die im ersten Schrecken aufgegebene Strecke wieder dem Verkehr übergeben hatte und von St. Albans nach Norden gehende Züge abgehen ließ, um in den beängstigend überfüllten Nachbargrafschaften Londons etwas Luft zu schaffen. Ferner wurden in Chipping Ongar Bekanntmachungen erlassen, dahin lautend, dass in den Nordstädten große Vorräte von Mehl zur Verfügung stünden, und dass binnen vierundzwanzig Stunden unter die hungerleidende Bevölkerung der Nachbarschaft Brot verteilt werden würde. Diese Nachricht aber hielt meinen Bruder nicht von der Ausführung des Flucht- planes ab, den er ersonnen hatte; und die drei Leute drängten den ganzen Tag lang unaufhaltsam in östlicher Richtung vorwärts und erlebten von jener Brotverteilung nicht mehr als eben ihre Verheißung. Tatsache ist, dass auch niemand anderer mehr davon erlebte. In dieser Nacht ging der siebente Stern nieder und fiel auf den Primrose-Hügel. Er ging nieder, während Fräulein Elphinstone Wache hielt, denn sie unterzog sich abwechselnd mit meinem Bruder dieser Pflicht. Auch sie sah den Stern.
Am Mittwoch erreichten die drei Flüchtlinge, welche die Nacht auf einem Feld unreifen Weizens verbracht hatten, Chelmsford; hier bemächtigte sich eine Gruppe von Bewohnern, welche sich »Öffentlicher Unterstützungsausschuss« nannte, des Ponys als eines Nahrungsmittels und wollte nichts als Entgelt dafür geben, als das Versprechen, die Besitzer am nächsten Tage an seiner Verzehrung teilnehmen zu lassen. Hier waren Gerüchte im Umlauf, dass die Marsleute in Epping seien; auch erfuhr man, dass die Pulvermühlen von Waltham-Abbey während des fruchtlosen Versuches, einen der Eindringlinge in die Luft zu sprengen, zerstört worden seien.
Die Leute spähten hier von den Kirchtürmen nach den Marsleuten aus. Mein Bruder zog es vor — wie es sich später herausstellte zu seinem Glück — sofort nach der Küste aufzubrechen, statt auf Nahrung zu warten, obwohl sie alle drei sehr hungrig waren. Um die Mittagsstunde kamen sie durch Tillingham, das seltsam genug ganz still und verödet schien, bis auf einige diebische Plünderer, die nach Nahrungsmitteln suchten. In der Nähe von Tillingham erblickten sie plötzlich das Meer und zugleich die erstaunlichste Ansammlung von Fahrzeugen aller Art, die man sich nur vorstellen konnte.
Denn nachdem die Schiffer nicht mehr die Themse hinauffahren konnten, begaben sie sich an die Küste von Essex, nach Harwich, Walton, Clacton und später nach Foulness und Shoebury, um Leute aufzunehmen. Die Schiffe waren in einer ungeheuren sichelförmigen Linie aufgestellt, die sich gegen das Vorgebirge, die Naze,3 im Nebel verlor. Dicht am Ufer hatte eine Unmenge Fischerbarken Anker geworfen, englische, schottische, französische, holländische und schwedische; dann sah man kleine Dampfboote von der Themse, Yachten und elektrische Boote; darüber hinaus sah man Schiffe größerer Art, eine große Menge schmutziger Kohlenschiffe, schmucke Handelsschiffe, Viehtransporter, Passagierdampfer, Petroleumtanken, Ozeanbummler, selbst einen alten, weißen Transportsegler, zierliche weiße und graue Linienschiffe von Southampton und Hamburg; und die ganze blaue Küste am Blackwater entlang konnte mein Bruder dichte Schwärme von Booten wahrnehmen, von denen aus mit den Leuten auf dem Ufer gefeilscht wurde. Diese Bootmassen erstreckten sich auch das Blackwater hinauf beinahe bis Maldon.
Ungefähr zwei Meilen draußen lag ein Panzerschiff so tief im Wasser, dass es den Augen meines Bruders fast wie ein halbversenktes Schiff schien. Das war das Rammboot »Thunder Child« Es war das einzige Kriegsschiff in Sicht; aber in weiter Ferne lag auf dem glatten Spiegel der See — an jenem Tage herrschte Totenstille — eine Schlange schwarzen Rauches, welche die nächsten Panzerschiffe der Kanalflotte anzeigte, die in einer weit gedehnten Linie auf- und abkreuzten; sie fuhren während des Einfalles der Marsleute mit vollem Dampf und klar zum Gefecht längs der Themsemündung, kampfbereit und doch machtlos einzugreifen.
Beim Anblick des Meeres wurde Frau Elphinstone trotz der Zureden ihrer Schwägerin von heillosem Schrecken überwältigt. Sie war nie noch aus England hinausgekommen, und erklärte lieber sterben zu wollen, als sich ohne Freunde einem fremden Land anzuvertrauen, und so fort. Die Ärmste schien sich vorzustellen, dass die Franzosen und die Marsleute sehr ähnlich sein würden. Sie war während der zwei Reisetage immer hysterischer, erschreckter und niedergeschlagener geworden. Ihre fixe Idee war, nach Stanmore zurückzukehren. In Stanmore sei immer alles gut und sicher vor sich gegangen. In Stanmore würden sie George wiederfinden…
Nur mit den größten Schwierigkeiten gelang es ihnen, sie zum Ufer hinab zu bringen, wo es meinem Bruder glückte, die Aufmerksamkeit einiger Leute auf einem Raddampfer, der auf der Themse fuhr, auf sich zu lenken. Der Dampfer schickte ein Boot und bald wurde man handelseins: sechsunddreißig Pfund für alle drei. Das Schiff ging, wie die Leute ihnen mitteilten, nach Ostende.
Es war etwa zwei Uhr geworden, bis mein Bruder, der vor dem Betreten des Schiffes noch das Fahrgeld bezahlt hatte, sich mit seinen Schützlingen sicher an Bord des Dampfers befand. Im Schiff gab es Esswaren genug, wenn auch zu ganz abenteuerlichen Preisen. Und so gelang es den drei Personen, auf den Vordersitzen eine Mahlzeit einzunehmen.
Es waren bereits etwa vierzig Personen an Bord, von denen einige ihren letzten Groschen weggegeben hatten, um sich die Überfahrt zu sichern. Aber der Kapitän blieb beim Blackwater bis fünf Uhr Nachmittag stehen und nahm unausgesetzt Passagiere auf, bis das Verdeck beängstigend voll war. Er hätte wohl noch länger gezögert, hätte man nicht um jene Stunde vom Süden her den Schall von Geschützfeuer vernommen. Gleichsam zur Antwort feuerte das seewärts liegende Panzerschiff ein kleines Geschütz ab und hisste seine Flagge. Ein Rauchstrahl schoss aus seinem Schornstein.
Einige Reisende waren der Meinung, dass der Geschützlärm aus der Gegend von Shoeburyness komme, bis man bemerkte, dass er immer stärker wurde. Gleichzeitig tauchten südöstlich in weiter Ferne die Masten und das Takelwerk dreier Panzerschiffe, eines nach dem anderen, aus dem Meere auf, unter Wolken schwarzen Qualmes. Aber die Aufmerksamkeit meines Bruders kehrte rasch wieder zu dem fernen Geschützfeuer im Süden zurück. Er glaubte, eine Rauchsäule aus den fernen, grauen Nebelschleiern aufsteigen zu sehen.
Der kleine Dampfer nahm, aus der großen Halbmondlinie von Schiffen heraus, schon klappernd seinen Weg ostwärts. Die flache Küste von Essex schien schon blau und neblig, als plötzlich, winzig und undeutlich in der großen Entfernung, ein Marsmann auftauchte, der die lehmige Küste entlang aus der Richtung von Foulness herankam. Bei diesem Anblick fluchte der Kapitän auf der Schiffsbrücke mit dem Aufwand seiner ganzen Stimmmittel in Angst und Zorn über seine eigene Saumseligkeit, und die Räder schienen von seinem Schrecken angesteckt zu sein. Jedermann an Bord des Schiffes stand jetzt am Geländer oder auf den Stühlen und starrte nach jener fernen Erscheinung, die, jetzt schon höher als die Bäume und die Kirchtürme landeinwärts, wie in einer verzerrten Nachahmung der menschlichen Gangart immer näher kam.
Es war der erste Marsmann, den mein Bruder gesehen hatte und so stand er mehr erstaunt als erschreckt da, und beobachtete den Titan, wie er entschlossen den Fahrzeugen näher rückte, immer weiter und weiter, wie die Küste zurückwich, im Wasser watend. Jetzt tauchte jenseits des Dünenkamms in weiter Ferne ein zweiter Marsmann auf, der über die verkümmerten Bäume hinwegfuhr; und noch weiter zurück zeigte sich ein dritter, der tief durch eine glitzernde Sumpffläche watete, die halb zwischen Himmel und Erde zu hängen schien. Sie alle stapften der See zu, als ob sie die Flucht jener Menge von Fahrzeugen verhindern wollten, die in dichten Haufen zwischen Foulness und dem Vorgebirge Naze lagerten. Trotz der keuchenden Anstrengung der Maschinen des kleinen Raddampfers, trotz der Ströme von Schaum, die seine Räder zurückließen, entfernte sich das Schiff nur mit erschreckender Langsamkeit aus dem Bereich jener unheilvollen Ankömmlinge.
Nach Nordwesten blickend sah mein Bruder, wie der riesige Halbkreis von Schiffen sich schon zu winden begann unter dem herannahenden Entsetzen. Jedes Schiff versuchte am anderen vorbeizukommen, um sich hinter die Breitseite der größeren Schiffe zu verbergen, die Dampfer pfiffen unaufhörlich und stießen ungeheure Qualmmengen aus, Segel wurden gehisst und Landungsboote schossen hin und her. Mein Bruder wurde von diesem Bild und von der heranschleichenden Gefahr so in Anspruch genommen, dass er für alles, was auf hoher See vorging, keine Augen hatte. So schleuderte ihn eine rasche Bewegung des Dampfers (er hatte plötzlich gewendet, um nicht in den Grund gefahren zu werden) kopfüber von dem Sessel, auf dem er stand. Rings um ihn herum hörte er Geschrei, das Trappeln von Füßen und freudige Rufe, die schwach erwidert zu werden schienen. Der Dampfer schoss vorwärts, und mein Bruder kollerte über den Boden.
Er sprang auf seine Füße und sah nach dem Steuerbord. Nicht hundert Yard von ihrem stoßenden, schwankenden Boot entfernt, sah er eine riesige, eiserne Masse, die wie eine ungeheure Pflugschar das Wasser teilte und nach beiden Seiten gewaltige Schaumwogen schleuderte, die auf den Dampfer stürzten, bis seine Räder hilflos in der Luft hingen, um gleich darauf das Verdeck fast bis auf die Wasserfläche hinabzutauchen.
Eine Flut von Gischt blendete einen Augenblick lang meinen Bruder. Als sich seine Augen wieder geklärt hatten, sah er, dass das Ungetüm schon vorbei war und dem Lande zuraste. Mächtige Eisenwerke tauchten aus dem Riesenkörper auf; ein Doppelschornstein erhob sich und spie einen zweifachen Schwall feurigen Rauches in die Luft. Es war das Torpedo-Rammschiff »Thunder Child«, das in rasender Schnelligkeit den bedrohten Schiffen zu Hilfe kam.
Indem er seinen Füßen auf dem schwankenden Deck dadurch, dass er sie in das Netzwerk des Geländers einhakte, einen sicheren Halt schaffte, blickte mein Bruder über den dahinschießenden Leviathan4 hinweg, wieder nach den Marsleuten. Er sah nun alle drei dicht beieinander; sie standen so weit draußen im Meer, dass ihre dreifüßigen Stützen fast ganz unter Wasser waren. So halb versenkt und in so großer Entfernung, sahen sie weit weniger furchtbar aus, als die riesenhafte Eisenmasse, in deren Kielwasser der Dampfer hilflos hin- und herschwankte. Es schien, als betrachteten die Marsleute diesen neuen Gegner in hellem Staunen. Es mag sein, dass nach ihren Begriffen dieser Riese ein ähnliches Wesen ihrer Gattung war. Der »Thunder Child« feuerte keinen Schuss ab, er rückte nur in voller Wucht gegen sie vor. Vermutlich dankte er nur dem Umstand, dass er nicht feuerte, die Möglichkeit, jenen so nahe zu kommen. Sie wussten nicht, was sie aus ihm machen sollten. Nur eine Bombe, und sie hätten ihn mit dem Hitzestrahl sofort in den Grund gebohrt.
Das Schiff dampfte mit einer derartigen Schnelligkeit vorwärts, dass es in einer Minute den halben Weg zwischen dem Dampfboot und den Marsleuten zurückzulegen schien — eine sich immer mehr verringernde Masse, die sich schwarz von der zurücktretenden horizontalen Linie der Küste von Essex abhob.
Plötzlich senkte der vorderste Marsmann sein Rohr und feuerte eine Büchse schwarzen Gases auf das Panzerschiff ab. Sie traf ihn auf der Backbordseite und prallte in einem tintenartigen Strahl ab, der sich seewärts weiterwälzte als entfalteter Strom schwarzen Rauches, dem das Panzerschiff glücklich entrann. Den Zuschauern auf dem tief im Wasser fahrenden Dampfer, welche überdies die Sonne im Gesicht hatten, schien es, als sei das Schiff schon mitten unter den Marsleuten.
Sie sahen, wie die ungeschlachten Gestalten sich trennten und sich immer höher aus dem Wasser hoben, indem sie sich ans Ufer zurückzogen. Einer von ihnen erhob jetzt den kameragleichen Erzeuger des Hitzestrahls. Er hielt ihn schräg nach abwärts gerichtet, und sofort fuhr eine Dampfwolke auf, als der Strahl das Wasser berührte. Er musste durch das Eisen des Schiffskörpers gefahren sein, ähnlich, wie weißglühendes Eisen durch Papier dringt.
Das Zucken einer Flamme wurde in dem aufsteigenden Dampf sichtbar, und der Marsmann wankte und taumelte nach vorn. Im nächsten Augenblick war er niedergeschlagen und eine große Menge Wasser und Dampf schoss Hoch in die Luft auf. Die Geschütze des »Thunder Child« donnerten durch den Qualm, eines nach dem anderen; ein Geschoss klatschte dicht neben dem Dampfer ins Wasser, prallte in Richtung der anderen fliehenden Schiffe nordwärts und zersplitterte eine Fischerbarke in Zündhölzchen.
Niemand aber schenkte dem besondere Beachtung. Beim Anblick des zusammenbrechenden Marsmannes stieß der Kapitän auf der Brücke unartikulierte, gellende Laute aus, und die zu einem Haufen beim Steuerrad zusammen-gedrängten Reisenden schrien wild durcheinander. Und noch einmal schrien sie auf. Denn drüben, jenseits des weißen Tumults erhob sich ein langer, schwarzer Rumpf und trieb kräftig weiter; Flammen strömten aus seinen Mittelteilen, und die Ventilatoren und Schornsteine spien Feuer.