Namibia - Von der Weite der Landschaft zur Enge des Denkens

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Namibia - Von der Weite der Landschaft zur Enge des Denkens
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Helmut Lauschke

Namibia - Von der Weite der Landschaft zur Enge des Denkens

Band 2

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Band II

Die Helden, die Ratten und das sinkende Schiff

Der Militärpsychologe

Zweifel an der Vernunft

Von den ersten Asymptoten an den Kegel der Zukunft

Die schwarzen Masten sind in Sicht

Die Granatenschläge kommen bis ans Hospital

Das Mädchen mit dem Knochentumor im rechten Oberarm

Wie die Stunden verflogen

Das Schädeltrauma mit dem Panga

Der schwarze Zwerg auf Rollen

Das Anlegemanöver

Die überfüllte Barclay’s Bank wird in die Luft gesprengt

Vom Zeitgeist und seinen Entartungen

Die Übergangsperiode

Der Machtwechsel und die Folgen

Die Vorbereitungen und der königliche Besuch

Einer, der es wissen sollte und sich drückte

Der beschämende Bettelgang

Internationales Symposium zur Errichtung einer Medizinischen Fakultät in Namibia

Zur Statik und Architektur der Studientürme

Es gab noch etwas zu sehen

Der Pierrot mit Geige ohne Boden

Anhang

Impressum neobooks

Band II

Den Menschen, die in der schwersten Zeit Menschlichkeit zeigten und Vorbild waren, zum Dank.

Die Helden, die Ratten und das sinkende Schiff

Die Zeiten hatten sich verschlechtert, und die Front der Ablehnung zwischen der schwarzen Bevölkerung und der weißen Besatzungsmacht hatte sich weiter verhärtet. Jeden Tag gab es Tote und Verletzte, und ihre Zahl nahm zu. Die Koevoet hatte ihr Benehmen nicht geändert, sie walzte ganze Krale platt, wenn nur der Verdacht bestand, dass sich ein SWAPO-Kämpfer dort versteckt halten könnte. Der Bruder- und Schwesternmord war an der Tagesordnung, weil der, der es für Geld und gutes Essen tat, sich zum Morden verpflichtet fühlte, um nicht vom Geld und guten Essen abgeschnitten zu werden. Er tat es mit sattem Magen und wohlüberlegt, während der andere es mit hungrigem Magen und ohne Bezahlung tat, weil er an die Menschen dachte, denen die Befreiung aus der Knechtschaft seit Langem zustand. Der gut Genährte hörte nicht mehr auf die abgemagerten und besorgten Eltern, deren Kräfte verbraucht waren, die ihn vor dem Bruderund Schwesternmord warnten, während sie dem anderen Sohn und der anderen Tochter, die sich der Befreiung verschrieben, unter der Hand zusteckten, was sie an Nahrung und Bettdecken geben konnten und sie zu größter Vorsicht mahnten. Die Eltern verhielten sich still in ihrer Armut. Sie dachten viel und sprachen wenig über die Gefahren, die in der Fremde auf ihre Kinder lauerten. Sie zogen sich in die Hütten der Erbärmlichkeit zurück, zersorgten sich, wenn sie an Kain und Abel dachten, und beteten für ein baldiges Ende des fürchterlichen Krieges. Viele von ihnen wurden krank und starben nach kurzer Zeit, weil die Sorgen sie zerfraßen. Andere wurden aus ihren Hütten gezerrt, geknebelt und geschlagen, weil sie nichts auf ihre Söhne und Töchter kommen ließen, die ihnen die Freiheit zu Lebzeiten versprachen und sich dem Befreiungskampf angeschlossen hatten. Die Jugend konnte die Schändung der Väter und Mütter nicht länger ansehen, weil sie ihre Eltern waren. So verließen viele ihre Dörfer, einzeln und in Gruppen, versteckten sich hinter Büschen und in Höhlen vor den patrouillierenden „Casspirs“, gingen nachts die langen Wege bis zur Grenze, ließen sich von den Grenzbewohnern den Weg zwischen den ausgelegten Minen zeigen und überschritten die Grenze nach Angola mit der patriotischen Kraft, der selbst der knurrende Magen und die zerrissene Kleidung keinen Abbruch taten. Die Jugend machte es nicht mehr mit, das schwarz weniger wert sein sollte als weiß. Sie erhob sich und war begeistert, an der Befreiung der schwarzen Menschen aktiv teilzunehmen. Ganze Schulklassen verließen mit ihren Lehrern das verprellte Land der weißen Vorherrschaft. Oft wussten es nicht einmal die Eltern, wenn sie den Marsch über die Grenze machten und die Schicksalsgemeinschaft bauten, die enger und stärker war als in der Schule, weil nun die Unbedingtheit der persönlichen Disziplin und das gegenseitige Vertrauen zählte, wenn Decken, Brot und Wasser verteilt wurden, das Selbstverständnis der gegenseitigen Hilfe da sein musste, aus dem dann die Erkenntnis kam, dass nur aus einer solchen Gemeinschaft die unbezwingbare Kraft erwuchs, mit der das Ziel zu erreichen war. Die Koevoet machte weiter ihre nächtlichen Razzien im Hospital und nahm auf die Patienten keine Rücksicht. Es kam immer wieder vor, dass sie die Schlafenden auf dem Betonboden vor der Rezeption aus dem Schlaf scheuchte und Männer schlug und in die „Casspirs“ warf, die sich nicht ausweisen konnten. Der Superintendent mit der Knolle auf der Nase und den Schlaffalten im Gesicht, der hemdsärmelig von seinem großen Schreibtisch aus die Morgenbesprechungen führte und einmal mit kreideweißem Gesicht aus der Besprechung rannte, um sich auf der Toilette auszukotzen, weil er sich am Vortag beim Abendessen mit dem Kommandeur die Augen rot getrunken hatte, sich für den Rest der Besprechung auf der Toilette versteckt hielt und damit unangenehmen Fragen schlichtweg aus dem Weg lief, dieser Superintendent saß weiterhin hemdsärmelig hinter dem Schreibtisch, auch wenn seine Hemdsärmeligkeit nur eine Attrappe war, die nichts bewirkte. Er ging weiterhin heiklen Fragen aus dem Weg, indem er im entscheidenden Moment das Taschentuch aus der Hosentasche zerrte, es sich vors Gesicht hielt und kräftig und so lange hineinschnäuzte, bis sich das Momentum des Antwortgebens verzogen hatte, wobei er das rechte Brillenglas gleich mit zudeckte, wenn er die Brille nicht rechtzeitig abnahm, weil es zu eilig war. Da mutete ihm als Einäugigen aber auch keiner eine Antwort zu. Er war nicht dumm, und so zog er es vor, sein Clownsgesicht hinter dem Taschentuch zu verstecken, wenn es um ernste Dinge ging und eine Antwort wirklich erwartet werden musste. Der Toilettenlauf gegen die Zeit mit ihren Problemen blieb sein einsamer Höhepunkt. Die jungen Kollegen in Uniform, die ihre Dienstzeit abgeleistet hatten, wurden nicht mehr durch neue ersetzt. Das war ein deutliches Omen der zugespitzten Situation, wobei sich noch die Frage ergab, wann sich die letzte Spitze abgespitzt hatte oder noch vorher abbrach, was politisch und militärisch dem Ende gleichkommen musste. Es gab neue Gesichter im Besprechungsraum, Gesichter mit asiatischem Einschlag, wenn auch nicht so schlitzäugig wie ein japanisches, chinesisches oder mongolisches Gesicht. Es waren Filipinos, die aus Südafrika kamen und gleich ihre Frauen und Kinder mitbrachten. Zu erklären war das Kommen dieser kurz gewachsenen Bleichgesichter mit den kubischen Köpfen und sanften Gesichtszügen zu diesem Zeitpunkt eigentlich nicht, und noch weniger, dass sie gleich die Familien mitbrachten. War es ihnen in ihrer Heimat, oder als Emigranten in Südafrika so schlecht ergangen, dass sie hier das Paradies fanden oder zu finden glaubten, wo der Krieg erbarmungslos tobte, fragte sich Dr. Ferdinand. Er musste sich Zeit lassen, um eine plausible Antwort darauf zu finden. Ein asiatisches Gesicht gab ihm von jeher Rätsel auf, weil er es nicht lesen konnte und nie wusste, ob ein Lächeln wirklich ein Lächeln war, oder ob sich das Gegenteil dahinter verbarg. Er wusste nur so viel, dass das asiatische Gesicht asiatische Dimensionen des zweigesichtigen Januskopfes hatte, das mit Vorsicht gesehen werden musste. Zu diesem Gesicht passte der Würfelkopf, der von vorn und hinten und von den Seiten betrachtet werden konnte, ohne dass das Gesicht das asiatische Lächeln verlor. Es war schon etwas Unglaubliches, in solche Gesichter zu blicken, in die sich die Ereignisse unweit der angolanischen Grenze nicht einzudrücken schienen, wo doch die letzte Entscheidungsschlacht, bei der so viel auf dem Spiel stand, bereits in vollem Gange war. Das sagte jedenfalls der südafrikanische Brigadier, der vom Pulverfass sprach, auf dem die Weißen säßen, das jederzeit hochgehen konnte. Gehörten die Filipinos nicht auch auf dieses Fass, fragte sich Dr. Ferdinand, oder waren sie rassenmäßig von diesem Fasssitzen ausgeschlossen? Er wusste es nicht, erfuhr aber schon nach zwei Wochen, dass ihnen Häuser im Dorf, das durch das Warnschild „For Whites Only“ gekennzeichnet war, von der Administration zugewiesen wurden. Dr. Ferdinand kam beim Sehen und Denken nicht um den biogenetischen wie burisch politischen Januskopf herum. Die Filipinos waren schon im Alter, dass sie von Enkelkindern sprachen und pensionsberechtigt waren. Offensichtlich genügte das nicht, oder ihnen wurde das Recht des Alters nicht vergütet und ausgezahlt, weil das korrupte System im Heimatland ihnen das Pensionsgeld gekürzt oder weggefressen hatte. Es musste etwas mit dem Geld zu tun haben, warum nun diese asiatischen Gesichter mit der spanisch überstrichenen Tradition und dem katholischen Glauben hier auftauchten, davon war er überzeugt. Die Filipinos waren „Practitioners“, also keine Fachärzte, die an den ländlich abgelegenen Hospitälern der herabgesetzten Qualifikation für die Farbigen und Schwarzen vorwiegend in der Natalprovinz, im Osten Südafrikas, gearbeitet hatten, wo die Überfälle der Zulus auf die Weißen dramatisch zugenommen hatten, welche beraubt und getötet wurden, weil sich auch dort die Eingeborenen gegen die Weißen auflehnten und sich auf traditionelle Weise mit Stöcken und Spießen für die schwarze Armut und den weißen Reichtum rächten. Dr. Ferdinand traute den Filipinos, weil sie eben Asiaten waren, die sich über dreihundert Jahre die europäische Verformung mit dem besonderen Sinn fürs Geld draufsetzen ließen, den asiatischen Riecher für die Zukunft in mehr Sicherheit und den westlich verdrehten Verstand zur klaren Berechnung gleichermaßen zu, die sich in Noten und Münzen auch in der Fremdwährung auszahlen mussten. Er nahm deshalb diese lächelnden Janusgesichter, die das Schicksal vom indischen Ozean bis vor die angolanische Grenze gewürfelt hatte, als weiteres Omen für das nahende Ende. Die neuen Kollegen wurden der inneren Medizin mit den Tuberkulosesälen, der Kinderheilkunde und dem „Outpatient department“ zugewiesen, so dass es für die operativen Fächer keinen Ersatz für jene Kollegen in Uniform gab, die nach Dienstableistung nach Südafrika zurückgekehrt waren. Ein Gutes hatte es, dass nämlich unter denen, die das Hospital verlassen hatten, auch der „Leutnant des Teufels“ war, dem ärztlicher Teamgeist von Anfang an zuwider war, weil er die Zerstörung im Kopf hatte, an der er bis zum Schluss mehr interessiert war als an seinen Patienten, und die er hinterhältig und mit List betrieb. Für Dr. Ferdinand bedeutete es mehr Arbeit, weil die Kollegen in der Chirurgie noch unerfahren waren. Es bedeutete gleichzeitig mehr Seelenfrieden, weil ihm keiner mehr mit böser Absicht hinterherstieg. Er freute sich, dass er den jungen Kollegen in der Orthopädie hatte, der sich anstrengte, sich geschickt beim Assistieren und beim Durchführen kleinerer Operationen anstellte und bei den Patienten und Schwestern aufgrund seiner Freundlichkeit beliebt war. Auch hatte er es als Schriftsteller mit seinem Buch weitergebracht, worin er das Leben des jungen Ehepaars in dem kleinen Dorf an der Palliser Bucht nun doch nicht so schwer machte. Der junge Ehemann hatte bereits eine Arbeit als Mechaniker in einer Autowerkstatt in Wellington gefunden, und seine hübsche, junge Frau, die mittlerweile im vierten Monat schwanger war, wurde neugierig angeblickt, doch nun auch freundlich gegrüßt. Der junge Pastor hatte sich gegen die Gemeindemitglieder durchgesetzt und der schwarzen Ehefrau den Zugang zum sonntäglichen Gottesdienst erwirkt. So weit war doch ein Unterschied zum burisch verquerten anachronistischen System der Rassentrennung in Südafrika erkennbar.

 

Die Sonnenauf- und -untergänge waren so feurig wie eh und je, wenn auch die Sicherheitsmaßnahmen im Dorf sich verschärft hatten und es den Weißen unter Strafe gestellt war, die schwarze „Meme“ (Putz- und Bügelfrau) oder irgendeinen Schwarzen über Nacht im Hause schlafen zu lassen. Die Weißen machten sich Sorgen, was kommen würde, und die Angst hatte sich auf ihre Augen gelegt. Keiner traute der Zukunft noch so recht über den Weg, zu verfahren war die politische Kiste. So verwunderte es nicht, dass sich die Gesichtszüge in Richtung einer Selbstrettung nach dem Motto vergröberten: „Rette sich, wer kann!“ Es war Samstagnachmittag. Dr. Ferdinand setzte sich in den blauen Käfer und fuhr zum Postamt, um nach seiner Postbox 1416 zu sehen, die leer war. Er stieg wieder ein und setzte die Fahrt zum Dorfausgang bis zur Sperrschranke fort, wo sich die getarnte doppelte MG-Stellung auf dem Dach des wiederhergestellten Wasserturms befand. Dr. Ferdinand zeigte sein „Permit“ und konnte sitzen bleiben, als zwei Wachhabende in den Innenraum sahen, Motorhaube und Kofferraumdeckel hochhoben und wieder fallen ließen und die Schranke zur Weiterfahrt hochstellten. Der Versuch, die tiefen Schlaglöcher bis zur „T“-Kreuzung der Teerstraße zu umfahren, glückte nicht ganz, so dass die Räder einige Male kräftig hineinschlugen. Er hatte sich vorgenommen, die Fratres in der Missionsstation Okatana zu besuchen, und so bog er nach einem Kilometer von der Teerstraße nach rechts ab und fuhr an den armseligen Wellblechhütten von „Angola“ vorbei, wo die Armut und eine große Zahl angolanischer Flüchtlinge mit ihren kinderreichen Familien hausten. Schlanke Schweine mit faltig hängenden Bäuchen liefen neben mageren Ziegen, denen die Beckenknochen höckrig herausstanden, und rippig felldürren Hunden herum. Sie alle waren auf der Suche nach Ess- und Kaubarem. Unter den Hunden war eine ausgemagerte Hündin mit leeren, faltig hin und her schaukelnden Zitzen, aus denen drei junge Welpen den letzten Tropfen mit hungrigen Mäulern ausquetschten und ungehalten über die magere Ausbeute waren, indem sie in die Zitzen bissen, dass die Mutter vor Schmerzen aufschrie und trotzdem stehen blieb. Die Sandstraße mit den tief ausgefahrenen Reifenspuren der „Casspirs“ begann, und der Käfer schaukelte nach beiden Seiten. Dr. Ferdinand sah links den Wasserturm, von dem aus man ihm bei einer frühnächtlichen Rückfahrt von der Mission zunächst Leuchtkugeln in Blau, Rot und Gelb vor die Windschutzscheibe und schließlich scharf hinterher und nach seinem Leben geschossen hatte. Er bedankte sich noch einmal bei seinem Schutzengel, der ihn mit dem Käfer in eine riesige Sandwolke gesteckt hatte, dass den Augen hinter dem MG das Sehen verging. Die Spuren der „Casspirs“ waren tiefer und zahlreicher als bei seiner letzten Fahrt, was der letzten Entscheidungsschlacht durchaus entsprach, bei der so viel auf dem Spiel stand. Dass sie aber unmittelbar ans Missionsgelände heranführten und den Platz vor dem kleinen Missionshospital und der schlichten Kirche kreuz und quer aufgewühlt hatten, das war ein schlechtes Zeichen. Da musste erst kürzlich etwas passiert sein, denn sonst hätten die Menschen mit den Schwestern und Fratres den Sand schon wieder glatt geharkt, weil sie die Ordnung liebten und den Frieden für den Gottesdienst am morgigen Sonntag brauchten. Das Tor war verkettet. Dr. Ferdinand wartete, bis eine Schwester mit Küchenschürze und Schlüssel aufs Tor zukam, es öffnete und dann wieder verkettete und das Schloss einhängte, als er das Haus der Fratres erreichte und den Käfer in den Schatten einer üppigen Baumkrone abstellte. Die Tür zum langen Flur war nicht verschlossen, so dass er den Weg zum dritten Raum links nahm, in dem drei Fratres saßen, von denen einer bereits betagt war. „Ach, Herr Doktor, das ist ja schön, dass Sie wieder mal kommen, Sie waren lange nicht mehr hier.“ Einer legte den „Osservatore“, das offizielle Vatikanblatt in der deutschen Ausgabe, zusammen und auf den Tisch, der andere hielt die „Deutsche Zeitung“, eine Landeszeitung in deutscher Sprache, in der Hand, als sie einander begrüßten. Dr. Ferdinand setzte sich an den Tisch, auf dem noch einige Palmzweige vom vergangenen Palmsonntag lagen. Der andere Frater legte die Zeitung ebenfalls auf den Tisch zurück. „Wissen Sie“, begann der jüngere Frater, der so jung nicht mehr war, „gestern Abend bekamen wir Besuch von der Koevoet. Die durchsuchten die Mission und das Hospital. Die Koevoetleute sagten, dass sie nach Männern suchen, die vor einigen Tagen aus dem Polizeigewahrsam ausgebrochen waren und bewaffnete Männer der SWAPO seien. Wir konnten da nichts machen, weil sie uns nicht glaubten, dass auf dem Missionsgelände diese Männer nicht sind. Können Sie sich die Aufregung vorstellen, es war doch Karfreitag, und die Menschen bereiteten sich auf das Osterfest vor.“ Die anderen Fratres machten ein ernstes Gesicht, und Dr. Ferdinand konnte sich die Aufregung vorstellen. „Sie haben die ganze Mission durchsucht, sind in jedes Krankenzimmer gegangen, wie die Schwester sagte, dass sich die Patienten erschrocken haben. Sie haben die Räume der Schule und die Wohnstellen der Lehrer kontrolliert, waren in der Küche, wo die Schwester und das Personal noch mit dem Aufräumen und Spülen beschäftigt waren, durchsuchten mit hellen Lampen die Halle, wo die Autos stehen. Sie wollten sogar in die kleine Kapelle, wo die Schwestern ihre Nachtmesse hielten. Da bedurfte es des energischen Einschreitens von uns allen, sie von diesem Wahnsinn abzuhalten. Die Kirche haben sie, Gott sei Dank, verschont. Dann haben sie sich den Nachtwächter vorgenommen, den guten, alten Mann, der hier seit vielen Jahren seinen Dienst tut. Frater Huben sah es, wie sie ihn zwischennahmen. Er eilte ihm zu Hilfe. Der alte Mann konnte sich nicht ausweisen, und die Koevoet war schon dabei, ihn zu verladen, was Frater Huben dann noch mit guten Worten verhinderte. Sie hatten hier nichts gefunden, und das wollten sie nicht glauben. Mit den Autos kurvten sie um die Kirche und leuchteten die Gegend ab. Dann fuhren sie in die umliegenden Siedlungen, durchsuchten Kral für Kral und luden einige Männer auf, die sie mit nach Oshakati nahmen, weil sie keine Papiere hatten.“ Dr. Ferdinand dachte an die letzte Entscheidungsschlacht, die vor der Mission nicht Halt machte und nun bis vor die Tür der kleinen Kapelle heranreichte. Der Frater war erregt: „Und das wenige Stunden vor dem Auferstehungsfest des Herrn. Können Sie sich das vorstellen?“ Es war vorstellbar, denn am Oshakati Hospital ging es noch ganz anders zu, da wurden psychisch kranke Patientinnen mit dem Gewehrkolben geschlagen und Männer, die sich nicht ausweisen konnten, trotz ihrer Gebrechen verprügelt und in die Bäuche der „Casspirs“ geworfen. Dr. Ferdinand fühlte sich genötigt, dazu etwas zu sagen: „Es ist schon traurig, wie rücksichtslos die Koevoet mit den Menschen umgeht. Diesen Leuten ist die Achtung vor dem Menschen völlig abhanden gekommen. Die können nicht schreiben und nicht lesen, aber schlagen, das können sie.“ „Sagen Sie das nicht“, erwiderte der betagte Frater, „einige von denen waren hier in der Schule, und ich habe ihnen das Lesen und Schreiben und die Bibelkunde beigebracht. Und das ist es, was mich traurig macht, dass sie trotzdem den Respekt vor den Menschen verloren haben. Denn was hilft die ganze Schule mit der Bibelkunde, wenn sie später als Barbaren wiederkommen und die Mission auf den Kopf stellen, die sie ehren sollten.“ Dr. Ferdinand verstand die Trauer, dass der Unterricht es nicht geschafft hatte, aus den jungen Menschen durch etwas Bildung ältere Menschen zu machen, die Achtung vor dem Menschen hatten und den menschlichen Respekt höher ansetzten als Geld und gutes Essen. „Diese Menschen haben nichts gelernt“, fuhr der betagte Frater mit dem leicht nach vorn gekrümmten Rücken fort. „Sie sind trotz der Schule böse Menschen geworden, weil sie das Wort Gottes entweder nicht verstanden oder verworfen haben. Sie hätten nach seinem Wort fragen sollen. Sie taten es nicht und verluderten in ihrer geistigen Beengtheit mit der Folge, dass sie das fünfte und die anderen Gebote gedanken- und bedenkenlos übertreten. Das konnte ich damals ihren Kindergesichtern nicht ablesen, als sie vor mir auf der Schulbank saßen. Hätte ich es damals geahnt, ich hätte sie als unbelehrbar nach Hause geschickt, denn so viele Kinder warteten vergeblich auf einen Platz in der Schule, um im Lesen und Schreiben unterrichtet zu werden. Für alle reichten die Räumlichkeiten der Schule nicht, und ich war der einzige Lehrer.“ Das ging Dr. Ferdinand gründlich durch den Kopf, weil er sich fragte, ob ein Lehrer es erwarten durfte, dass alle Kinder gute Menschen werden, wenn sie Unterricht bekommen und noch gute Noten in der Schule schrieben. Die Welt müsste dann doch viel besser sein, wenn die Schule in der Lage wäre, gute Menschen heranzubilden. Doch der Teufel in der Welt ist kein Dummkopf, er führt seine Leute mit blendender Bildung, hoher Intelligenz und einer fertigen Sprache vor, in der hypnotische Kräfte sind, die die menschliche Vernunft ins Verderben schickt. Er fragte deshalb den Frater, ob er das nicht zu pessimistisch sehe. „Mag sein“, antwortete er, „aber glauben Sie mir, ich sage es aus meiner langjährigen Erfahrung, der Spalt zwischen Pessimismus und Optimismus ist ein sehr schmaler. Es bedarf nur eines kurzen Steges, den schmalen Spalt der Realität nach beiden Seiten hin zu überqueren, weil die Realität in einer tiefen Schlucht schlummert und nur wie die Spitze des Eisbergs hervortritt. Natürlich sieht die Eisbergspitze anders aus, je nachdem, wie sie von der Sonne beleuchtet wird, weil eine Seite im Licht und dafür die andere Seite im Schatten liegt, wobei aber der ganze Eisberg gar nicht erst ans Tageslicht kommt. Und da liegt das Problem. Ähnlich ist es mit dem Menschen, wenn er noch auf der Schulbank sitzt, sie sehen ihm in die Augen und glauben seinen Charakter zu erkennen und können es nicht begreifen, wenn er sich ganz anders entpuppt.“ Dr. Ferdinand stieg der Schluchtabbildung nach und fragte ihn, wie er sagen konnte, jene Kinder, die sich später nicht zum reifen Menschen entpuppt hatten, als unbelehrbar nach Hause zu schicken, wenn er es damals geahnt hätte. „Sehen Sie“, sagte der alte Frater, „das Leben ist kurz, und so gibt es nur wenige Chancen, ein Mensch zu werden, während für den Unmenschen die Chancen viel größer sind. Die Kinder mit den harmlosen Gesichtern, die den Keim zur Menschenverachtung bereits in sich trugen, verwehrten anderen Kindern mit denselben Gesichtern der Unerfahrenheit den Schulbesuch, weil es die Räumlichkeiten und ich als einziger Lehrer nicht schafften. Und da bin ich der Meinung, dass da im richtigen Augenblick die falsche Auslese getroffen wurde, weil unter diesen Kindern auch jene Kinder waren, die den Keim zur Menschlichkeit in sich hatten und bedauerlicherweise vom Bildungsprozess ausgeschlossen wurden, weil sie keinen Unterricht im Lesen und Schreiben und der Bibelkunde bekamen. Da mache ich mir den Vorwurf der falschen Auslese, den mir keiner nehmen kann. Oder glauben Sie, dass Sie es besser gekonnt hätten?“ Dr. Ferdinand schaute dem betagten Frater ins Gesicht, der sich die Brille putzte, und musste nach Worten suchen: „Nein, das mit der Auslese zur richtigen Zeit, das hätte ich mit Sicherheit nicht gekonnt, dafür verstehe ich zu wenig vom Menschen.“ „Sehen Sie, nun verstehen Sie mich besser, denn das war mein Problem, das ich nicht lösen konnte, und deshalb halte ich den Selbstvorwurf aufrecht“, sagte der Frater. „Gibt es denn Menschen, die das mit der richtigen Auslese zur richtigen Zeit können?“, fragte Dr. Ferdinand naiv. Der Frater: „Das weiß ich nicht, doch entbindet mich das ungelöste Problem nicht von der übernommenen Verantwortung als Lehrer, selbst wenn es unlösbar ist.“ Dr. Ferdinand erwähnte in diesem Zusammenhang, dass das Problem der menschlichen Geringschätzung auch bei Ärzten vorzufinden war, die aus egoistischen Motiven heraus an der Gemeinschaft wie Ratten nagten, die sich dem Teamgeist widersetzten, weil sie darin keinen Vorteil sahen, die ihn zerstörten, weil sie den Keim der Zerstörung in sich trugen und sich um die Nöte der Patienten nicht kümmerten, weil ihnen die Menschlichkeit fehlte, von der sie nur dann sprachen, wenn es sie selbst betraf.

 

Das verwunderte den Frater überhaupt nicht. Er nahm es mit dem kleinen Einmaleins auf, als er sagte, dass das nur eine logische Folge sei, wenn einer das Einmaleins nicht gelernt hatte und später die Eins nicht von der Zwei unterscheiden will, weil er die Zwei für unteilbar hält. Es kam einer Quadratur des Kreises gleich, und so ließen sie das Problem der Auslese bei der Eins bewenden. Die Fratres nahmen Dr. Ferdinand mit zum Abendessen, der Zeuge eines ergreifenden Gebetes wurde, das Frater Huben sprach: „Herr, sieh in unsere Herzen, die versandet sind, gib uns die Kraft, die heiligen Räume vom Sand zu befreien. Sag uns, wie wir’s machen sollen, denn wir sind zu schwach geworden, den Sand herauszuschaufeln, weil wir das Licht der Zuversicht verloren haben. Wir sitzen beengt und gedrückt und wissen nicht, wie wir uns noch helfen sollen, weil immer wieder die Sandlawinen von oben herabdonnern und uns mit Angst und Schrecken zuschütten. Wir zittern vor dir, weil wir dein Wort nicht befolgen und uns der Mut fehlt, dein Wort ernst zu nehmen und es ohne Wenn und Aber in die Tat umzusetzen. Gib uns die Kraft, dein Wort so aufzunehmen, wie du es willst und nicht, wie wir es wollen, weil wir da immer etwas weglassen, und da die Lüge beginnt. Dass du die Armen und Hungrigen, die Verstoßenen und Kranken nicht vergisst, das sprechen wir dir zu; wir sind uns aber nicht sicher, ob wir an diese Menschen genug denken und für sie genug tun, wenn wir vor dem vollen Teller sitzen und ihn leeren, denn im Teilen mit den Armen, da hapert es noch, weil wir zur Nächstenliebe uns selbst überwinden müssen. Herr, stelle die Weichen für den Frieden, denn wenn du in die Herzen siehst, dann findest du sie aufgewühlt wie den Platz vor deiner Kirche, wo die Reifen der Gewalt mit dem groben Profil tief das Kainsmal eingefahren haben. Morgen ist das Fest der Auferstehung, und die Menschen sind voller Erwartung. Nimm uns als deine Kinder an mit all unseren Fehlern und Sünden, die wir täglich begehen, weil wir schwach sind, und verstoße uns nicht. Gib uns das rechte Wort zum Beten und die Kraft des Glaubens, dass wir den Sand aus deinen Räumen herausschaufeln und sie sauber fegen, damit wir dein Wort besser hören und uns nicht länger hinter der Taubheit verstecken. Darum bitten wir dich im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes. Amen!“

Es gab eine leichte Kost mit saurem Hering, der herzhaft schmeckte, Salzkartoffeln und in Zitrone angemachten grünen Salat. Dazu wurde hausgemachter Zitronensaft getrunken, der gut gesüßt und durch Eiswürfel kalt gehalten war. Er löschte den Durst auf erfrischende Weise, wobei auch die Zunge auf ihre Kosten kam. Nach dem Essen erzählte Dr. Ferdinand noch einige Anekdoten aus dem Hospital, und die Fratres lachten auf, als er auf den Superintendenten zu sprechen kam, der jedes Mal das Taschentuch aus der Hosentasche zog und sich so lange vors Gesicht hielt und hineinschnäuzte, bis er meinte, dass sich eine Antwort auf Fragen bezüglich des rüden Verhaltens der Koevoet erübrigte. Die jüngeren Fratres lachten sich schief, als er ihnen die Flucht des Superintendenten aus dem Besprechungsraum schilderte, bei der er vor der Tür gefallen wäre, wenn er ihn nicht aufgefangen hätte, und auf die Toilette rannte, um sich vom restlichen Alkohol, den er am Abend zuvor mit dem Kommandeur bis zur Augenröte genossen hatte, zu befreien und auf diese Weise einer Stellungnahme zum Antrag zweier Kollegen aus dem Wege lief, dass er dem Kommandeur der Koevoet von dem rücksichtslosen Vorgehen seiner Leute den Patienten gegenüber Mitteilung geben sollte, damit das in Zukunft unterblieb. Der betagte Frater schmunzelte und machte eine fast philosophische Bemerkung, als er sagte, dass es in Zeiten wie dieser schwer sei, Verantwortung zu tragen, weil die Prinzipien von Recht und Ordnung ihre Gültigkeit verloren hätten. Dr. Ferdinand stimmte ihm zu und fügte an, dass das wahrscheinlich auch für den Superintendenten zutraf, weil der sich so lange auf der Toilette versteckt hielt und sich dort entleerte, bis die Anwesenden nach zehnminütigem Warten die Besprechung für beendet erklärten und den Raum verließen. Es gab ein lachendes „Auf Wiedersehen!“, als Dr. Ferdinand in den Käfer stieg und die Scheibe herunterdrehte, um den Fratres ein frohes Osterfest zu wünschen. Ein Frater sagte, ähnlich wie beim letzten Mal, dass es schön und interessant war und fügte diesmal hinzu: „Da haben wir ja richtig lachen können.“ Der andere Frater hatte das Tor schon aufgeschoben, als Dr. Ferdinand das Licht anstellte, wendete und an der Torausfahrt noch einmal anhielt, um auch diesem Frater frohe Ostern zu wünschen. Dann setzte er die Fahrt über den Platz fort, der von den breiten Reifenspuren der „Casspirs“ aufgewühlt war, und hörte bei der ersten Linkskurve noch, wie der Frater die schwere Kette ins Tor einhängte.

Dr. Ferdinand schaukelte sich langsam über die eingefahrenen Gräben, schob das Bodenblech kratzend über die aufgeworfenen Sandhügel auf der Straße und schlug mit den Rädern in tiefe Löcher, die nicht zu umfahren waren, als ihm eine Kolonne von „Casspirs“ mit aufgeblendetem Licht entgegenkam. Er brachte den Käfer am leichten Abhang des Straßenrandes zum Stehen, ließ den Motor laufen und überließ der Kolonne die freie Fahrt, die mit Getöse und fünf Fahrzeugen an ihm vorüberraste und ihn in eine dicke Sandwolke hüllte, so dass er für einige Minuten von der Straße nichts mehr sah. Er setzte die Fahrt fort, als die Straße wieder zum Vorschein kam, und sah einen Esel mit allen vier Beinen nach oben am Straßenrand liegen, der offenbar von einem „Casspir“ mitgerissen und in den Tod geschleudert wurde. Ein zweiter Esel beschnupperte ihn, um sich Gewissheit zu verschaffen. Er stand begriffsstutzig und störrisch daneben und hielt dazu das rechte Hinterbein hoch und angewinkelt. Dr. Ferdinand sah das Licht auf dem abgelegenen Wasserturm und wollte es diesmal nicht auf Leben und Tod ankommen lassen. So nahm er noch vor der lang ausgezogenen Rechtskurve den schmalen Weg zum Turm, setzte den Gang zurück, um sich mit mehr Kraft durch die hohen Sandbänke zu schieben und erreichte mit Mühe den Außenposten der Kontrolle. Soldaten mit entsicherten Gewehren nahmen die Kontrolle vor, denen er das „Permit“ zeigte. Sie unterzogen den Käfer der militärischen Inspektion mit dem erwarteten Misstrauen, leuchteten den Innenraum aus, verschoben die Sitze nach hinten und vorn, fuhren mit den Händen unter den Sitzen entlang, hoben das Ersatzrad im Kofferraum hoch, besahen sich den luftgekühlten Motor und gingen einige Male um das Fahrzeug herum. Sie gaben ihm das „Permit“ zurück und fragten nach dem Grund seiner Reise durch die Dunkelheit. Er sagte ihnen, dass er die Fratres in der Missionsstation besucht hatte, die ihn noch zum Abendessen eingeladen hätten, was ihnen schließlich reichte, um ihn weiterfahren zu lassen. Dr. Ferdinand fand den Wasserturm mit der aufgesetzten MG-Stellung zur Festung ausgebaut, um die herum zwei „Casspirs“ standen, auf denen über der Luke des Fahrerhauses Männer MGs nach links und rechts drehten, als hätten sie etwas im Visier. Er setzte die Fahrt auf dem ausgefahrenen Weg fort, wobei er stecken blieb, bevor er die Straße mit der lang gezogenen Rechtskurve erreichte. Er setzte zurück, zog den Käfer aus dem Sand, wechselte von der rechten auf die linke Spur und drückte den Fuß aufs Gaspedal, woraufhin der Käfer sich durch die Sandbank bis zur Straße hochschob. Es war dunkel über „Angola“, wo sich die Menschen in die Hütten verpfercht hatten. Einige abgemagerte Hunde streunten ziellos auf der Straße herum, weil sie nicht fanden, was sie suchten, und liefen, mitunter auf drei Beinen und alle mit eingezogenen Schwänzen, dem Käfer im letzten Augenblick aus dem Weg. Auf der Straße waren keine Menschen, als Dr. Ferdinand auf der geteerten Straße nach links abbog und das Leben den Geist aufgegeben hatte, bis er nach einem Kilometer nach rechts abbog, noch einmal kräftig die Räder schlagen ließ und vor der Sperrschranke anhielt, wo auf dem zurückgesetzten Wasserturm gleich zwei MGs in Stellung waren. Sechs Wachhabende versahen hier den Dienst. Er zeigte sein „Permit“ vor und hatte mehr Geduld als Verständnis, als zwei Wachhabende das Auto auf den Kopf zu stellen versuchten und trotzdem nichts fanden, weder im Innen- noch im Kofferraum. Bodenblech und Kotflügel gaben ebenfalls nichts her. Er war nun im Dorf, in dem kleine Mannschaftswagen Patrouille fuhren, auf denen junge Soldaten auf längs gestellten Bänken saßen und die Gewehre zwischen den Beinen hielten. Dr. Ferdinand zog den Zündschlüssel heraus, als der Käfer unter dem Dach des Abstellplatzes stand, setzte sich auf die Stufe zur Veranda und zündete sich eine Zigarette an. Ostern stand vor der Tür. Es war kein Ostern, wie er es sich wünschte, und so dachte er, was anders sein sollte, um das große Fest mit dem Frieden zu verbinden. Für ihn bestand kein Zweifel, dass das System abgewirtschaftet war, aber eben noch nicht ganz, und er rechnete mit Dingen von noch größerer Verdorbenheit bei Menschen, die hier auftauchen und wie Ratten umherhuschen und nach Beute jagen würden. Es waren die Typen, die aus dem letzten Durcheinander ihren Vorteil zogen, rücksichtslos vorgingen und den instinktsicheren Riecher hatten, rechtzeitig vom sinkenden Schiff abzuspringen, um zu den Ersten zu gehören, die in der Schlange standen, wenn es um die Verteilung der Posten und Pöstchen im neuen System ging. Die Beute hatten sie dann längst eingefahren, verscharrt und verscherbelt, so dass sie wieder das harmlose Gesicht aufsetzten, das kein Wässerchen trüben konnte, wobei diese Schweinehunde immer wieder Erfolg hatten, weil sie bis auf die Knochen verdorben, bis auf die Zähne skrupellos und bis unters Dach korrupt und gerissen waren. Der alte Frater hatte Recht, als er sagte, dass es in Zeiten, in denen die Prinzipien von Recht und Ordnung ihre Gültigkeit verloren haben, schwer ist, Verantwortung zu tragen, oder, das hängte Dr. Ferdinand dem Satz noch an, es leicht ist, unverantwortlich zu sein. Er schaute in den Sternenhimmel und hörte Schüsse in der Ferne, dann MGs, wahrscheinlich von den Wassertürmen, die ganze Ketten verschossen. Das Militär sparte nicht mit Munition, wenn es um den Verdacht ging, es könnte ein SWAPO-Kämpfer sein, und schoss meist harmlose Zivilisten nieder, die ein weggelaufenes Rind oder ein paar Ziegen einfingen, weil sie auf ihr Fleisch angewiesen waren, woraufhin der Verdacht wie eine Seifenblase in der Luft zerplatzte. Der Krieg, der mit Anstand nichts zu tun hatte, war auf ein Niveau gesunken, das weit unter dem Animalischen lag, wenn die Männer der Koevoet versuchten, in die kleine Kapelle einzudringen, wo die Schwestern ihre nächtlichen Exerzitien und Gebete hielten. Diese grobe Respektlosigkeit muss ein schwerer Schock für die Fratres und Nonnen gewesen sein, die mit einer solchen Verrohung nicht gerechnet hatten. Doch das konnte das Ende noch nicht sein, auch wenn die Stiefel der Gewalt schon an der Türschwelle zur Gebetskammer waren. Dr. Ferdinand, der aufgrund seiner persönlichen Geschichte auch schwarz malen konnte, machte es nicht, weil er nicht gleich den ganzen Teufel an die Wand malen wollte. Ein Ostern im Krieg war wie ein Ei über dem Feuer, dessen Schale zersprang, den Inhalt vergoss und in der Flamme verrußte. Das Osterereignis und seine Bedeutung ließen sich so recht nicht finden, weil das Leben seit Langem aus den Fugen geraten, die Tür zur Zivilisation aus den Angeln gerissen und zerhackt war und der menschlichen Vernunft durch das legalisierte Unrechtssystem der Boden unter den Füßen entzogen und durch Minen und Granaten verwüstet wurde. Der weiße Blick in die Zukunft hatte keine Vision, er war kurzsichtig, weil er aus Angst und nach dem Motto „Rette sich, wer kann!“ zusammengesetzt war. Wie es weitergehen soll? Keiner wusste es, und böse Ahnungen gingen dem Nichtwissen voraus, weil jeder irgendwelchen rassistischen Dreck am Stecken hatte, wenn nicht noch korrupte Machenschaften mit der Selbstbereicherung vor den traurigen Augen der Armen hinzukamen. Jeder stellte seine Vermutungen an, hatte das Bild mit dem sinkenden Schiff bereits im vordersten Denkstübchen über dem Augenfenster aufgehängt und betrachtete es mit Sorge, ohne deswegen an die Schwarzen zu denken, denen es seit Generationen viel schlechter ging, gab sich selbst eine Prognose des „Überlebens“, wobei das Würfeln und Auslegen von Karten im Frage-und-Antwort-Spiel an Bedeutung gewann. Die sonntäglichen Gottesdienste waren gut besucht. Es wurde streng gepredigt und gebetet, und das noch immer in weiß. Die Tauben vor dem kleinen Glockenstuhl nahmen es gelassen hin und kackten den Kirchgängern weiterhin auf die Köpfe, wenn sie sich vor dem Eingang verredeten und nicht ins Innere eilten. Der Hellsichtige, vielleicht der Phantasiebegabte noch, konnte diese grauweißen Kackflecken in den Haaren oder auf den sonntäglich verschönten Schultern als prophetische Zeichen der unausweichlichen Umwälzung deuten. Manche dachten wahrscheinlich schon früher über die Sinnhaftigkeit der Kopfbekackung und der wirksamen Fallgesetze nach, wenn sie zum Glockenstuhl nach oben schauten und den Tauben beim Fallenlassen ihrer Botschaft das rechte oder linke Auge zudrückten. Doch von Hellsichtigkeit und Phantasiebegabung war bei den stiernackigen Querschädeln nicht viel zu merken. So verliefen sich die vorausgedachten Gänge ohne Weitsicht, sie kreuzten und wanden sich in erstaunlicher Kurzperspektive, sie waren verbogen und mussten zum Entgleisen führen. Das Bild der in- und durcheinander gehenden Gleise eines Güterbahnhofs war das Abbild des Durcheinanderdenkens mit all seinen Verwirrungen. Die Weißen wurden geizig bezüglich des Vertrauens; sie trauten eigentlich keinem mehr richtig über den Weg. Sie behielten die Sachen des Vorgedachten für sich und nahmen sich dabei noch der anderen Wertgegenstände an, deren Besitzer sie nicht waren. Mit all den eigenen und fremden Dingen dachten sie verpackungsweise den kommenden Dingen voraus und genierten sich wenig für die schwarz aufgedruckten Nummern an Stühlen, Tischen, Waschmaschinen und Eisschränken, oder die unübersehbaren „SWAA“-Stempel (Southwest Africa Administration), die den Bettbezügen, Decken und Handtüchern heißwaschfest aufgedruckt und an den Unterseiten der Tassen, Untertassen und Teller sogar eingebrannt waren. Es wurde an alles gedacht und über das zulässige Maß probeverpackt, alles sollte verfrachtet werden, was nicht niet- und nagelfest war, um so für den Ernst- und Notfall gerüstet zu sein. Die Verantwortung war eben untragbar in einer Zeit, in der die Prinzipien von Recht und Ordnung ihre Gültigkeit verloren hatten, wie sich der alte Frater jedenfalls ausdrückte. Da war dann die Gedankenverkehrung auch nicht mehr fern, dass in einer solchen Zeit das Tragen von Verantwortung nicht nur unerträglich, sondern mit dem Leben, sprich Überleben, nicht mehr vereinbar und das Festhalten an ihr nicht mehr zu verantworten war. Die Zahl der Weißen, die der Administration noch etwas zutrauten, schwand drastisch, weil sich diese der Verantwortung seit Langem entledigt hatte und die Korruption in hanebüchenem Ausmaß betrieb. Jeder wusste es, weil zu viele daran beteiligt waren. So gab es „gute“ Gründe, diese Sachen nicht noch kurz vor Toresschluss an die große Glocke zu hängen. In dieser Zeit des Durcheinanders ging der Respekt vor dem Fremdbesitz verloren, und das Stehlen des Fremdeigentums, das dem Volk gehörte, war unverkennbar. Das Volk sah es und konnte nichts dagegen machen, weil den Menschen die Rechte der Zivilisation genommen waren. Die Weißen sahen die Schwarzen nicht als ebenbürtige Menschen. Dr. Ferdinand hatte das Bild der kreisenden Geier vor sich, die sich über die vorzerlegte und angekaute Beute hermachten und sie bis auf die Knochen entfleischten. Das konnte nicht gut gehen, wenn es überhaupt keine Moral mehr gab. Was nutzten da die strengen Predigten und Gebete in der weißen Kirche und die gurrenden und kackenden Tauben, fragte er sich mit einem Anflug der Depression. Er verstand den Brigadier besser und glaubte ihm, was er in einer Morgenbesprechung angekündigt hatte, dass er wie die anderen Weißen auf einem Pulverfass saß, das jederzeit hochgehen konnte. Wer sich so benahm, hatte es anders nicht verdient; einen Höhenflug, wie ihn Graf Münchhausen seinerzeit machte, würde es mit Sicherheit nicht geben, damit war Dr. Ferdinand auch einverstanden. Er schloss seine vorösterliche Betrachtung ab, knipste das Licht im Wohnzimmer an und machte sich einen Kaffee, las in den „Großen Philosophen“ und nickte im Sessel ein. Später im Bett zog er sich die Decke bis unters Kinn.