David, das vergessene Kind

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David, das vergessene Kind
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Helmut Lauschke

David, das vergessene Kind

Zwischen Turm und Graben

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Bahnsteig 3

Die ersten 5 Tage

Auf dem kleinen Bauernhof

Die erste Nacht im Heuschober

Die erste Probe im Überlebenskampf

Das Attentat

Nach dem Krieg

Vortrag 1

Vortrag 2

Impressum neobooks

Bahnsteig 3

Zwischen Turm und Graben

Zurück ließ der Zug das Kind im stobenden Schnee und tobenden Wind. Das Kind wartet auf die Mutter und ihre Hand, alles andere ist dem Kind doch unbekannt.

Angst und Stürme trüben weinende Augen in donnernden Weiten der Trümmer und Toten. Verlassen steht das Kind in die Dunkelheit hinein, es ruft nach der Mutter verloren und allein.

Es war zu Zeiten, als Menschen in vollgestopften Viehwaggons in die Vernichtungslager im besetzten Polen transportiert wurden. Elie Wiesel fügt den schrecklichen Geschehnissen den Satz (“Die Nacht zu begraben, Elischa”) hinterher: Das Glück ist dort oben. Alles ist dort hinauf geflüchtet. Wie leer ist es hier unten! Dort ist das wahre Leben, hier unten ist nichts. Nichts, Kathleen. Hier ist die trockene Wüste, die jeder Fata Morgana bare Wüste.“

Es ist der Bahnhof, wo das auf dem Bahnsteig übersehene und zurückgelassene Kind seine Eltern im Zug davonfahren sieht. Es ist eines von vielen Kindern, das zu Tode erschrickt, nach seiner Mutter ruft und die Eltern nicht wiedersieht.

Es war ein kleiner Junge von magerem Körperbau, der zurückgelassen und verloren auf dem Bahnsteig stand und von einer Frau in Wehrmachtsuniform aufgelesen wurde. „Junge, hier in der Kälte kannst du nicht bleiben“, sagte die Frau, hob ihn auf und trug ihn in einen kleinen Raum, der beheizt war. „Auf wen wartest du?“, fragte sie. „Auf meine Eltern, sie sind ohne mich mit dem Zug abgefahren“, antwortete der Junge. Die Frau in Wehmachtsuniform machte ein ernstes Gesicht. „Wie heißt du denn?“, fragte sie. „Ich heiße David.“ Die Frau in Uniform: „Und woher kommst du?“ Junge: „Wir sind auf einem Lkw aus dem Dorf Brimitz in die Stadt und dann zu Fuß zum Bahnhof gebracht worden, wo wir auf dem Bahnsteig zu warten hatten.“

Die Frau in Uniform mit ernstem Gesicht: „David, hier kannst du nicht übernachten und auch nicht bleiben. Verhalte dich still, ich komme in einer Stunde zurück und hole dich ab. Ich muss die Tür abschließen und das Licht ausmachen für die Wartezeit. Du musst keine Angst in der Dunkelheit haben. Ich komme bestimmt zurück, dann nehme ich dich hier heraus. Hast du das verstanden?“ Junge: „Ja, das habe ich verstanden und warte auf dich. Noch eine Frage: Kommen denn meine Eltern wieder zurück? Ich frage deshalb, weil jedes Kind seine Eltern braucht und ich so liebe und fürsorgliche Eltern habe.“ Die Frau in Uniform: „Das weiß ich nicht, diese Frage kann ich dir auch nicht beantworten. Also warte, bis ich in einer Stunde wieder zurück bin, um dich zu holen.“

Die Frau knipste das Licht aus, verließ den Raum und verschloss die Tür. David, der zurückgelassene Junge von neun Jahren fühlte sich total verlassen. Er betete, wie es ihm die Mutter beigebracht hatte, und bat den lieben Gott, dass seine Eltern bald zurückkehren sollen, weil er ohne sie nicht leben könne. Er schläft auf dem Stuhl ein. Im Traum erscheinen seine Eltern, die ihm zulächeln und mit den Worten trösten, dass er nicht traurig sein soll, denn sie würden bald wieder zurückkehren und in der Kälte die Wohnung trotz fehlender Briketts, aber mit rohen Braunkohlestücken anheizen und gemütlich machen. David erwidert den Eltern im Traum, dass sie sich beeilen sollen zurückzukommen, denn er muss doch etwas zu essen und sein Bett für die Nacht zum Schlafen bekommen.

Die Frau in Uniform öffnet die Tür, knipst das Licht an und weckt David aus dem Schlaf. Er erschrickt, weil er vergessen hat, dass er in einem, wenn auch angeheizten Raum im Bahnhof sitzt und dort eingeschlafen war. Mit dünnen Erinnerungsfäden fragt er sich, als ihm die Frau in Uniform die Hand auf die rechte Schulter legt und weckt, ob es wahr sein kann, dass er hier seine Eltern gesehen und mit ihnen gesprochen habe, die ihm zugelächelt und mit den Worten getröstet haben, dass sie bald wieder zurückkommen und die Zimmer anheizen und gemütlich warm machen wollen. Von dieser Kommunikation des Schweigens bekommt die Frau in Uniform nichts mit, als sie dem kleinen David in die verträumten Augen blickt, diesem Blick aber nicht weiter in die Tiefe folgt, und ihm sagt, dass es bald Mitternacht sei und sie den Bahnhof umgehend zu verlassen haben.

David erhebt sich vom Stuhl, dessen Kopf bei einer körperlichen Kürze der Frau in Uniform unterhalb ihrer Schultern bleibt. Nach einem kurzen Gang zur Toilette verlassen beide das Zimmer. Die Frau knipst das Licht aus, schließt die Tür und das Schloss und nimmt David an die rechte Hand. Dabei bemerkt sie sein Zittern der Hand und seines Körpers sehr wohl. Als gäbe ihnen die Stockdunkelheit draußen den Schutz der gewünschten Tarnung, verließen sie den Bahnhof und den Bahnhofsplatz und gingen einige hundert Meter durch eine schmale Straße. Von den Reihenhäusern auf beiden Straßenseiten waren nur wenige Fenster trüb beleuchtet. Gesprochen wurde kein Wort, um jedem Verdacht so weit wie möglich aus dem Weg zu gehen.

Von dieser Seitenstraße nahm die Frau in Uniform einen Gang zum Hinterhof, wo sie vor einem kleinen Haus, wo zu besseren Zeiten die Bediensteten ihre Unterkunft hatten, stehen, öffnete das Schloss, dann leise die Tür und verschloss beides, nachdem sie den kleinen und kurzen Flur betreten hatten, ohne jegliches Klappergeräusch des Schlüsselbundes. Auch hier führte sie David in ein kleines Hinterzimmer und knipste das Licht erst an, nachdem sie sichermachte, dass der Vorhang vor dem kleinen Fenster zugezogen war. In den Vorderzimmern blieb das Licht aus, weil die Frau in Uniform keinen unnötigen Verdacht bei den Mietern im Vorderhaus, das zweistöckig war, wecken wollte.

Hier in dem kleinen Hinterzimmer gab sie dem kleinen David mit dem ängstlichen Gesicht die ersten Verhaltensregeln, die dringend einzuhalten waren, um der drohenden Gefahr der Denunzierung vorzubeugen, denn jedes Versagen diesbezüglich würde mit der schwersten Strafe belegt, was der von Angst geschüttelte David allerdings nicht wusste. Bei der Auflistung dieser Maßnahmen, die für das Kind endlos lang ist, fragt David im leichten Stotterton, ob denn seine Eltern hier finden würden. „Das weiß ich nicht, aber zu allererst geht es um deine Sicherheit, die im höchsten Maße gefährdet ist, was dein Leben mit dem Überleben betrifft“, erwiderte die Frau mit der aufgeknöpften Uniformjacke.

Da David das Gesicht der tausend Fragen machte, hielt ihm die Frau mit besorgtem Gesicht vor, dass nun nicht die Zeit der vielen Fragen und insbesondere nicht die Zeit der Beantwortung der vielen Fragen sei, weil die oberste Priorität die absolute Stille zu dieser späten Abendstunde habe. Die Zeit für die Fragen und ihre Antworten werde kommen, aber nicht jetzt in der ersten Nacht nach Verlassen des Bahnhofs, weil der Zug mit seinen Eltern ihn, den kleinen David, auf dem Bahnsteig zurückgelassen haben. David zitterte am Körper, und Tränen benetzten seine Augen, dass ihm die Frau der ersten Hilfe die Hand gibt, um ihn zu trösten und dabei an die Vorbereitungen denkt, was den Schlafplatz für den kleinen ‚Nachtgast‘ betrifft.

Den Rest der Nacht verbrachte David in einem alten Sessel, da es kein zweites Bett im kleinen Hinterhaus gab. Die Frau steht zwischen acht und neun in Wehrmachtsuniform vor ihm und sagt, dass in der Küche das Frühstück auf ihn warte, das aus zwei Scheiben Graubrot beschmiert mit Margarine und mit Rübenmarmelade besteht, zu dem es eine Tasse warmen Getreidekaffee der Marke Kathreiner gibt. Die Frau sagt, dass er vorher die Toilette benutzen und mit der gefüllten Wasserkanne spülen soll, um das Spülgeräusch bei der Entleerung und Füllung des Wasserbehälters zu vermeiden. Zum Zähneputzen könne David ihre Zahnpasta gebrauchen aber nicht ihre Zahnbürste benutzen, die sollte er mit dem Zeigefinger ersetzen, der mit der Zahnpasta über die Zähne fährt und reibt. Gesicht und Oberkörper könne er über dem Waschbecken waschen, wozu er ihre Kernseife benutzen könne. Das Wasser kommt kalt aus dem Wasserhahn, da sie sich, wie die meisten Menschen der Zeit, das warme Wasser nicht leisten könne. Ein kleines Handtuch zum Abtrocknen hänge neben dem Waschbecken.

Die Frau in Uniform sagt noch, dass sie gegen halb neun das Haus verlassen müsse, um pünktlich bei der Arbeit zu sein. David soll sich während ihrer Abwesenheit ruhig im Haus verhalten, dessen Fenster mit der Gardine zugezogen sind und die Haustür abgeschlossen ist. Er soll die Vorsichtsmaßnahmen unbedingt einhalten, um jeglichem Verdacht einer zweiten Person im kleinen Hinterhaus entgegenzuwirken, denn bei Nichtbeachtung stehe ihr und sein Leben unweigerlich auf dem Spiel, denn die Straßen- und Häuserkontrollen sind strikt und unbarmherzig. Sie werde gegen Abend von der Arbeit zurückkommen und ihm das Abendessen bereiten. „Für den Mittag habe ich dir zwei Brotscheiben mit Margarine und Rübenmarmelade auf einem Teller auf die Anrichte neben den Küchentisch gestellt“, sagt die Frau kurz vor halb neun und verlässt in Uniform das Haus und verschließt die Eingangstür.

 

Für David ist es eine riesengroße Herausforderung, die Vorsichtsmaßnahmen einzuhalten, wobei er sich in einem völlig fremden Haus aufhält, in dem er sich nicht auskennt. Zum Vorteil ist die Kleinheit des Hauses mit der selbst für ein Kind auffälligen Einfachheit der Einrichtung, die ihm leichter machen, sich mit den Gegebenheiten vertraut zu machen. Er tut die Zahnpasta auf den rechten Zeigefinger und fährt mit diesem Finger über die Zähne. Das Reiben des Fingers ist über der Außenseite der Zahnreihen leicht, über der Innenseite der Zahnreihen aber nur schwer möglich, dass er die Reibeprozedur bald abbricht. Das Waschen des Gesichtes und des Oberkörpers mit kaltem Wasser macht ihm dagegen keine Schwierigkeit, war das Wasser zum Waschen von Gesicht und Körper zu Hause doch auch nur kalt.

In dem kleinen Handtuch, das rechts neben dem Waschenbecken hängt, trocknet er sich ab, fährt sich mit den Fingern als Kammersatz durch die Haare und zieht sich im kleinen Hinterzimmer neben dem alten Sessel als Bettersatz die Sachen an, die nach der Fahrt- und Gehprozedur des Vortages fleckig verdreckt ist. An der Hose gibt es sogar einen Riss von Zentimeterlänge. David geht in die kleine Küche und nimmt das Frühstück aus zwei Brotscheiben mit Margarine und Rübernmarmelade ein. Der warme Getreidkaffee der Marke Kathreiner sagt ihm am meisten zu. Er hält die halb leer getrunkene Tasse in den Händen, als er versucht, mit seinen Eltern den telepathischen Kontakt aufzunehmen. In sich hinein ruft er die Namen seines Vater und seiner Mutter, was nach draußen abgeschirmt sein musste, um keinen Verdacht mit der angeketteten Lebensgefahr aufkommen zu lassen. So ruft David mit größtem Verlangen die Namen seiner Eltern in sich hinein, aber er bekommt keine Antwort, wie er sie so leicht in seinem Ruftraum im abgedunkelten und verschlossenen Zimmer im Bahnhof bekommen hatte.

Es füllt ihn mit Angst und größter Sorge, dass die Kommunikation mit seinen Eltern abgebrochen ist, bis sich beim xten Mal der Wiederholung des Rufes von ganz weit weg eine Stimme hörbar macht, die die Stimme seiner Mutter war und dem Sohn mitteilte, dass der Zug dort angekommen war, wohin er mit den vielen überfüllten Waggons die Menschen zu fahren hatte. „Wo bist du, und wo ist Vater?“, ruft David laut in sich hinein, was von draußen nicht zu hören war. Mutters Stimme beginnt zu schwanken, als sie sagt, dass sie und der Vater getrennt seien, nachdem sie aus dem Waggon ausgestiegen waren. „Was sagst du?“, schrie David aufgeregt in sich hinein. Im Schwanken wird Mutters Stimme immer leiser und erlischt, ohne die Frage zu beantworten, wo der Zug sie und den Vater hingefahren hat. Es ist auch das letzte Mal, dass David einen Sprechkontakt mit der Mutter herstellen konnte. Was sich hinter dem Erlöschen von Mutters Stimme noch alles tun sollte und dem Kind gegenüber verschwiegen wird, das kann der kleine David in seinem kindlichen Glauben an das Gute im Menschen nicht einmal ahnen.

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