Der Arzt Björn Baródin

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Der Arzt Björn Baródin
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Helmut Lauschke

Der Arzt Björn Baródin

Roman

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Roman

I

Vor dem Ende des Medizinstudiums

Mutters Geburtstag und die vollendete “russische” Sonate

Anekdoten aus dem Hörsaal

Das Examen

Der weitere Gang in der Medizin

Assistentenzeit und die akademische Leiter

Das Sommersymposium

Der plötzliche Tod von Professor Kretschmar und die Folgen

Der Chefwechsel - ein Formatabrutsch

II

Ein neuer Anfang

Die Antrittsvorlesung über die Psychose im Wandel der Gesellschaft

Das erweiterte Privatleben und das tragische Ende von Professor Reuter

Zwischenfall mit Kopfplatzwunde. “Buddenbrooks kleine Malschule” und die “holsten’schen” Musikabende

III

Der Griff nach der letzten Leitersprosse. Björn Baródin – sein eigener Chef

Die Begegnung mit dem Pianisten Joschua Klingenfeld

Der tödliche Strick und das fruchtlose Gespräch mit dem Verwaltungsleiter

Die ersten “Nordlichter” im Malen und Musizieren. “Ludwig van Beethoven, der zweite”

Ein schwieriger Auftrag

Besuch von Professor Töpfer und der Klavierabend mit “Ludwig van Beethoven”

Das Abendgespräch am langen Tisch

Buchbeitrag

Impressum neobooks

Roman

Die Namen der Personen, Orte und Einrichtungen bzw. Institutionen sind frei erfunden.

I

Vor dem Ende des Medizinstudiums

Es war im letzten klinischen Semester und vom Ende des Studierens der Medizin nicht mehr weit, als Professor Kretschmar im Hörsaal der Klinik für Neurologie und Psychiatrie über die Geisteserkrankungen des Menschen las, nachdem er die Kapitel der neurologischen Erkrankungen abgeschlossen hatte. Die neurologische Vorlesung war einmal wöchentlich und fand Freitagnachmittag um vier Uhr statt. Es war auch die letzte klinische Vorlesung der Woche.

Björn Baródin gefiel der lebhafte Stil der Vorlesung von Professor Kretschmar. Überhaupt faszinierte ihn das Fach der Neurologie und Psychiatrie. Er hatte sich vorgenommen, wenn es mit dem Examen gut klappte und er die vielen Prüfungshürden erfolgreich genommen hatte, sich als Arzt diesem Fach zuzuwenden. Was ihn faszinierte, war die bis ins Feinste gehende Beschreibung der Krankheitserscheinungen und die Schlussfolgerungen, die schließlich zur Diagnose führten. Und das tat eben Professor Kretschmar in einer Weise, die jede seiner Vorlesung zu einem Erlebnis der besonderen Art werden ließ. Aufgrund der intellektuell ansprechenden wie anspruchsvollen Art des Fachgebietes im Allgemeinen und seiner Vorlesungen im Besonderen hatte sich Björn rechtzeitig in den Hörsaal begeben, um noch einen Platz zu bekommen. Denn im Gegensatz zu den Morgenvorlesungen in den Fächern der Chirurgie und Orthopädie war die neurologisch-psychiatrische Vorlesung am Freitagnachmittag ausnahmslos gut besucht, so gut, dass die spät gekommenen Studenten die Vorlesung auf den Treppenstufen sitzend oder hinter der letzten Sitzreihe stehend verfolgten.

Der Kopf des Menschen war für den Studierenden der Medizin stets etwas Besonderes. Ob es die Anatomie des zentralen Nervensystems oder die Pathologie des menschlichen Gehirns war, die Studenten gaben dem Kopf und seinem Inhalt ihre besondere Aufmerksamkeit. Auch waren die Prüfungsfragen in diesen morphologischen Fächern meist delikat und wegen ihrer versteckten Schwierigkeiten von vielen gefürchtet, weil ein Nichtwissen oder eine falsche Antwort, deren Ursache in der nicht rechtzeitig gebändigten Prüfungsangst oder Prüfungspsychose gewesen sein mochte, früh zum Sturz aus dem “Zug” des Medizinstudiums geführt hatte. Nun in der klinischen Betrachtung hatte der Kopf und sein Inhalt seine Faszination der gründlichen Betrachtung behalten, zumal mit den morphologischen Vorkenntnissen, die die Hürden der Prüfungen in der Anatomie und der Pathologie überstanden hatten. Denn wenn im Kopf etwas nicht stimmt, dann gibt es neurologische oder psychische Veränderungen, deren Erscheinungen in den Symptomen zu erfassen und in ihrer Schwere zu bewerten sind, woraus sich dann die Diagnose der Erkrankung ableiten lässt.

Es gehörte zur guten Sitte, dass Professor Kretschmar der klinischen Vorlesung eine kurze literarische Lesung eines Goethe-Textes voranstellte, den er mit wenigen Sätzen erläuterte, um die Bedeutung des Textes für die Zeit hervorzuheben, beziehungsweise zu unterstreichen. Zumeist waren es Texte aus dem ‘Faust’, so dass der Studierende der Medizin im letzten Semester seines Studiums auch einen literarischen Streifzug durch Goethes ‘Faust’ durchmachte und eine erste Vorstellung von seiner herausragenden Bedeutung für die Literatur bekam, wenn er sich diese Vorstellung nicht schon vorher in der Oberprima des Gymnasiums gebildet hatte, weil da der ‘Faust’ zu kurz gekommen oder aus dem neuzeitlichen Lehrplan ganz herausgefallen war. Nachdem die neurologischen Erkrankungen abgehandelt waren, befassten sich die Vorlesungen gegen Semesterende mit den seelischen Erkrankungen, den Psychosen. Diese unterteilte Professor Kretschmar in die exogenen oder körperlich begründbaren und die endogenen oder körperlich nicht begründbaren Psychosen. Das “Parade”-Beispiel der körperlich begründbaren Psychosen war die Hirnsyphilis, die je nach Lokalisation der luetischen Schäden zur Augenmuskellähmung mit der reflektorischen oder absoluten Pupillenstarre bis zu generalisierten Hirnschäden mit einseitigen und schließlich beidseitigen Lähmungserscheinungen an den Extremitäten und generalisierten Krampfanfällen führen.

Als Beispiel einer solch fortgeschrittenen Syphilis erwähnte Professor Kretschmar, dass die neuere Forschung ergeben habe, dass der einstige “Führer” des deutschen Reiches an dieser Erkrankung litt, dem in den letzten Jahren die Starrheit des Blickes in erschreckender Weise im Gesicht stand und auch die Zeichen des Muskelschwundes an den Extremitäten als Ausdruck einer einsetzenden Lähmung nicht zu übersehen war. Über das psychotische Brüllverhalten dieses “Führers” mit den sprachlichen Überwerfungen, den Spleißungen und Zerreißungen des gedanklichen Fadens in den gebrüllten Sätzen sowie die Zunahme der Wiederholung abrupt gesprochener Sätze und Satzteile mit den unkontrollierten Faustschlägen auf das Rednerpult ging Professor Kretschmar nur am Rande ein, weil diese Besonderheit des “führerisch-verführerischen” Redeverhaltens in der Nachkriegsliteratur ausreichend beschrieben ist und bei der alten Generation noch schmerzhaft in den Ohren steckt. Aus dem eigenen Krankengut stellte der Professor zwei Patienten vor. Der erste war ein Geiger von 52 Jahren, der sich mit der Geige einen internationalen Namen erspielt hatte; der zweite war ein 45-jähriger Schriftsteller, der es mit seinem Schreiben zu dieser Stufe des Ruhmes nicht gebracht hatte. Bei beiden Patienten war die Blickstarre aufgrund der Augenmuskellähmung ein hervorstechendes Symptom. Aus dem Gespräch, das der Professor mit dem Geiger führte und das geordnet mit der nötigen Disziplin des Zuhörens und der Beantwortung der an ihn gestellten Fragen verlief, trat eine glanzvolle berufliche Karriere hervor, die mit der Hirnsyphilis ihren plötzlichen Abbruch erlebte. Der Geiger war unverheiratet und hatte sich die Spirochäten, die sich unter dem Mikroskop als Schraubenbakterien zu erkennen geben, vor vielen Jahren anlässlich einer Konzerttournee durch die USA in einem Bordell eingefangen. Zu lange hatte er die Frühsymptome der Syphilis verkannt, so dass die Behandlung erst spät einsetzte. Am Schluss der Exploration fragte der Professor den Geiger, der den Geigenkasten mit in den Hörsaal gebracht hatte, ob er ihm und den Studenten nicht etwas vorspielen könne. Da öffnete der Patient den Geigenkasten und holte eine wunderbare Geige heraus, die eine Stradivari oder Guarneri hätte sein können. Er stimmte das Instrument im Sitzen und spielte die berühmte Bachsche Chaconne aus der Sonate für Solovioline. Im Nu versank der gefüllte Hörsaal in eine andächtige Stille, die durch kein Räuspern und keinen Husten gestört wurde. Es war ein ergreifender Vortrag eines großen Geigers, den der Student Björn Baródin nie vergessen würde.

 

Auch der Professor war ergriffen und dankte dem Patienten für den großartigen Vortrag. Dann erwähnte er den großen Komponisten Franz Schubert, der sich mit jungen Jahren in einem Wiener “Freudenhaus” die Syphilis akquiriert hatte und unter der zu jener Zeit gängigen Quecksilberbehandlung einen Glatzkopf durch den vollständigen Haarausfall zugezogen hatte. Der junge Schubert hatte sehr unter der Erkrankung und den Begleiterscheinungen der Syphilisbehandlung gelitten. Er hatte sich von der Gesellschaft zurückgezogen und lebte völlig vereinsamt. Dennoch hatte er bis zu seinem Tod, der ihn mit 31 Jahren griff, über 900 Werke geschaffen, von denen er selbst die meisten seiner großen Orchesterwerke nicht mehr gehört hatte.

Anders war die Exploration mit dem Schriftsteller. Hier ging es mehr durcheinander im Sinne von Dichtung und Wahrheit. Auch dieser 45-jährige Patient war Junggeselle, der allerdings mehrere Liebschaften hinter sich hatte. Wann und wo er sich die Syphilis “aufgelesen” hatte, das konnte er nicht sagen. Als Verdacht führte er eine frühere Liebschaft an. Es handelte sich um eine junge Frau, deren Alter er nicht sicher angeben konnte, mit der er einige Monate zusammengelebt, sich wegen finanzieller Probleme dann getrennt hatte, weil ihm das Geld fehlte, das er überwiegend mit kleinen Artikeln in einer lokalen Zeitung verdiente, um so sein Leben in einer engen Mansarde zu führen. Diese Frau, die er als Serviererin in einer Nachtbar kennengelernt hatte, war der regelmäßigen Arbeit nicht zugetan. Sie hatte dann auch ihre Stelle verloren, wobei als Grund für die Entlassung ihr unfreundliches Verhalten gegenüber zwei Kunden angeführt wurde, die nach Beendigung ihrer Arbeit gegen drei Uhr nachts sie von der Bar abholen wollten, um mit ihr zu schlafen. Das hatte sie abgelehnt, worauf sich die beiden Kunden beim Barbesitzer über ihr ablehnendes Verhalten beschwert hätten. So war sie ohne Arbeit und ohne Einkommen, was er als freiberuflicher Schriftsteller mit dem kleinen Einkommen, das eine Regelmäßigkeit nicht kannte, nicht verkraften konnte. Der Professor fragte ihn, ob er denn Bücher geschrieben habe, von deren Tantiemen er leben könne. Der Patient antwortete auf die existentielle Frage, dass er zwei Bücher, einen Liebesroman und eine Sammlung von Kurzgeschichten, bei denen es sich vorwiegend um Reiseberichte durch Nord- und Südamerika handelt, geschrieben habe. Beide Bücher, denen er viel Zeit und Reisekosten zugestanden habe, hätten es jedoch nicht bis zur ‘Hitliste der Bestseller’ geschafft, so dass er bei der ohnehin geringen Autorenvergütung davon nicht leben könne, eher von diesen Einkünften sterben würde, wenn er sich nicht durch das Artikelschreiben ein Einkommen verschaffte, das ihn am Leben halte.

Mit dem Starrblick als Folge der am Hirn arbeitenden, beziehungsweise “schraubenden” Geißeln und dem traurig sichtbaren Hoffnungschwund fragte der Patient den Professor, wie lange er noch in der Klinik bleiben müsse, da er einen größeren Roman, einen Roman über die Gesellschaft der Bundesrepublik schreiben wolle, dessen Konzept er bereits erstellt habe. Als der Professor den Schriftsteller im Patienten fragte, ob er etwas aus dem Konzept berichten könne, da machte sich die “eingeschraubte” Geißel im fortgeschrittenen Stadium der Hirnsyphilis bemerkbar. Denn das Konzept war im Kurzvortrag des Patienten weder gefestigt noch in sich geschlossen. Es ging mit den Menschen in der Bundesrepublik Deutschland, in der sich ein beachtlicher Wohlstand in den sechziger Jahren angesammelt hatte, doch recht durcheinander. Die Menschen in seinem Konzept waren jene draußen vor der Tür, die als Spätheimkehrer aus russischer Gefangenschaft, beziehungsweise jene, die das sibirische Arbeitslager überlebt hatten, die abgemagert und krank zurückkehrten und ihr Zuhause nicht mehr wiedererkannten, weil ihre Frauen mit anderen Männern zusammenlebten, mitunter mit den anderen Männern verheiratet waren und von ihnen Kinder in die Welt gebracht hatten. Dann waren es die erfolglosen Berufsversager im kapitalistisch aufgezogenen, rigoros-freien Wettbewerb (wer nicht mithält und die Normen nicht schafft, der hat das Nachsehen und verliert seinen “Job”). Dann sprach der Schriftsteller von den in Berlin-West demonstrierenden Studenten und dem Studentenführer Rudi Dutschke gegen den Besuch des persischen Schahs Pahlevi und schließlich von der “Kaste” der über den Schreibtischen thronenden und pensionsberechtigten Beamten mit der verordneten und gewissenhaft eingehaltenen Gleichgültigkeit, ihrem schleichenden Drang nach der gehobenen Bequemlichkeit in der beamteten Sicherheit und dem nicht Einhalt zu bietenden Hang zur Faulheit, denen sich zwillingshaft die permanent schwelende Angst vor dem Entscheidungsrisiko hinzugesellte, weil eine Entscheidung, wenn sie aus menschlichen Gründen zu treffen war und über die tägliche Trägheitsroutine hinausging, mit einem Mehreinsatz verbunden war, der mehr Verständnis, mehr Intelligenz und ein Mindestmaß an Mut erfordert. Die Scheu vor dem Letzteren mit der fehlenden Intelligenz war selbst dann noch da, wenn das Risiko im Abwägen zur Nützlichkeit und Hilfe für den Bittsteller sehr klein war, so klein war, dass ein ausgewachsener Mensch mit einem ausgewachsenen Verstand da nicht von einem Risiko sprechen würde, wenn er noch alle Vernunftstassen im Schrank hat.

Der Professor hörte sich die Ausführungen aufmerksam an, ohne den Schriftsteller zu unterbrechen. Als der am Ende seines nicht uninteressanten, wenn auch durcheinander gewürfelten Konzepts angekommen war, ging der Professor auf seine Frage nach der Dauer des Klinikaufenthaltes ein. “Das hängt vom Erfolg der Behandlung ab”, sagte er und blickte dem Patienten ins Gesicht, der nun nervös auf dem Stuhl hin und her rutschte, weil er offensichtlich seine Zweifel hatte, dass mit einem baldigen Erfolg zu rechnen sei. Der Professor merkte seine Zweifel und beruhigte ihn: “Der Erfolg wird sich einstellen, nur müssen Sie sich in Geduld fassen.” Während der ganzen Dauer der Exploration sah der Patient nicht in die gefüllten Bankreihen, die sich nach hinten im Hörsaal erhöhten. Stattdessen hielt er den Blick auf den Professor gerichtet, der aufgrund seiner beruflichen Routine nicht nur den Starrblick des hirnsyphilitischen Patienten mit der Sachkenntnis um das Problem entgegennahm, sondern auf die verständnisvolle und sehr freundliche Weise erwiderte. Mit dieser Feststellung von Behandlungserfolg und Patientengeduld entließ der Professor den “angeschlagenden” Schriftsteller. Ein Krankenpfleger, dem die Berufsjahre im Umgang mit psychiatrischen Patienten die grauen Haare auf dem Kopf beschert hatten, half dem Patienten beim Aufstehen vom Stuhl und führte ihn aus dem Hörsaal, ohne dass der Patient einen Blick auf die Studenten des letzten Semesters im Studium der Medizin nahm.

Nun gab Professor Kretschmar eine analytische Nachbetrachtung zum vom Patienten vorgetragenen Romankonzept über die bundesrepublikanische Nachkriegsgesellschaft der frühen sechziger Jahre. “Was hat der Patient in seinem Konzept festgehalten?”, fragte der Professor, der sich von seinem Stuhl erhoben und vor die unterste Sitzreihe gestellt hatte. Da die Studenten noch schwiegen, veränderte der Professor seine Fragestellung: “Von welchen Menschen soll der Roman handeln? Von welchen Menschen sprach der Schriftsteller bei der Vorstellung seines Romankonzepts?” Der Professor ging mit der linken Hand in der Kitteltasche vor der ersten Sitzreihe entlang, blieb vor der Studentin, die am linken Ende der Sitzreihe saß, stehen und schaute ihr aus einem Kurzabstand von einem Meter erwartungsvoll mit gespannter Geduld ins Gesicht. Die Erwartung war seinen weit geöffneten Augen, die gespannte Geduld seiner hohen, in Horizontalfalten gelegten Stirn abzulesen. Die Studentin schaute den Professor an, worauf er mit dem erlesenen Namensgedächtnis die Studentin mit ihrem Namen ansprach und seine Frage wiederholte: “Fräulein Handke, von welchen Menschen sprach der Schriftsteller bei der Vorstellung seines Romankonzepts?” Die Studentin behielt ihren Blick auf das Gesicht des Professors gerichtet, hielt seinem erwartungsvollen Augenausdruck und seiner stirnig abzulesenden, gespannten Geduld stand. “Da sind die Spätheimkehrer”, setzte die Studentin an, “wobei den Spätheimkehrern aus den sibirischen Arbeitslagern in ihren heruntergekommenen physischen Zuständen und der seelischen Zermürbtheit eine besondere Bedeutung zukommt.” “Das haben Sie richtig erkannt, Fräulein Handke”, bemerkte der Professor und fügte dem Satz hinzu: “Diese Menschen, die spät aus Sibirien zurückkehrten, waren körperlich und seelisch zerbrochen, sie kamen mit schweren körperlichen Schäden zurück, wenn von der allgemeinen Abmagerung abgesehen wird, wie sie bei den meisten Heimkehrern in erschreckender Weise zu beobachten war, die aus russischer Gefangenschaft zurückkehrten. Bei diesen Menschen war auch die Seele im permanenten “Hunger”-Zustand, im Zustand der hoffnungslosen Verworfenheit, einer totalen Verlorenheit. Die seelische Verlorenheit war so total, dass diese Menschen auch die Angst verloren hatten und seelisch stumpf geworden sind. Man konnte sie mit nichts mehr erschüttern. Viele hatten den Glauben ans Leben verloren. Sie konnten es nicht glauben, dass sie aus den sibirischen Arbeitslagern lebend herausgekommen waren. Noch weniger konnten sie glauben, dass sie in der Heimat angekommen waren, deren Boden für sie nach den vielen Jahren der Lagerhaft unsicher, ja fremd geworden war.”

Der Professor hatte bei seiner Beschreibung die Hand aus der Kitteltasche gezogen und zog mit beiden Händen in der Luft einen großen Kreis von der Spannweite seiner Arme, wobei er mit den erhobenen Armen vor der ersten Sitzreihe entlang schritt. Mit diesem Luftkreis machte er das Ausmaß der Verlorenheit deutlich, weil da substantiell nur die Leere war, die da zu greifen war und von den verzehrten Spätheimkehrern schmerzhaft begriffen wurde. Der Professor blieb nun mit den horizontalen Nachdenkfalten auf seiner Stirn am rechten Ende vor der untersten Sitzreihe stehen. “Herr Freytag”, sprach er den dort sitzenden, schon älteren Studenten an, “können Sie zum Phänomen der Verlorenheit, das ja ein Phänomen der tiefsten menschlichen Erschütterung ist, etwas sagen. Ich meine, gibt es nicht schon Beispiele in der Literatur, wo dieses Phänomen in der ergreifendsten Weise dargestellt wird?” Der Student Freytag sah den Professor eher unbeholfen als mitteilsam an. Da versuchte der Professor ihn aus der Klemme des Irritiertseins oder der literarischen Unkenntnis herauszuhelfen. Auch als er dem Studenten eine Brücke zurück zur Schule baute, indem er sagte, er solle sich an die Deutschlektüre in der Oberstufe des Gymnasiums erinnern, fiel dem Studenten Freytag die doch erschütternde Lektüre von Borcherts “Draußen vor der Tür” nicht ein.

Dieses Nichteinfallen des bedeutenden frühen deutschen Nachkriegswerkes erschütterte den Professor, der die rechte Seite der Sitzreihe verließ, fast im Eiltempo zur linken Seite herüber schritt und, als wollte er sich selbst über die elementare, studentische Unkenntnis hinwegtrösten, sich vor die Studentin Handke stellte und zum Studenten, der in der zweiten Reihe hinter und über ihr saß, sagte: “Aber Sie, Herr Kenther, Sie haben das großartige Werk doch schon auf dem Gymnasium gelesen.” Als der Student Kenther den Kopf nickte und ein leises “Ja” hinterher schickte, war der Professor zufrieden, entspannte seine Stirn und sagte mit fester Stimme: “Wer kennt das großartige Werk mit seiner unerhörten menschlichen Tragik nicht!” Sichtlich erleichtert blieb der Professor nun weniger als einen Meter vor der Studentin Handke stehen und schaute nun dem Studenten Kenther erwartungsvoll ins Gesicht. Dabei schauten ihn die Augen des Professors so erwartungsvoll an, wie sie vorher die Studentin Handke angeschaut hatten. “Herr Kenther, können Sie noch ein Beispiel aus der Literatur nennen, wo auf das Phänomen der Verlorenheit in erschütternder Weise eingegangen wird?” Der Student Kenther nannte Solschenizyns “Archipel Gulag”, und der Professor nickte zustimmend.

“Es war in der Tat so”, fuhr der Professor fort, “dass viele Spätheimkehrer gebrochen vor den Türen ihrer Frauen und Familien sowie jener Frauen standen, die ihnen die Ehe und das Warten auf ihre Rückkehr versprochen hatten. Nun standen diese Männer vor den Türen und warteten, dass ihnen die Türen geöffnet wurden. Wenn ihnen der Einlass in die Wohnung nach den vielen Jahren der sibirischen Fremde gewährt wurde, kannten sich viele dieser Männer wie der Frauen nicht mehr aus. Sie sahen sich erstaunt und fremd geworden in die Gesichter. Das nicht nur, weil die Gesichter der Männer und der Frauen, ob sie miteinander verheiratet oder verlobt waren, älter geworden und die Gesichter der Heimkehrer ausgemergelt, verzehrt oder verwundet waren, sondern weil in den Jahren der Trennung grundlegende Veränderungen stattgefunden hatten, die zum großen Teil nicht mehr umkehrbarbar, also irreversibel waren. Das war der Fall, wenn die Frauen, die nicht immer ihre Männer an den Fronten des fürchterlichen Krieges für vermisst, verloren oder tot geglaubt hatten, mit anderen Männern zusammenlebten, zum Teil mit den jüngeren Männern eine erste oder zweite Ehe eingegangen waren, von denen sie dann auch Kinder in die Welt gebracht hatten. So erkannten viele Männer ihre Frauen und viele Frauen ihre heimgekehrten Männer in der erschreckenden und abstoßenden Magerkeit mit den ernst gewordenen, verzehrten Gesichtern und den traurig und verloren blickenden Augen nicht wieder. Das Nichtwiedererkennen ging bei vielen Frauen in das Nicht-mehr-Anerkennen über, so dass für viele Spätheimkehrer das erste Türerlebnis in der Heimat zum tragisch-fürchterlichen Schlüsselerlebnis der frühen Nachkriegsjahre wurde. Wenn es auch Versuche der Verständigung und seelisch-körperlichen Annäherung gab, sie scheiterten in vielen Fällen, weil eben aus dem Nichtwiedererkennen das Nicht-mehr-Anerkennen geworden war, wo das Fremdgewordene sich in eine Fremdartigkeit gesteigert hatte, wo zwischen Mann und Frau, schließlich quer durch die Familien der Riss ging, der sich nicht schließen ließ, dass jeder Versuch einer Annäherung auf Widerstand stieß, und das mehr bei den Frauen als bei den heimgekehrten Männern. Es gab kein Zurecht- und kein Zusammenfinden mehr. Das hatten Krieg, Gefangenschaft und die Jahre der Zwangsarbeit in einem der sibirischen Arbeitslager geraubt, zerstört, endgültig zunichte gemacht.

 

So wurde für viele Spätheimkehrer das Klopfen und Klingeln an der Tür der Heimat, weil sie an die Heimat geglaubt hatten, zum endgültigen Absturz in den dunklen Abgrund der totalen Verlorenheit, die meist irreversibel war und zu schwersten Depressionen und Wahnpsychosen führte oder Anlass zur Selbsttötung nach Verlassen der “fremden” Tür gab, die für sie verschlossen blieb, ob physisch oder seelisch. Da gibt es unter meinen Patienten die erschütternsten Erlebnisse, die im Erlebten, weil es eben in der Tragweite und Tragfähigkeit individuell unterschiedlich erlebt wurde, sich voneinander unterscheiden, im Ergebnis jedoch in die tiefe Absturztragik in den Schlund der totalen Verlorenheit einmünden. Meine Damen und Herren, das tragisch-traurige Erlebnis der Spätheimkehrer vor der verschlossenen Tür, es kann nicht deutlich genug gesagt werden, war wie ein enormer Hammerschlag auf den Kopf, der die Bedeutung der Endgültigkeit hatte, von dem sich viele, die da geklopft und geklingelt hatten, nicht mehr erholten, weil sie das Erlebnis des Geschlossenseins oder der Verschlossenheit, des Fremdgewordenseins, was sie nicht erwartet hatten, mit ihrem Leben nach dem, was sie unter der härtesten Entsagung bereits erlitten hatten, nicht mehr ertragen konnten.”

Bei dieser eindrucksvollen Passage mit ihren tiefreichenden seelischen Dimensionen schritt Professor Kretschmar vor der ersten Sitzreihe hin und her und zeichnete mit den Armen weiter seine großen Luftkreise, in denen nichts weiter als die Leere war, um das Ausmaß der Verlorenheit mit dem großen Schlund zu umkreisen, der für den Verstand, der nach dem sichtbar Messbaren zu greifen versucht, sichtbar nicht zu begreifen war. Der Professor mit den horizontalen Nachdenkfalten auf der Stirn setzte sich auf seinen Stuhl zurück. Von dort schaute er in den überfüllten Hörsaal hoch und setzte die Vorlesung mit der analytischen Nachbetrachtung zu den Ausführungen des von der Hirnsyphilis befallenen Patienten und Schriftstellers zu seinem Romankonzept fort.

“Die Spätheimkehrer, sie allein können schon ein großes Romanwerk füllen, wurden von unserem Schriftsteller als erste in seinem Konzept für den Gesellschaftsroman erwähnt. Welche Menschen hat er noch genannt, die er für wichtig erachtet, dass sie in seinem Roman erscheinen?” Nun rief er den Namen eines Studenten, der in der obersten, der letzten Reihe saß. “Herr Kleinert, welche Menschen hatte unser Schriftsteller noch in sein Konzept aufgenommen?” “Herr Professor”, rief Student Kleinert von oben runter, “es waren die Berufsversager, denen der Schriftsteller das Adjektiv ‘erfolglos’ voransetzte.” Der Professor: “Glauben Sie, dass das Vorsetzen des Adjektivs unnötig ist?” Student Kleinert: “Ich meine schon, denn zum Wesen des Berufsversagers gehört, dass er im Beruf erfolglos ist.” Der Professor: “Das mag auf den ersten Blick so sein. Auf den zweiten Blick, ich meine beim genaueren Hinsehen kann es jedoch anders sein. Da kann es sein, dass es sich beruflich um einen sehr erfolgreichen Menschen handelt, gegen den aus Gründen der Missgunst und des Neides ein Netz der Intrige gesponnen und ausgelegt wird, in dem sich der Beneidete verfängt und so ein Opfer der Intrige wird, weil er mit der Bosheit der hinterhältigen Fallen aufgrund eines arglosen Charakters nicht rechnet, die ihm andere, es handelt sich da meist um opportunistische Speichellecker ohne innovative Eigenleistung gestellt haben. So kann aus einem Menschen, der im Beruf durch überdurchschnittliche Intelligenz und großen Fleiß überaus erfolgreich ist, auch ein “erfolgloser” Berufsversager gemacht werden, wenn beim Letzteren zur hohen kreativen Intelligenz, die zu den erstaunlichen innovativen Erkenntnissen führten, noch ein gerader unverbildeter Charakter dazukommt. Würden Sie dieser Interpretation eines erfolglosen Berufsversagers zustimmen?” Student Kleinert: “Soweit wollte ich beim Berufsversager zunächst nicht gehen, weil es Versager gibt, die weniger durch Intelligenz und Fleiß als mehr durch große Sprüche und latente Faulheit auffallen, was nach meiner Einschätzung für die Mehrzahl der Versager zuftrifft.”

Die Bemerkung löste eine allgemeine Heiterkeit im Hörsaal aus. Selbst der Professor schmunzelte und meinte: “ich stimme ihnen zu, dass im beruflichen Versagen nicht immer die Intrige mit im Spiel ist. Aber die Intrige, deren Wurzeln die Missgunst und der Neid sind, kann eben nicht immer ausgschlossen werden. Bei der Analyse, warum ein Mensch im Beruf erfolglos ist und schließlich ganz versagt, muss besonders unter den Umständen des freien Wettbewerbs, wie sie nun einmal in dieser Gesellschaft gelten und rigoros zur Anwendung kommen, an die Gegenkräfte, die destruktiv sind und meist aus dem unmittelbaren Umfeld kommen, gedacht werden. Hier möchte ich mit Blick auf unseren Patienten und Schriftsteller hinzufügen, dass er sich selbst bei der Nennung des “erfolglosen Berufsversagers” da nicht ganz abseits stellte. Denn er verneinte doch die Frage, ob er von den Tantiemen seiner Bücher leben könne, als er sagte, dass er eher von den geringen Einkünften seiner beiden Bücher, die es nicht auf die Hitliste der Bestseller geschafft hatten, sterben würde, wenn er ohne die anderen Einkünfte durch das Schreiben von Artikeln für eine Lokalzeitung wäre, das ihm sein Brot und die Zahlung der Miete für sein Dach über dem Kopf ermögliche. Die Nennung des “erfolglosen Berufsversagers” ist ein Schlüsselsymptom der Angst vor dem existentiellen Untergang, das bei unserem Schriftsteller nicht übersehen werden sollte. Es ist ein Leitsymptom, dass ihm im Nacken sitzt, ihn eng durch sein Leben begleitet. Die Angst vor dem existentiellen Untergang klebt wie Schweiß unserem Schriftsteller auf der Haut, was sich nicht wegwischen lässt, mit anderen Worten, die permanente Existenzangst brennt ihm unter den Fingernägeln. Von daher ist seine an mich gerichtete Frage zu verstehen, wie lange er in der Klinik zu verbleiben hat.”

Die Studentin Handke stellte die Frage, ob die Wertung der Existenzangst in Anbetracht der Hirnsyphilis nicht eine andere sei, als wenn diese Angst, die doch eine fundamentale ist, bei einem organisch gesunden Menschen zu analysieren und zu bewerten ist. Der Professor ging auf die Studentin am linken Ende der untersten Sitzreihe zu. Er zog seine Stirn in horizontale Nachdenkfalten und sagte: “Fräulein Handke, jetzt schneiden Sie eine wichtige Frage an. Mit ihrer Frage öffnen Sie das dicke Buch der Psychiatrie. Und Sie wissen bei ihrem bekundeten Interesse für das Fach und als regelmäßige Hörerin meiner Vorlesung, warum das Buch dieses Faches so dick ist. Es ist so dick, weil ein Symptom, das zu den seelischen Tiefen oder Höhen reicht, so facettenreich die Persönlichkeit des Patienten durchdringt und über das körperlich Sichtbare hinausgeht. Jedes Symptom ist bereits ein Bauwerk, wenn auch der abnormen Architektur, vor dem der Psychiater staunend verweilt und dieses Bauwerk, das mitunter ein großartiges Kunstwerk ist, intellektuell zu begreifen sich bemüht. Da es mit den “Händen” des Arztes, wenn ich das Bild als Nichtchirurg einmal gebrauchen darf, weder zu greifen noch zu begreifen ist, bedarf die gezielte Betrachtung und Analyse eines Symptoms der abnormal seelischen Beladung des besonderen Einfühlungsvermögens und der größten Geduld des Arztes. Auf dem Feld der Diagnosestellung, das für den Psychiater oft ein äußerst kompliziertes Feld mit vielen Verschichtungen ist, kommen dann die anderen Symptome hinzu, die sehr subtil gesehen, analysiert und bewertet werden müssen, um aus der Zahl der erkannten und weiter herausgearbeiteten Symptome schließlich die Diagnose zu erstellen, die einer Revision nicht vorenthalten wird, wenn sich am Gerüstwerk der aufgereihten, der nebeneinander oder übereinandergesetzten Symptome etwas verändert oder verändert hat.