Buch lesen: «Öffne mir das Tor zur Welt»

Schriftart:

Helen E. Waite

Öffne mir das Tor zur Welt!

Das Leben der taubblinden Helen Keller und

ihrer Lehrerin Anne Sullivan

Aus dem Amerikanischen von Sabine Gabert

Verlag Freies Geistesleben


Inhalt

Charlie Chaplin mit Helen (Mitte), Anne (rechts) und einer Unbekannten

Vorbemerkung

Die Personen, Orte und Geschehnisse dieses Buches sind authentisch, die Gespräche basieren auf den Schriften von Helen Keller, Anne Sullivan Macy und anderen Quellen aus erster Hand.

Alle Berichte und Briefe, die sich auf Mr. Gilmans Versuch beziehen, Annie Sullivan von ihrer Schülerin zu trennen, wurden von Dr. Alexander Graham Bell aufbewahrt und befinden sich bei den Akten im Bell Room der National Geographic Society, Washington, D.C.

Die Verfasserin dankt Miss Helen Keller für ihre freundliche Genehmigung, diese Biografie zu schreiben; Mr. Nelson Coon, Bibliothekar der Perkins-Blindenschule, und seiner Assistentin, Miss Florence J. Worth, für ihre herzliche Gastfreundschaft und großzügige Unterstützung; Mr. Daniel J.Burns, Vorsitzender des Taubblinden-Departments, sowie seinen Mitarbeitern für die Möglichkeit, die heutigen Unterrichtsmethoden für taubblinde Kinder kennenzulernen; Miss Gayle Sabonatis für einen persönlichen Einblick in das tägliche Leben eines taubblinden Mädchens; vor allem aber Miss Helen M. Vreeland für ihre unschätzbare Hilfe während unseres Aufenthaltes in der Perkins-Schule.


Helen betastet eine Nike-Statue

Ein Tag des Triumphs

«Nur noch eine winzige Kleinigkeit, und dann bist du fertig.» Sanft zupfte Mrs. Hopkins ihr ein letztes Löckchen zurecht und trat einen Schritt zurück, um ihr Werk mit kritischen Augen zu betrachten, dann nickte sie zufrieden. «Mr. Anagnos hat recht – du siehst wirklich genauso aus wie Miss Frances Fulsom!»

Annie warf einen kurzen Blick in den Spiegel über Mrs. Hopkins’ Kommode, und ein freudiger Schauer lief ihr über den Rücken. Es erschien ihr immer noch wie ein Wunder, dass sie, die die ersten sechzehn Jahre ihres Lebens so gut wie blind gewesen war, sich tatsächlich selbst im Spiegel sehen konnte! Ja, sie konnte selber sehen, dass sie Frances Fulsom ähnelte, dem Mädchen, das die Braut von Präsident Cleveland war! Mrs.Hopkins hatte Annies dunkles Haar hoch aufgetürmt über dem Kopf festgesteckt, ihr über der Stirn mit ihrem eigenen Brenneisen Löckchen gelegt, und in ihrem hübschen Musselinkleid mit den halblangen Ärmeln und den drei mit Spitzen besetzten Rüschen hätte man Annie tatsächlich für eine Braut halten können. Flüchtig überlegte sie, ob die Braut im Weißen Haus wohl noch aufgeregter war als Annie Sullivan in diesem Augenblick.

«Nun», sagte Mrs. Hopkins und wandte sich einer geheimnisvollen Schachtel zu, die auf dem Bett lag. Annie stockte der Atem, als aus den vielen Lagen von Seidenpapier eine breite Schärpe aus glänzendem rosa Satin hervorkam. Die Finger der älteren Frau streichelten darüber hin, ehe sie Annie anblickte. «Sie gehörte Florence», sagte sie ruhig. «Sie trug die Schärpe zu ihrer Examensfeier. Ich möchte, dass du sie heute trägst.»

Das war wie ein Ritterschlag, denn Annie wusste, wie hoch in Ehren Mrs. Hopkins alles hielt, was ihrer Tochter gehört hatte, deren Leben so kurz gewesen war.

«Und nun habe ich wieder ein Mädchen, das seinen Abschluss feiert!» Mrs. Hopkins strich noch ein letztes Mal über die Schärpe und nickte zufrieden. «Du siehst reizend aus! Nun geh! Mr. Anagnos würde es sicher nicht gefallen, wenn die Festrednerin zu spät käme.»

Das Gefühl der Unwirklichkeit, das Annie den ganzen Tag über empfunden hatte, verstärkte sich, als sie Tremont Temple erreichte, wo die Abschlussfeiern des Perkins-Institutes, der Blindenschule von Massachusetts, abgehalten wurden. War das wirklich wahr, dass sie, Annie Sullivan, tatsächlich die Festrede für die Examensklasse des Jahrgangs 1886 halten sollte? Vor den Stufen zum Podium lächelte ihre Lieblingslehrerin, Miss Mary Moore, sie an, als sie ihr ein Bukett rosafarbener Rosen am Gürtel festmachte, deren Duft sie sanft betäubte. Dann ergriff Mr. Anagnos, der Direktor von Perkins, ihre Hand und führte sie zu ihrem Platz; er flüsterte ihr ein paar ermutigende Worte zu, die sie vor lauter Aufregung kaum vernahm. Wieder schauderte sie, aber diesmal nicht vor Freude!

Das Publikum! Wie konnte sie dem nur gegenübertreten! So viele Menschen! Und dann noch so berühmte wie Mrs. Julia Ward Howe, die Verfasserin von Battle Hymn of the Republic, und Mrs. Livermore, eine begeisterte Frauenrechtlerin, sowie der Gouverneur von Massachusetts. Wie im Traum hörte sie die Musik, die Ansprachen – sie fühlte, wie ihr eiskalte Schauer den Rücken herunterrieselten, ihre Kehle sich von Minute zu Minute mehr zusammenschnürte, und plötzlich war sie an der Reihe. Mit einer freundlichen Bewegung wandte sich der Gouverneur ihr zu und kündigte an: «Die Festrede – von Miss Annie Mansfield Sullivan!» Es gelang Annie, sich zu erheben, aber ihre Knie zitterten derart, dass sie das Gefühl hatte, sie würden unter ihr nachgeben! Sie zögerte so lange, bis der Gouverneur ihren Namen noch einmal rief. Und dann nahm sie all ihren Mut zusammen und schritt zur Mitte des Podiums. Der gütige Mann begann höflich Beifall zu klatschen, und nach einem leisen «Meine Damen und Herren –» bemerkte Annie erstaunt und erleichtert, wie ihre Stimme ihr gehorchte und sie klar und deutlich die kleine Ansprache vortrug, die sie niedergeschrieben und so oft geprobt hatte. Die Umgebung nahm wieder die gewohnten Umrisse an, und sie vermochte die freundlichen, interessierten Blicke der Zuhörer vertrauensvoll zu erwidern. Von freudiger Erregung ergriffen, kam sie zum Schluss und verbeugte sich dankend, als wiederum geklatscht wurde – ganz spontan diesmal und nicht aus bloßer Höflichkeit. Wie herrlich aufregend!

Was sich nach der Beendigung des Programms abspielte, davon blieben ihr nur wirre und flüchtige Eindrücke. Sie konnte sich erinnern, dass Dr. Samuel Eliot, einer der Treuhänder von Perkins, ihre Ansprache lobte und dass Mr. Anagnos abwechselnd strahlte und sich die Nase putzte. «Du hast Perkins Ehre gemacht, meine liebe Annie, große Ehre. Und wenn ich daran denke, wie du vor sechs Jahren zu uns kamst.»

Miss Moore konnte ihr nur einen flüchtigen Kuss geben, während Mrs. Hopkins in dem Gedränge nicht einmal das gelang. Aber ihre Klassenkameradinnen und andere Perkins-Schülerinnen scharten sich um sie, gratulierten ihr und wollten sie «sehen». Mit dem Verständnis, das aus der Zeit ihrer eigenen Blindheit herrührte, ließ sie ihnen genügend Zeit, ihre forschenden Finger über ihr Kleid und ihre modische Frisur gleiten zu lassen, während sie lachend auf ihre Bemerkungen und ihr Lob einging. Selbst Laura Bridgman, die berühmte taubstumme und blinde ehemalige Schülerin des Instituts, war anwesend, wie immer bei bedeutenden Veranstaltungen von Perkins.

Und dann war endlich alles vorbei, und sie befand sich wieder in ihrem kleinen Zimmer in der Schule. Leise schloss sie die Tür hinter sich. Die anderen Mädchen schwelgten noch in Erinnerungen an die aufregenden Ereignisse der Feier, aber sie musste erst einmal allein sein, um das Wunder und die Herrlichkeit dieses unglaublichen Tages noch einmal voll auskosten zu können.

Ganz langsam löste sie die Rosen aus ihrem Gürtel und stellte sie in ein Glas mit Wasser. Zögernd nahm sie die Schärpe ab, legte sie auf das Bett und strich mit liebevollen Fingern darüber hin: Ob sie sie wohl jemals wieder tragen würde? Aber wenigstens das Kleid gehörte ihr. Wie gut doch Mrs. Hopkins gewesen war, es für sie zu nähen, obgleich sie mit ihren Pflichten als Hausmutter von Annies Gruppe so viel zu tun hatte! Sie saß auf der Kante ihres Bettes, streichelte die winzigen Knöpfe, als seien es echte Perlen, und liebkoste die Rüschen und die Spitze. Und um die weißen Seidenschuhe auszuziehen, brauchte sie ihre ganze Willenskraft – sie, Annie Sullivan, hatte weiße Seidenschuhe! Plötzlich verdunkelten sich ihre Augen. Sie dachte an die Annie Sullivan, die vor sechs Jahren ins Perkins-Institut gekommen war, vierzehn Jahre alt und nahezu blind. Sie war wohl das am meisten verwahrloste, ungebildetste und widerspenstigste Geschöpf gewesen, das Perkins je aufgenommen hatte. Die einzige Kleidung, die sie besaß, waren zwei groben Hemden und zwei Baumwollkleider.

«Annie!» Ungeduldig riefen die Mädchen nach ihr. «Annie!» Annie tat so, als ob sie nichts hörte. Diesen Augenblick konnte sie mit niemandem teilen.

Sie ließ ihre Erinnerungen weiterwandern. Wie bitter war ihr erster Tag in der Schule gewesen! Die Lehrerin, der sie zuerst begegnete, fragte sie nach ihrem Namen und Alter. Das konnte sie gerade noch beantworten, aber als die Lehrerin sie aufforderte, ein Wort zu buchstabieren, vermochte sie nur zu murmeln: «Ich kann nicht, ich kann überhaupt nicht buchstabieren!»

«Vierzehn Jahre alt – und kann nicht buchstabieren!» So etwas war der Lehrerin noch nie vorgekommen. Das sprach sie auch aus, und Annie spürte ihre Verachtung. Doch es sollte noch schlimmer kommen. Die blinden Mädchen scharten sich um die Neue, tasteten nach ihren Habseligkeiten und fragten erstaunt:

«Wo sind denn deine Kleider und deine übrigen Sachen?»

Annie musste den Kopf schütteln und voller Scham zugeben, dass sie sonst nichts besaß. Die Mädchen der Gruppe, in die sie eingewiesen war, waren noch nie jemandem begegnet, der keinen Mantel hatte, keinen Hut, kein zweites Paar Schuhe, nicht einmal eine Zahnbürste. Das sagten sie auch und lachten sie aus. Und Annie hatte sie alle gehasst.

«Warum hat dir denn deine Mutter nicht ein paar Sachen genäht?»

«Meine Mutter ist tot», hatte Annie kurz geantwortet, «mein kleiner Bruder auch. Und das ist alles.»

Ja, das war alles, was sie über ihre Familie zu sagen bereit war. Sie hatte natürlich einen Vater. Sie hatte auch eine Schwester. Aber nichts und niemand würde sie je dazu bringen zuzugeben, dass ihr unzuverlässiger, hilfloser Vater seine Familie im Stich gelassen hatte, als die Mutter vor vier Jahren gestorben war. Eine Tante hatte das liebenswerte kleine Schwesterchen zu sich genommen, aber keiner der Verwandten war gewillt, sich mit einem fast blinden Mädchen zu belasten und einem kleinen Jungen mit einer durch Knochentuberkulose geschädigten Hüfte. So waren sie in das Armenhaus von Tewksbury abgeschoben worden, eine der schlimmsten Anstalten dieser Art im ganzen Land. Durch die Zustände dort war Jimmie innerhalb von zwei Monaten gestorben; sie selbst, Annie, hatte vier elende Jahre dort verbracht, bis das staatliche Wohlfahrtsamt Frank B. Sanborn beauftragte, das Heim zu inspizieren.

Annie erinnerte sich, wie sie an dem Tag seiner Besichtigung weinend durch die Säle gelaufen war: «Mr. Sanborn! Mr. Sanborn!», und als eine Männerstimme ihr antwortete, verzweifelt ausgerufen hatte: «Ich kann nicht gut sehen, und ich möchte in eine Schule gehen!»

Auf diese Weise war sie Tewksbury entkommen. Eine alte Frau, die immer freundlich zu ihr gewesen war, warnte sie beim Abschied: «Sag’ nie nich’ keinem, dass du aus dem Armenhaus kommst», und leidenschaftlich rief Annie aus: «Nie!»

Die Lehrer und das Verwaltungspersonal wussten natürlich Bescheid, aber Annie wäre lieber gestorben, als dass sie das den Schülerinnen gegenüber zugegeben hätte.

Ihre Ausstattung war so kümmerlich, dass die Hausmutter ihrer Gruppe an jenem ersten Abend ein Nachthemd für sie ausborgen musste, und die arme Annie, so verbissen stolz und dennoch ausgehungert nach freundschaftlicher Zuwendung, hatte sich an jenem Abend in den Schlaf geweint – ja, und nicht nur an jenem Abend.

Als sie das Perkins-Institut betrat, war es fast, als wäre sie auf einen anderen Planeten versetzt worden. Sie musste nicht nur ihren Schulunterricht in der ersten Klasse beginnen, sie musste auch eine vollkommen andere Art des Lebens lernen, von der sie bisher nichts geahnt hatte. Die Sullivans waren immer bitter arm gewesen, ihre Mutter war ständig krank und das Leben in Tewksbury hart und grausam. Ihre Schulkameradinnen hier im Perkins-Institut waren trotz ihrer Blindheit glückliche Kinder – Kinder von Ärzten, Kaufleuten, Rechtsanwälten und wohlhabenden Gutsbesitzern. Die Mädchen in Annies Gruppe waren zufrieden und behütet, während Annie aufgrund ihrer bisherigen Erfahrungen nicht wusste, wie man ein glückliches Leben führt.

Kein Wunder, dass sie verwirrt, schwierig und trotzig war. Wäre sie weniger zäh gewesen, so hätte sie das erste Jahr im Perkins-Institut nicht durchgestanden – aber Annie war ein Mensch, der nie klein beigeben würde. Sie war zu Perkins gekommen, um zu lernen, und das tat sie. Sie setzte alles daran, schnell voranzukommen, um endlich an der Seite ihrer Altersgenossen auf der Schulbank sitzen zu können. Darüber hinaus aber lernte sie hier, Schönheit zu empfinden und nach Wahrheit und Gerechtigkeit zu streben.

Man war gut zu ihr gewesen. Die meisten ihrer Lehrerinnen waren freundlich. Sie versorgten sie mit Kleidung, gaben ihr zusätzlichen Unterricht und stellten sich schützend vor sie, wenn eine Rückkehr nach Tewksbury drohte, wenn ihre Widerspenstigkeit die Geduld der Behörden allzu sehr strapazierte. Sie versorgten sie mit freien Eintrittskarten für Vorträge und Konzerte. Aber wofür sie ihr Leben lang zutiefst dankbar sein würde, war die Tatsache, dass jemand, der der Meinung war, für ihre Augen bestehe vielleicht noch Hoffnung, dafür gesorgt hatte, dass man sie zur Augenklinik brachte, in der an gewissen Tagen die Patienten unentgeltlich behandelt wurden. Daraufhin erfolgten zwei Operationen, die erste, als sie fünfzehn war, die zweite genau ein Jahr später, und danach konnte Annie sehen! Oh, keineswegs vollkommen – Dr. Bradford hatte sie darauf aufmerksam gemacht, dass das niemals der Fall sein würde und sie ihre Augen nie überanstrengen dürfte, aber – sie konnte sehen! Sie konnte Gedrucktes lesen lernen, die einzelnen Ziegel in einem Gebäude jenseits des Flusses erkennen! Und als sie eines Tages entdeckte, dass sie eine Nadel ohne Hilfsmittel einfädeln konnte, war sie ganz überwältigt vor Freude.

Auch nachdem ihr Augenlicht wiederhergestellt war, blieb sie im Institut, weil sie sonst nirgendwo hin konnte. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie sich dadurch, dass sie beim Unterricht und der Betreuung der kleineren Kinder half – aber jetzt, was sollte sie nun tun? Sie wusste nur zu gut, dass diese Überlegung ihre Freunde seit Wochen beunruhigte. Würde sie – würde sie schließlich doch noch nach Tewksbury zurückkehren müssen? Bei diesem Gedanken stockte ihr vor Angst der Atem.

Entschlossen erhob sie sich und begann ihre Kostbarkeiten wegzupacken. Die Glocke zum Abendessen läutete. Annie nahm all ihren Mut zusammen. Sie wollte jetzt hinuntergehen und ebenso fröhlich und lebhaft sein wie die anderen Mädchen; heute abend sollte niemand auf den Gedanken kommen, dass sie nicht das glücklichste Mädchen in ganz Boston war.

Einen Menschen jedoch gab es, der Bescheid wusste. Niemand hätte vermutet, dass die so nüchtern und spröde erscheinende Witwe Mrs. Hopkins, eine typische Neu-Engländerin, gleichen Geistes Kind war wie die unruhige, temperamentvolle Annie Sullivan – aber Zeit ihres Lebens sollte eine geheimnisvolle Verbindung tiefen gegenseitigen Verständnisses zwischen ihnen bestehen. Als nun das Mädchen die Treppe herunterkam, hielt die Hausmutter in ihrer Geschäftigkeit inne und schenkte Annie ein stolzes Lächeln.

«Du hast dich wunderbar gehalten, Liebes», sagte sie, «genau wie ich es von dir erwartet hatte.»

«Ich brauchte den Mut von tausend irischen Häuptlingen», bekannte Annie kläglich. «Ich schämte mich so, dass der Gouverneur meinen Namen ein zweites Mal aufrufen musste.»

Vom anderen Ende der langen Tafel, wo sie ihre kleinen Schützlinge geschickt hinsetzte, lächelte Miss Moore ihr zu. «Wir waren alle sehr stolz auf dich, Annie.» Von Miss Moore ausgesprochen, hatten diese Worte eine besondere Bedeutung, und Annie war zutiefst dankbar. Miss Moore war diejenige Lehrerin, die außergewöhnlich viel Zeit und Geduld aufgebracht hatte, das eigenwillige, unwissende, launenhafte Kind, das Annie gewesen war, zu zähmen und zu erziehen. Manchmal vermutete Annie, Miss Moore habe es besser als jeder andere verstanden, sie «unter ihre Fuchtel» zu bringen, aber vielleicht gerade deswegen verehrte sie sie tief.

«Setz dich neben mich, Annie!» – «Nein, heute Abend bei mir!» – «O Annie, komm und setz dich zu uns!», riefen die kleineren Mädchen im Chor, und begierige kleine Hände streckten sich flehentlich aus, aber Annie entzog sich ihnen sachte.

«Heute Abend werde ich bei Laura sitzen», erklärte sie und trat zu einer steif aufrecht sitzenden, schweigsamen Frau, deren seltsam starrer Gesichtsausdruck einen etwas unheimlichen Eindruck inmitten dieser lebhaften Gruppe machte. Als Annies Hand sie berührte, leuchtete ihr Gesicht auf, und es schien, als glänzten plötzlich Sonnenstrahlen auf einer bewegten Wasserfläche auf. Ihre Hände flatterten leicht und schnell wie Schmetterlinge in der Luft, und Annie erwiderte, in Lauras Hand buchstabierend, mit der gleichen Fingersprache, denn für die taubstumme und blinde Laura Bridgman war die einzige Verständigungsmöglichkeit mit anderen Menschen das von den Taubstummen benützte Fingeralphabet. Alle Lehrer, Hausmütter und Schülerinnen beherrschten es, denn Laura lebte seit ihrem siebten Jahr im Perkins-Institut, es war ihr Zuhause. Irgendwie hatte Annie besondere Geschicklichkeit darin erworben, und sie gehörte zu Lauras Lieblingen.

Als sie jetzt beim Abendessen neben ihr saß, begann Laura schnelle, kurze Fragen zu buchstabieren, und Annie antwortete mit fliegenden Fingern, beschrieb, was am Tisch um sie herum vor sich ging, und versprach, später in Lauras Zimmer zu kommen, um ihr von der Schlussfeier zu berichten.

Die Examensfeier war wirklich ein Erfolg gewesen. Selbst die Bostoner Zeitungen schrieben schmeichelhafte Berichte über die Festrednerin – Berichte, die zwar sehr erfreulich zu lesen waren, aber nicht die Frage beantworten konnten, die das Gemüt eben dieser Festrednerin ständig beunruhigte: Was sollte sie jetzt tun; was konnte denn überhaupt ein Mädchen tun, dem es vom Schicksal bestimmt war, mit mangelhaftem Sehvermögen und einer schmerzhaften Augenkrankheit durchs Leben zu gehen?

Als Perkins seine Tore für die Sommerferien schloss, hatte noch niemand eine befriedigende Lösung gefunden, und obwohl Annie lächelte und mit irischer Unbekümmertheit ihren Kopf hochhielt, war ihre Besorgnis zu einer Furcht angewachsen, die ständig im Hintergrund ihres Bewusstseins lauerte und manchmal in unerwarteter Weise hervorbrach, um sich Luft zu machen.

«Du kommst natürlich mit mir nach Brewster, wie immer», hatte Mrs. Hopkins mit Entschiedenheit gesagt, «und wenn irgendetwas Aussichtsreiches auftauchen sollte, kann man dir nach Brewster genauso leicht Bescheid geben, wie wenn du in Boston bliebest.» Mr. Anagnos war einverstanden. «Sie hat recht, liebe Annie, ganz recht. Alle Lehrer, ebenso wie ich, haben dein Problem im Bewusstsein. Wir benachrichtigen dich sofort, keine Sorge.» Beruhigend tätschelte er ihre Hand. «Nun geh und genieß deinen Sommer, meine Liebe.»

Annies Lippen fühlten sich steif an, als sie ihm dankte, und nur mit Mühe brachte sie ein Lächeln zustande.

Sie nahm Mrs. Hopkins’ Einladung dankbar an, war sich aber klar darüber, dass das nur ein Notbehelf war, was sie durchaus nüchtern ins Auge fasste. Als die Tür des Hauses, dem Sophia Hopkins als Hausmutter vorstand (es gab mehrere Häuser auf dem Perkinsschen Gelände), hinter ihnen zufiel, dröhnte das in Annies Ohren wie ein Weltuntergang. Das Perkins-Institut, die Blindenschule von Massachusetts, war der einzige Ort, den sie ihr «Zuhause» nennen konnte. Schloss sich diese Tür für immer hinter ihr?

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