Buch lesen: «Menschwerdung eines Affen», Seite 5

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Mit ihrem zyklischen Altersklassensystem gewannen die Ältesten das Privileg, nicht nur die jüngeren Generationen, sondern auch die Zeit selbst zu kontrollieren. Die Festlegung des Initiationsrituals ermächtigte sie, einen radikalen Neuanfang zu setzen. Gegen die biologische Zeit etablierten sie eine soziale, die mit der rituellen Geburt der Initianden begann, die Vorzeit auslöschte und die Kindheit rückgängig machte.

In vorkolonialer Zeit nahmen Männer und Frauen die Bewegung der Sonne am Horizont für einen Kalender, nach dem sie ihre Tätigkeiten ausrichteten. Vom festen Standpunkt aus beobachteten Astronomen die aufeinanderfolgenden Sonnenaufgänge am Horizont im Osten. Wie auf dem Zifferblatt einer Uhr legten sie eine Visierlinie fest, in der sie die wandernden Orte des Sonnenaufgangs mit besonders hervorstechenden Punkten am Horizont verbanden. Einige dieser Punkte nannten sie »die oberen (im Süden) oder unteren (im Norden) Häuser der Sonne«. So begannen sie zum Beispiel mit der Brandrodung der Felder erst, wenn die Sonne das obere Haus verlassen hatte.

Obwohl ihnen die Bewegung der Sonne am Horizont einen Maßstab lieferte, blieb diese Zeitbestimmung punktuell und situationsgebunden. Sie übte keinen umfassenden Zwang auf die Handlungen der Menschen aus. Diese mussten nicht gegen die Zeit kämpfen, und sie lief ihnen auch nicht davon.

Die Ältesten und ich gingen sehr unterschiedlich mit Zeit um. Während ich unter akuter Zeitnot litt und versuchte, meinen Aufenthalt in den Tugenbergen möglichst effektiv zu gestalten, weil Zeit und Forschungsgelder knapp bemessen waren, schienen die Ältesten Zeit im Überfluss zu haben. Die meisten hatten keine Armbanduhr; wir verabredeten einen Termin, indem er, sie oder ich mit dem ausgestreckten Arm den Stand der Sonne beziehungsweise des fallenden Schattens markierte. Diese Art der zeitlichen Vereinbarung eröffnete einen beachtlichen Spielraum. Oft waren wir mehrere Stunden unterwegs, um einen bestimmten Ältesten zu treffen. Kamen wir endlich an, war er nicht zu Hause. Wir warteten, oft stundenlang und manchmal vergeblich. Anfangs bekam ich Wutanfälle über die vermeintlich verlorene Zeit; erst allmählich lernte ich, gelassen mit solchen Situationen umzugehen. Tatsächlich erwiesen sie sich manchmal als äußerst produktiv. Während des Wartens tauchten Leute auf, die ich nicht kannte, und erzählten den neuesten Tratsch, oder Kipsang und ich begannen ein Gespräch über einen Traum, den er gehabt hatte und den wir höchst unterschiedlich interpretierten. Meist gelang es mir nach einigen Wochen, ruhiger zu werden und mein Leben zu entschleunigen.

Doch in den Augen der Bewohner der Tugenberge blieb ich ein unruhiges, eiliges Wesen. Das großstädtische Berliner Tempo meines Ganges und meine hektischen Bewegungen führten, wie bereits erwähnt, zu Heiterkeitsausbrüchen; in den Augen meiner Beobachter fehlte mir jede Würde. Auch Frauen und Männer in den Tugenbergen mussten sich manchmal beeilen und von einem Berg zum anderen hetzen. Viele von ihnen können extrem schnell laufen, stellen die Kalenjin doch heute die besten Langstrecken- und Marathonläufer der Welt. Doch sowie sie in Sichtweite anderer Leute kamen, bremsten sie, wischten sich den Schweiß von der Stirn, brachten ihre Kleidung in Ordnung und wechselten in eine beherrschte und würdevolle Gangart.

Während der Kolonialzeit begann sich der Gebrauch von westlichem Kalender und von Uhren durchzusetzen. Obwohl die ersten Uhren vor allem Prestigegüter waren und nur wenig Einfluss auf das Alltagsleben nahmen, führten vor allem Schulen und andere westliche Institutionen die abstrakte Zeit ein und sorgten für radikale Veränderungen. Ich erinnere mich an einen Lehrer in Kabartonjo, der sich anbot, für uns eine Sightseeingtour zu organisieren. Er wollte uns die Klippen zeigen, von denen die zu alt gewordenen Ältesten, die ihre Altersklasse überlebt hatten, in den Tod springen mussten,12 sowie einige Höhlen, in denen die Sirikwa, die ersten Europäer, gelebt hatten. Er trug eine Armbanduhr und hatte einen genauen Zeitplan ausgearbeitet: 10:52 Uhr Abfahrt, 11:33 Uhr Ankunft bei den Klippen und so weiter. Er bestand auf der Einhaltung seines Plans, und wir mussten hetzen, um ihn zu erfüllen. So führte er mir in karikierender Weise meinen eigenen Umgang mit der Zeit vor Augen.

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Nachdem ich zu Kopcherutoi, meiner neuen Mutter, auf den Berg Rimo gezogen war, nahm ich Anfang der 1980er ein Polaroidfoto von ihr auf. Ich bat um Erlaubnis, und sie willigte ein. Für das Foto posierte sie nicht. Sie ging weiter ihrer Arbeit nach und kümmerte sich nicht um mich; als die Kamera klickte, schaute sie kurz auf. Ich schenkte ihr das Foto, ein fremdes Bild ihrer Person. Sie hielt es verkehrt herum, sah flüchtig hin, lächelte und verbarg es unter einem Stein ihres Vorratsspeichers. Ich weiß nicht, ob sie sich erkannte. Zu ihrem Haushalt gehörte kein Spiegel. Wenn sie sich selbst sehen wollte, konnte sie ihr Abbild auf einer Wasseroberfläche spiegeln. Ansonsten war sie vor allem das, was andere in ihr sahen. Später zeigte Kipsang ihr ein weiteres Foto und erklärte ihr, dass sie diejenige sei, die dort abgebildet war. Sie lächelte wieder und legte das Foto beiseite; es interessierte sie nicht.

In vorkolonialer Zeit stellten die Bewohner der Tugenberge keine Porträts in Form von Bildern, Masken oder Skulpturen her. Wie in anderen eher pastoralen Gesellschaften war ihre materielle Kultur auf das Notwendigste beschränkt. Die Ältesten nutzten, wie bereits erwähnt, den menschlichen Körper, um die soziale Biografie buchstäblich in ihn einzuschneiden. Wunden, und später Narben, zeigten den anderen, wer man war.

In den 1950er-Jahren, noch vor dem Ende der Kolonialzeit, eröffneten vereinzelt Fotostudios in den größeren Orten der Tugenberge – nicht in Bartabwa – und gaben vor allem den Jüngeren die Möglichkeit, fotografische Porträts von sich und anderen zu bekommen. Während die Jungen und »modernen« Leute einen kleinen Kult mit Fotos betrieben, zeigten die Ältesten kaum Interesse. Sie waren jedoch nicht bilderfeindlich, wie die weiter nördlich lebenden Pokot, die den Akt des Fotografierens und Filmens als eine Form des Raubes ansahen, der ihnen Substanz nahm und sie dünner werden ließ. Wenn Touristen sie fotografieren wollten, verweigerten sie sich oder verlangten sehr viel Geld. Im Gegensatz dazu verhielten sich die Ältesten in Bartabwa, wie schon Kopcherutoi, Bildern gegenüber eher gleichgültig.

Was bedeutet es, in einer solchen Gesellschaft zu filmen oder zu fotografieren? Da die Ältesten große Erzähler, Künstler des Wortes und der Gesten waren, wollte ich unbedingt einen Film über sie und ihre Sicht auf die Welt drehen. Als Teil meiner Ausbildung an der Berliner Film- und Fernsehakademie wollte ich das »endlose Gespräch«, das wir begonnen hatten, vor der Kamera fortsetzen. Ich fragte Kopcherutoi, Aingwo, Kabon und den Wahrsager Sirpen, ob sie mir erlauben würden, sie zu filmen. Da ein paar Jahre zuvor katholische Missionare einen Jesus-Film in Bartabwa gezeigt hatten, kannten sie das Medium bereits. Sie waren einverstanden und gaben mir die Erlaubnis, sie so aufzunehmen, wie sie sich vor der Kamera darstellen wollten.

Zusammen mit der Kamerafrau Hille Sagel13 habe ich 1980/81 zwei ethnografische Filme in den Tugenbergen gedreht: Im Bauch des Elefanten (1982) und Gespräche mit Kopcherutoi (1985). Im Gegensatz zu mir hatte Hille bereits Filmerfahrungen gesammelt und schon erfolgreich einen Spielfilm gedreht. Sie besuchte Afrika zum ersten Mal. Wir hatten deshalb ausgemacht, dass, falls sie mit der Situation vor Ort nicht zurechtkäme, sie jederzeit nach Hause fahren könne. Doch Hille zeigte sich den manchmal abenteuerlichen, für sie neuen technischen, kulturellen und sozialen Herausforderungen in den Tugenbergen überaus gewachsen.

Als sie eines Abends in unserem Haus von einem Skorpion gebissen wurde, bewahrte sie eine erstaunliche Gelassenheit, während ich in Panik geriet. Ich hatte von Skorpionen in Mexiko gehört, deren Biss tödlich endete, und in meinem Ratgeber für die Tropen nur den Hinweis gefunden, sofort den nächsten Arzt aufzusuchen. Das hätte mit dem Auto fünf Stunden gedauert, aber wir hatten kein Auto. Ich rannte zu unserem Nachbarn, der sogleich mit einem dicken Stock in der Hand zu uns kam. Mit einem Schlag erledigte er den Skorpion, der sich unter einer blauen Plastikschüssel versteckt hatte. Er sah sich den Leichnam an, schaute dann auf Hilles geschwollenen, roten Fuß und befand, der Biss sei nicht tödlich. Hille werde nachts starke Schmerzen haben, aber morgen Früh sei das vorbei. Sie schluckte drei Aspirintabletten und schlief gegen Morgen endlich ein. Am Nachmittag ließ sie sich nicht davon abbringen, die Filmarbeit wieder aufzunehmen. Nach diesem Ereignis begann sie, eine Liste über all die Tiere zu führen, die sie bissen. Glücklicherweise kam kein zweiter Skorpion hinzu, aber einige Floh– und Mückenstiche musste sie verzeichnen. Die Übersetzung ins Bürokratische half ihr (und mir), ein wenig Handlungsmacht, Ordnung und Kontrolle zurückzugewinnen, die wir in der Nacht des Skorpions verloren hatten. Ich jedoch entwickelte eine mörderische Gewohnheit. Jeden Abend, bevor es dunkel wurde, näherte ich mich vorsichtig mit einem Schuh in der rechten Hand der blauen Plastikschüssel, hob sie behutsam hoch und erschlug den (neuen) Skorpion, der sich dort versteckt hatte.

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Bevor ich weiter über unsere Filmarbeit berichte, muss ich kurz ein Ereignis schildern, das mich veranlasste, über technisch reproduzierte Bilder in einer neuen Richtung nachzudenken. Es war an einem späten sonnigen Nachmittag, als Menschen, Tiere und Dinge lange Schatten warfen. Kipsang und ich standen mit einer kleinen Gruppe auf dem Marktplatz von Bartabwa, als die neben mir stehende Frau laut aufschrie und sich hastig ein Stück von mir wegbewegte, als ob ich sie in Gefahr gebracht hätte. Ich erschrak und schaute Kipsang fragend an; er redete beruhigend auf die Frau ein und erklärte mir später, dass ich auf ihren Schatten getreten sei. Indem ich ihren Schatten mit Füßen getreten hatte, hätte ich ihr meinen Respekt verweigert und sie verletzt. Dass die älteren Bewohner der Tugenberge, die keine Uhr besaßen, auf den Schatten von Häusern oder Bäumen achteten und seine Richtung, Länge oder Kürze zur Bestimmung von Zeit nutzten, hatte ich bereits in Erfahrung gebracht; dass sie besondere Aufmerksamkeit auf den menschlichen Schatten legten, diesen beweglichen und flüchtigen Begleiter, war mir jedoch bis dahin verborgen geblieben. Ich entschuldigte mich bei der Frau und achtete danach peinlich genau darauf, wohin mein Schatten fiel und wohin ich trat. Ich stellte fest, dass selbst kleine Kinder sich bemühten, den Schatten einer anderen Person zu respektieren.

Dieser Zwischenfall veranlasste mich, Aingwo zu fragen, warum der Schatten einer Person so viel Achtsamkeit verlange. Diese Frage sei eine gute Frage, sagte er. Jeder Mensch habe zwei Schatten, einen hellen und einen dunklen. Im Gegensatz zu tondoi, dem hellen Schatten, den nur Menschen werfen, wird der dunkle Schatten von Menschen, Tieren und Dingen rurwe genannt. Tondoi ist eher unsichtbar, aber fest mit dem Körper einer Person verbunden. Er kann sich jedoch im Schlaf ablösen und in der Welt umherwandern. Was ihm widerfährt, erfährt der Schlafende im Traum. Erwacht er, kehrt der Schatten wieder in seinen Körper zurück. Nach dem Tod entfernt sich tondoi endgültig und irrt verzweifelt auf der Suche nach einem neuen Körper umher. In dieser Zeit gilt er als besonders gefährlich. Weil man nie wissen kann, ob sich der Schatten eines Toten an den eigenen geheftet hat, achten die Lebenden sehr genau darauf, wohin ihr Schatten fällt. Sie suchen vor allem zu verhindern, dass er Kinder und schwangere Frauen berührt, weil diese besonders leicht Schaden nehmen können. Auch der Schatten von Fremden – wie mir – sei gefährlich, sagte Aingwo.

Während rurwe die jeweilige Präsenz verdoppelt und die Grenze des Körpers ständig verändert, ausdehnt oder schrumpfen lässt, verbindet sich tondoi – von christlichen Tugen auch als »Seele« bezeichnet – mit dem Tod und weist damit auf eine Abwesenheit hin. Beide Schatten können sich überlagern und dann gefährlich werden. Offensichtlich sahen die Bewohner der Tugenberge den menschlichen Schatten als Teil der sozialen Person, den man nicht berühren oder verletzen durfte.

Vor diesem Hintergrund staunte ich sehr, als ich im Rahmen unserer ethnografischen Film- und Fotoarbeit in Bartabwa in Erfahrung brachte, dass die jungen Leute Fotos mit dem englischen Wort picture bezeichneten, die Ältesten aber das Wort tondoi gebrauchten. Damit schlossen sie nicht nur an westliche Bildtheorien an, die im Schatten den Ursprung des Bildes überhaupt sehen, sondern auch an religiöse Vorstellungen vom Schatten als Seele, Bild oder Widerschein sowie als Teil der Person, der auch abwesend sein, verloren oder geraubt werden kann. Wenn die Ältesten Fotos als Schatten bezeichneten, dann sahen sie auch das Foto als dem Körper eines Menschen zugehörig an. Damit stellten sie eine Verbindung zwischen dem modernen Medium der Fotografie und jenen Vorstellungen überall auf der Welt her, in denen der Schatten mit der Seele gleichgesetzt wird. Das Schattenbild verwies also auch auf religiöse Erfahrung und den Tod – und damit auf ein aufgeladenes performatives Moment des fotografischen Aktes. Umgekehrt ließe sich sagen, dass die Vorstellung von einer sozialen Person mit elastischen Grenzen, die sich relational ausdehnen oder schrumpfen, im Schattenbild sichtbar wird. Dieses erweiterte Körperbild besteht aus Eigenem und Fremdem, wenn sich der Schatten eines Verstorbenen oder einer Fremden an den eigenen hängt, ihn besetzt, überlagert oder verletzt. Dann wird der Schatten, um mit Deleuze zu sprechen, zu einem starken Affektbild, das Angst und Schrecken hervorruft.

Wenn die Ältesten ein analoges Foto als Schatten bezeichneten, dann stellten sie nicht, so wie wir, das Licht, das sich in die Bildoberfläche einschreibt, in den Vordergrund, sondern das Gegenteil, den Schatten, der dem Licht widersteht. Auch William Henry Fox Talbot, einer der Erfinder der Fotografie, hat das Medium nicht nur als Lichtschrift oder Lichtzeichnung, sondern auch als Skiagrafie, als ein »Schreiben mit dem Schatten« bezeichnet. Doch während im Westen das Licht (der Aufklärung) und die Vorstellung von Transparenz für die Konzeption von analoger Fotografie (gerade in ihrer Allianz mit der Wissenschaft) immer mehr in den Vordergrund trat, vernachlässigte auch die Kunstgeschichte den Schatten als abhängiges und eher negatives Element.14 Und auch die technischen Wissenschaften interessierten sich nicht besonders für den Schatten, weil ihm nicht, wie dem Licht, das Potenzial zur Übertragung von Energie und Informationen zukam.15

Die Konzeption des Fotos als materialisierter Schatten war somit Ausdruck einer lokalen Ästhetik, die weniger Helligkeit und Licht als vielmehr die Widerständigkeit gegen das Licht ins Zentrum rückte und verschiedene Grade von Dunkelheit und Opazität unterschied. Dabei waren die »dunklen Stellen« nicht nur negativ, sondern auch positiv konnotiert. Wie Aingwo erklärte, bietet gerade die Dunkelheit des Schattens Menschen und Tieren Schutz, Zuflucht und Kühle. Der Schatten eines Menschen kann auch, so Aingwo, die individuelle Würde und vor allem den Respekt, den andere – Lebende und Tote – ihm entgegenbringen, bergen und bezeugen. Und wie der Schatten Teil einer Person ist und die Körpergrenzen somit immer wieder verschiebt und variiert, so sind auch Fotoporträts Teil einer Person. Sie sind Abbild und Spur eines Subjekts, das Objekt geworden ist, und erlauben, sich zu sehen, wie andere einen sehen.

Während der Blick ins Licht eine Blendung hervorrufen kann, wäre der gegenläufige Blick ein Blick auf den Schatten, der die Relationen zum Ausdruck bringt, denen er unterworfen ist. Wie Édouard Glissant forderten in gewisser Weise auch die Ältesten eine positive Um- und Aufwertung von Schatten, Dunkelheit und Opazität. Diese Opazität koexistiert mit Licht auf der Oberfläche eines Fotos. Dabei kommt es, so Glissant, auf die Textur des miteinander Verwobenen an und nicht auf die einzelnen Komponenten.16

Aingwo erklärte mir, dass es auch Hexer und Zauberer in den Tugenbergen gebe, die tondoi stehlen. Heilern kam die Aufgabe zu, ihn wieder zurückzubringen.

Ich kann mit Sicherheit sagen, dass Aingwo nicht James Frazers berühmtes Buch Der goldene Zweig von 1890 gelesen hatte. In diesem Buch, das nicht nur Ethnologen, sondern auch Schriftsteller und Philosophen wie Rudyard Kipling, Ezra Pound, D. H. Lawrence, T. S. Eliot, Ludwig Wittgenstein und nicht zuletzt Sigmund Freud nachhaltig beeindruckte, ist viel von Schatten und Seele die Rede. In wahrhaft wilder Reihung, auf der ganzen Welt hin- und herspringend, beschreibt Frazer vor allem im Kapitel »Gefahren der Seele« die Seelenvorstellungen der »Wilden« in immer neuen Variationen: die Seele als Schatten, Bild oder Widerschein; die Seele als dickes, dünnes, leichtes oder schweres Männchen oder Zwerg; und als Teil der Person ist es die Seele, die abwesend sein, verloren oder geraubt werden kann.

Die Beispiele, die Frazer für den Verlust oder Raub der Seele anführt, sind nicht zufällig dramatische Szenen kolonialer Begegnung, Szenen medientechnischer Überlegenheit, in denen Reisende und Forscher mit modernen technischen Medien, insbesondere der Kamera, die »Wilden« erschrecken und in Panik versetzen. In den Berichten verwandelt sich die Kamera in eine Seelenklaumaschine, einen Schattenräuber, der die Seelen der Fotografierten raubt, zerstört oder frisst.

Ich gebe zwei Beispiele:

Ein Forschungsreisender hatte einmal in einem Dorf am unteren Yukonflusse seinen Kodak aufgestellt, um die Leute aufzunehmen, als sie zwischen den Häusern umhergingen. Während er den Apparat einstellte, trat der Häuptling hinzu und bestand darauf, unter das Tuch zu gucken. Es wurde ihm gestattet, und er starrte eine Minute lang auf die sich bewegenden Figuren auf der Mattscheibe, zog dann plötzlich seinen Kopf zurück und schrie den Leuten, so laut er konnte, zu: »Er hat all eure Schatten in seinem Kasten.« Eine Panik brach unter der Gruppe aus, und im Augenblick verschwanden sie alle Hals über Kopf in ihre Häuser.17

Und ein weiteres Beispiel:

Die Tepehuanes von Mexiko hatten eine Todesangst vor dem Photographenapparat, und es kostete fünf Tage Überredung, sie dazu zu bewegen, sich aufnehmen zu lassen. Als sie endlich einwilligten, sahen sie wie Verbrecher vor ihrer Hinrichtung aus. Sie glaubten, der Künstler könne, wenn er sie photographiere, ihre Seelen wegtragen und in seinen Mußestunden verschlingen.18

Nicht nur bei Frazer, auch in anderen ethnologischen Texten und Reiseberichten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ist erstaunlich häufig und ausführlich von Furcht und Schrecken die Rede, die die Kamera (und andere Medien) bei den Bewohnern Afrikas, aber auch Asiens oder Amerikas auslöst.19

Schaut man sich die Reiseberichte genauer an, dann wird deutlich, dass westliche Reisende, Missionare und koloniale Verwaltungsbeamte Instrumente wie die Kamera, die eigentlich der wissenschaftlichen Erforschung und Dokumentation dienen sollten, auch nutzten, um »Wunder« zu erzeugen, um Afrikaner in Erstaunen zu versetzen und zu erschrecken. Sie gebrauchten Feuerwerk, Spiegel, Laterna magica, Fernglas und Kamera in doppelter Weise: Zum einen stellten sie sie als wunderbare Objekte aus, um sie als Waren in einen Kreislauf des Begehrens zu integrieren; zum anderen als magische Instrumente, die die Einheimischen überwältigen und sie selbst mit einer Aura übermenschlicher Macht ausstatten sollten. Sie konvertierten Technik in Magie und ließen sich scheinbar auf eine magische Welt ein, an die sie selbst nicht mehr glaubten. In den Szenen medientechnischer Überlegenheit erzeugten sie die magisch verblendeten »Wilden«, die immer wieder selbst den Beweis für diese Zuschreibung erbrachten, indem sie sich vor den Effekten der Technik fürchteten, Ding und Person nicht eindeutig trennten und ein Bild für den Teil einer Person nahmen, der geraubt werden konnte.

Wir wissen heute recht gut, wie Frazer sein ethnografisches Wissen erlangte. Als sogenannter Schreibtischethnologe, der Europa nie verließ und auf die Frage, ob er jemals »im Feld unter den Wilden« gewesen sei, mit »Gott behüte« antwortete, verschickte er Fragebögen an »men on the spot«, Reisende, Missionare und Verwaltungsbeamte in den Kolonien. Ihre Antworten, ein Sammelsurium aus Anekdoten, kulturellen Missverständnissen und Beobachtungen aus manchmal erster, meist aber zweiter und dritter Hand, bildeten den Stoff, aus dem er den »goldenen Zweig« wob.

Das Motiv des Seelenklaus oder des Verlusts des Schattens war auch in Europa bekannt. Es tauchte zum Beispiel zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Adelbert von Chamissos Peter Schlemihls wundersame Geschichte von 1813 auf und später auch in anderen populären Erzählungen. Wie Roland Barthes20 bemerkte, wurden diese Erzählungen jedoch geschrieben, bevor die Fotografie zur dominanten Technik der Reproduktion von Porträts wurde. Unabhängig vom Medium der Fotografie, das sich auf die Verdopplung spezialisierte, teilten also Europäer und Afrikaner den Diskurs über den Seelenklau. Allerdings nahmen sie je unterschiedliche Positionen der Macht ein: Die einen fotografierten, die anderen wurden fotografiert.

Beide teilten auch die Einsicht in die Gewalttätigkeit der Fotografie. Nicht zuletzt hat Roland Barthes in seiner Theorie der fotografischen Praxis in Die helle Kammer von 1989 die Enteignung des Fotografierten, seine Verwandlung in ein Objekt, ins Zentrum gestellt und damit das Gewaltsame, Räuberische und Tödliche der Fotografie betont. Tatsächlich hat er mit diesem Text den Versuch unternommen, die kolonialen Szenen technischer Überlegenheit umzukehren, indem er das, was »die Wilden« vor der Kamera zu erleiden hatten, nun verallgemeinert in seine Theorie der fotografischen Praxis aufnahm. Nicht aus der Perspektive des Fotografen, sondern aus der des Fotografierten, der den fotografischen Akt erleidet, entwickelte er seine Gedanken über das Medium.

Es ist kein Zufall, dass wir in Barthes’ Text wieder dem Doppelgänger, dem Schatten und der Vorstellung vom Seelenraub begegnen. Obwohl Frazers »Wilde« bei Barthes nie explizit Erwähnung finden, haben sie dennoch eine deutliche Spur hinterlassen: Er verweist auf Edgar Morins Buch L’homme et la Mort von 1948, das sich vergleichend mit Todesvorstellungen überall auf der Welt auseinandersetzt. Und hier finden wir auch Frazer und seine »Wilden« wieder sowie die Idee des Seelenklaus, des Doppels, des Schattens und Spiegelbildes als Teil einer Person. Indem sich Barthes zum »Wilden« macht, der die Fotografie erleidet – »ich bin ein Wilder, ein Kind oder ein Verrückter; ich lasse alles Wissen, alle Kultur hinter mir …«21 –, gibt er den scheinbar neutralen technischen Apparaten und Bildern ihre Macht und Magie zurück. Auch das Unheimliche an der Fotografie, das lange aus dem dominanten westlichen Diskurs ausgeschlossen war, bringt er zurück. Damit rehabilitiert er die Frazer’schen »Wilden« und die Vorstellung vom fotografischen Seelenklau. Er zeigt, was wir alle teilen, wenn die Kamera uns erfasst.

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