Buch lesen: «Menschwerdung eines Affen», Seite 2

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Mitte der 1970er-Jahre fuhr ich nach Paris und lernte dort Jean Rouch kennen. Rouch, Schüler von zwei Marcels, Marcel Mauss und Marcel Griaule, hatte sich aufs ethnografische Filmemachen verlegt. Anfangs sowohl von etablierten Filmemachern wie auch Ethnologen als Außenseiter und Spinner marginalisiert, nahm er sich die Freiheit, gegen die akademische Textzentriertheit mit dem Medium Film und neuen ethnografischen Praktiken zu experimentieren. In Opposition zu kolonialen asymmetrischen Methoden entwickelte er eine »geteilte Ethnografie«, ein filmisches Unternehmen, das die Bilder und Töne, die er in Afrika vor allem von Besessenheitsritualen aufgenommen und in Paris montiert hatte, nach Afrika zurückbrachte. In der »Ciné-Trance«, einer mimetischen Praxis, teilte er die Trance und Besessenheit, die Überwältigung durch fremde Mächte, mit den Gefilmten. Gegen die szientistische Selbstermächtigung des Ethnografen, der im Feld zu handeln vermeint, rückte er die andere Seite des Handelns, nämlich das Erleiden des Handelns anderer, das Behandelt-Werden, in den Vordergrund. Wie sich in Besessenheitskulten Geister in ihren Medien verkörpern, so ließ sich Rouch von der Praxis der Geistbesessenheit der Ethnografierten ergreifen. Gerade die kinematografische Technik, die Verschaltung seines Körpers mit der Kamera, erlaubte ihm, sich fremden Geistern auszuliefern und eine reziproke Ethnografie zu praktizieren, die sich durch transkulturelle Feedbacks immer wieder selbst korrigierte.

Rouch praktizierte auch eine »verkehrte« Ethnografie. In seinem berühmten Film Les maîtres fous von 1956 zeigt er das jährliche Ritual der Hauka, kolonialer Fremdgeister, »der Geister der Macht und des Windes, die den Wahnsinn bringen«. Im Zustand der Besessenheit verkörpern die Mitglieder des Kultes die »Geister der Kolonialgesellschaft«, des »Gouverneurs«, der »Lokomotive« oder der »Frau des Doktors«. Im Ritual entwerfen sie ihre Ethnografie der westlichen (kolonialen) Kultur. Der Film ist also zugleich doppelte und umgekehrte Ethnografie: gefilmte Ethnografie sowie die Ethnografie der Gefilmten, die uns den Spiegel vorhalten und uns zeigen, wie sie uns sehen.

Auch in seinem späteren Film Petit à Petit aus dem Jahr 1969 behandelte Rouch das Thema des umgekehrten Blicks und die Gewaltsamkeit ethnografischer Methoden. Er zeigt einen afrikanischen Ethnografen in Paris, der dort eine Feldforschung über die »Pariser Wilden« und ihre Probleme beim Wohnen in Hochhäusern durchführt. Durch die Vertauschung von Subjekt- und Objektpositionen finden die ethnografischen Methoden bei denen Anwendung, die sie entwickelt haben. Durch die Umkehrung der Perspektive, die die Europäer zum Objekt der Feldforschung macht, kann der westliche Ethnograf erkennen, was es heißt, ethnografische Methoden erleiden zu müssen.

Rouchs ethnografische Filmarbeit beeindruckte mich so stark, dass ich 1977 mit Ulrich Gregor, damals Leiter des Berliner Kinos Arsenal und der Freunde der deutschen Kinemathek, eine erste Retrospektive seiner Filme in Berlin organisierte und 1980 eine Ausbildung an der Deutschen Film- und Fernsehakademie begann, die ich 1984 abschloss.

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Am Berliner Institut für Ethnologie galt die ethnografische Feldforschung als absolutes Muss. Unsere großen Vorbilder waren Bronisław Malinowski (trotz oder gerade wegen des Skandals um die Veröffentlichung seines Tagebuchs 1967), Edward E. Evans-Pritchard, Geoffrey Lienhardt und Jean Rouch. Die Feldforschung als teilnehmende Beobachtung hatte den Status einer doppelten Initiation, nicht nur in eine fremde Gesellschaft, sondern auch in die Gemeinschaft der Berliner Ethnologen. Sie war der zentrale Passage-Ritus mit seinen drei Phasen, wie sie Arnold van Gennep beschrieben hat: das Verlassen der eigenen Welt, der Aufenthalt in der Fremde als liminale Phase und die Rückkehr.3

Da ich bereits Mann und Kind hatte, waren es vor allem praktische Gesichtspunkte, die zur Auswahl der Tugenberge im Nordwesten Kenias als Forschungsterrain führten. Die Tugenberge, eine Gebirgskette, die sich bis in 2000 Meter Höhe in Nord-Süd-Richtung erstreckt, gehören zum Großen Afrikanischen Grabenbruch, dem Rift-Valley. Dort oben gab es keine Malaria, aber für alle Fälle eine Krankenstation in nicht zu weiter Ferne.

Dieses karge und nicht besonders fruchtbare Gebirge hatte schon im 19. Jahrhundert vielen Menschen als Rückzugs- und Zufluchtsort gedient. Die Bewohner nannten es »Land der Steine« und erzählten, dass ihr Gott, als er die Berge erschuf, schon so müde gewesen sei, dass er nur noch Steine auf die Erde habe werfen können. Das Land war so arm, dass es relativ unbehelligt blieb, als Kenia Siedlungskolonie wurde und aus Großbritannien und Südafrika Siedler ins Land strömten, um sich die fruchtbaren Regionen anzueignen. Während in der Zentralprovinz die Menschen brutal von ihrem Land vertrieben, enteignet und in Reservate gezwungen wurden, konnten die Bewohner der nördlichen Tugenberge ihr karges Land behalten.

In den 1970er-Jahren umfasste die Bevölkerung etwa 120 000 Menschen, die weit verstreut in einzelnen Gehöften in den Bergen lebten. Sie bauten Mais und Hirse an und hielten Ziegen, Schafe und Rinder. Von allen Tieren schätzten sie vor allem das Rindvieh. Sie setzten – wie die berühmten Nuer im Sudan – eine »Rinderästhetik« ins Werk, mit der sie die Schönheit ihrer Bullen und Kühe im Tanz und in poetischen Lobgesängen zum Ausdruck brachten. Hätten die männlichen Bewohner der Berge mich eine »Kuh« genannt, wäre das ein großes Kompliment gewesen, beinahe eine Liebeserklärung. Leider raubten ihnen die Pokot, ihre Nachbarn im Norden, regelmäßig ihre wertvollen, hochgeschätzten Rinder und nannten sie verächtlich »Ziegenleute«.

Alle paar Jahre suchte außerdem eine verheerende Dürre die Region heim. Wenn die Situation unerträglich wurde und »Menschen und Tiere vor Hunger und Durst umfielen«, verließen Männer und Frauen mit ihren Kindern die Gehöfte und zogen in die Wildnis, um dort zu jagen und zu sammeln. Kam der Regen, kehrten sie in ihre Häuser zurück.

In vorkolonialer Zeit waren die Bewohner akephal, hatten also keinen Häuptling, stattdessen eine gerontokratische Organisation in acht Altersklassen, deren Namen nach etwa 100 Jahren, wenn ein Kreislauf vollendet war, wiederkehrten. Alte Männer und Frauen herrschten über junge Männer und Frauen. Solange sie Kinder bekamen, waren Frauen von der Politik ausgeschlossen. Nach der Menopause erlangten sie jedoch den Status von rituellen Ältesten und waren den alten Männern gleichgestellt.

Während der Kolonialzeit verloren männliche und weibliche Älteste weitgehend ihre Macht an mehr oder weniger despotische Häuptlinge, die zunächst von der britischen Kolonialverwaltung und später, ab der 1963 erlangten Unabhängigkeit, vom postkolonialen Staat eingesetzt wurden. Meist lehnte die lokale Bevölkerung die Häuptlinge ab. Diese trieben Steuern ein, sprachen Recht und versuchten die Belange des Staates durchzusetzen. Außerdem verfügten sie über finanzielle Ressourcen und bestimmten, wer in Hungerszeiten Maismehl aus den Hilfsprogrammen erhielt.

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1978 besuchte ich die Tugenberge zum ersten Mal. Fünfzehn Jahre zuvor hatte Kenia die Unabhängigkeit erlangt. Jomo Kenyatta, ein Ethnologe, der bei Malinowski in London studiert und promoviert hatte, wurde Präsident, und sein Vize Daniel arap Moi stammte, was ich erst später erfuhr, aus den Tugenbergen. Es herrschte (noch) eine optimistische Grundstimmung, die von der Hoffnung auf Modernisierung und Entwicklung (für alle) getragen war.

Den damaligen Standards einer »Rettungsethnologie« entsprechend war ich jedoch weniger an einer afrikanischen Moderne interessiert als an ihrem Gegenbild, an vom Kolonialismus möglichst unberührten Traditionen. Ich hatte mir deshalb eine Gegend im Norden der Tugenberge ausgesucht, wo die Bewohner »noch wie ihre Väter lebten«. In dem Dorf Bartabwa ließ ich mich nieder und begann meine ethnografische Arbeit, ahnungslos und ziemlich ignorant.

Bartabwa war zwar eine koloniale Gründung und diente als Handels- und Verwaltungszentrum, aber die Mehrzahl der Bevölkerung lebte weiter entfernt in verstreuten, kreisrunden Gehöften in den Bergen. Bartabwa bestand aus einer staubigen, nicht asphaltierten Straße mit tiefen Löchern und Rinnen, die Ende der 1950er-Jahre fertiggestellt worden war und sich in der Regenzeit in eine kaum befahrbare Rutschbahn verwandelte. Zu beiden Seiten der Straße standen »moderne« rechteckige Holzhäuser mit Wellblechdach, die an Orte im Wilden Westen erinnerten. Einige der Holzhäuser beherbergten kleine Geschäfte, die Batterien, Taschenlampen, Salz, Zigaretten, Kerzen, Seife – vor allem das Waschmittel Omo – und diverse Konservenbüchsen verkauften. Da die Kundschaft mit wenigen Ausnahmen sehr arm war, wurden Zigaretten einzeln oder sogar halbiert verkauft. Andere Häuser dienten als kleine Bars, die Bier, Tee, Chapati und Bohneneintopf, Kartoffeln und Maisbrei anboten. Es gab auch einen Marktplatz, auf dem Frauen aus der Umgebung zweimal pro Woche Gemüse, Früchte und fertiggekochte Speisen verkauften. In einem der Häuser hatte der einzige wohlbeleibte Mensch in Bartabwa, nämlich der Häuptling, sein Büro. Außerdem gab es eine Maismühle, eine Grundschule und eine Krankenstation.

Zwei Monate nach meiner Ankunft starb Kenyatta, und Daniel arap Moi übernahm die Macht. Damit wurden die Bewohner der Tugenberge »the President’s people«. Viel Geld floss plötzlich in die Region, und eine rasante Entwicklung fand statt. Vor allem der Süden wurde durch eine elegante moderne Asphaltstraße, auf der allerdings weniger Autos als vielmehr Ziegen verkehrten, mit Nakuru, der nächstgrößeren Stadt, verbunden. In Kabarnet, der Distrikthauptstadt am Fuße der Tugenberge, entstanden in Windeseile drei antiken Tempeln nachempfundene pompöse Gebäude: eine Post, ein Supermarkt und eine Schule, die den Rest des Ortes umso erbärmlicher aussehen ließen.

Der neue Präsident Daniel arap Moi stammte aus einem Dorf mit Namen Kabartonjo, das etwa in der Mitte der sich in Nord-Süd-Richtung erstreckenden Tugenberge liegt. Hier war er geboren, und bis hierhin führte die asphaltierte Straße, keinen Schritt weiter. Die Bewohner des Nordens, so auch die aus Bartabwa, blieben von der neuen Straße, den Strömen des Geldes und den beschleunigten Entwicklungsprozessen weitgehend ausgeschlossen. Sie mussten als immer noch »Arme«, »Primitive«, »Unterentwickelte« und »Zurückgebliebene« für ein verachtetes Gegenbild in einem Nationalstaat herhalten, der »Fortschritt« und »Entwicklung« propagierte. Neben die räumliche Differenz trat eine zeitliche. Obwohl die Bewohner des Nordens gleichzeitig mit denen im Süden existierten und beide den gleichen Raum, die Tugenberge, teilten, wurden sie in ein »Vorher« und ein »Noch-Nicht« gezwungen. Mit der Verzeitlichung des Gegenbildes entstand eine Dynamik der Negation, der Herabsetzung und Ausgrenzung, die letztlich – vor dem Hintergrund des Versprechens auf Modernisierung und Fortschritt – auf Aufhebung zielte. So wiederholte und bestätigte sich die Zweiteilung der Welt in sogenannte entwickelte und unterentwickelte Regionen hier noch einmal – in Verzerrung und Abhängigkeit.

Die Bewohner von Bartabwa nahmen das sehr wohl zur Kenntnis. Als einige Jahre später eine schlimme Dürre sie heimsuchte und die Regierung keine Hilfe schickte, nannten sie die Hungersnot »nyayo«. Nyayo war der Slogan, den der neue Präsident nach seiner Machtübernahme ausgegeben hatte und der für seine »Philosophie des Friedens, der Liebe und Einheit« stand. Doch der Präsident und seine Anhänger betrieben in den folgenden Jahren nicht nur eine brutale »Politik des vollen Bauches«, der Korruption und des Raubes, sondern auch – um an der Macht zu bleiben – eine verstärkte Politisierung und sogar Militarisierung von Ethnizität, die in den 1990er-Jahren zu gewalttätigen ethnischen »Säuberungen« führten. Dabei sollten Bewohner der Tugenberge sowohl zu Tätern als auch zu Opfern werden.

Es ist kein Zufall, dass die Bewohner Bartabwas in den 1980er-Jahren die eigene nationale Regierung als »chumbek« bezeichneten, eigentlich eine Bezeichnung für Europäer, die Kenia und die Tugenberge kolonialisiert hatten. Offensichtlich sahen sie keine Veranlassung, die Zeit der Kolonialisierung, Unterdrückung und Ausbeutung als vergangen zu betrachten. Trotz des Wechsels der Herrschenden war die Kolonialzeit für sie nicht beendet. Das »post-« in postkolonial erkannten sie nicht an.

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In Kabarnet stiegen mein Sohn und ich in ein Matatu, ein sogenanntes Buschtaxi, das uns nach Bartabwa bringen sollte. Es war ein uralter klappriger Jeep mit durchlöchertem Boden; wenn er sich, vollbepackt, auf der holprigen, von großen Kratern durchzogenen Straße nach rechts oder links neigte, sprang die jeweilige Seitentür auf. Die Räder waren, wie sich auf der Fahrt herausstellte, nicht ordentlich befestigt: Schrauben fehlten. Wir hatten die sichersten Plätze, saßen neben dem Fahrer vorne in der Mitte und konnten, wenn die Türen sich öffneten, nicht hinausfallen. Der Mann rechts neben mir versuchte mit einer Hand die Tür geschlossen zu halten und streckte immer wieder den Kopf aus dem Fenster, um das Vorderrad zu beobachten und den Fahrer rechtzeitig zu warnen. Es lockerte sich tatsächlich, wir hielten an, und der Fahrer wechselte es gegen ein anderes aus, das jedoch auch nur mit drei Schrauben befestigt wurde. Wir fuhren weiter, bis auch dieses Rad sich löste.

Trotz der Pannen war die Stimmung unter den Fahrgästen hervorragend. Sie scherzten, erzählten Witze und gaben den übrig gebliebenen Schrauben die Namen berühmter Krieger, die besonders tapfer gewesen waren – vielleicht in der Hoffnung, dass die Schrauben sich nun auch als tapfer und widerständig erweisen würden. Doch die Namensgebung half nicht, es gab kein weiteres Ersatzrad. Wir blieben auf der Strecke. Nach etwa drei Stunden kam ein anderes Matatu angefahren und nahm uns mit nach Bartabwa. Dort angekommen stiegen wir aus. Wir waren Besucher, die nicht eingeladen waren. Wir waren Fremde, die zu Gästen gemacht werden mussten.

Ich hatte damals keine Ahnung, ob überhaupt und wenn ja, wie viel meine Forschungsgenehmigung wert war und inwieweit sie Schutz und Unterstützung bedeutete. Ich wusste nur, dass mein erster Ansprechpartner der Vertreter des Staates, der Häuptling, war. Wir suchten sein Büro in der Hauptstraße auf; ich zeigte meine Forschungsgenehmigung vor, und der etwas überraschte, aber freundliche Häuptling stellte nach kurzer Überlegung meinem Sohn Henrik und mir eine leer stehende, etwas verfallene Hütte zur Verfügung. Henrik, damals sieben Jahre alt, war ein antiautoritär erzogenes Berliner Kinderladenkind, offen, neugierig und rotzfrech. Da Bartabwa bis dahin nur von erwachsenen Europäern, vor allem katholischen Missionaren, besucht worden war, avancierte er zu einer exotischen Sehenswürdigkeit. Von weit her kamen die Bewohner der Berge, um ihn zu betrachten. Henrik half in den kleinen Geschäften und lockte Kunden an; er bewachte mit den anderen Kindern die Maisfelder, hütete Ziegen und Schafe, lernte mit Keulen werfen und hantierte – wie Tarzan – mit Pfeil und Bogen. Er wurde mit Gaben überschüttet, bekam sogar eine Ziege geschenkt. Im Gegensatz zu mir lernte er die lokale Sprache in Windeseile und erzählte mir abends Klatsch und Tratsch. Wie in den Tugenbergen üblich wurde er nicht nach mir, sondern ich nach ihm »Mama Henry« genannt.

Wie ich später lernte, erhalten Frauen und Männer im Lauf ihres Lebens viele verschiedene Namen. Das rituelle Geben von Namen ist eine (auto-)biografische Praxis. Kurz nach der Geburt bekommt ein Kind in einem »kleinen« Ritual den Namen eines Ahnen. Vorher finden die Ältesten in einem Orakel den Ahnen heraus, der »ein gutes Leben führte« und bereit ist, dem Kind seinen Namen zu geben. Jede Lineage verfügt nur über eine bestimmte Anzahl von Namen, die unter den Angehörigen, den Toten und den Lebenden, zirkulieren; neue Namen gibt es nicht. Die Namen sind dauerhafter als die Menschen, die sie tragen. Und sie verpflichten: Ein Kind erhält im Namen als Zukunft die Vergangenheit eines und damit vieler Vorfahren. Es lebt in gewisser Weise in umgekehrter Richtung, denn es muss dem Namen des Ahnen gerecht werden, sein Leben nach ihm ausrichten, es wiederholen. Doch ist der Ahne, dessen Name so übermächtig das Leben seines Nachkommen bestimmt, tot. Sein »Leben« gehört den Lebenden, sie können es biegen und zu eigenen Zwecken nutzen. Erweist sich die Beziehung zwischen Kind und Ahne als unglücklich, wird der Ahne ausgetauscht. Er muss sich als der Richtige beweisen, indem er das Wohlergehen des Kindes garantiert. Gelingt ihm das nicht, so wird sein Name abgeschafft und vergessen und ein anderer Vorfahre muss mit seinem Namen herhalten.

Während Frauen dem Kind den ersten Namen gaben, erhielt es einige Jahre später von Männern einen zweiten, den »Ziegennamen«, benannt nach der Ziege, die das Kind geschenkt bekommt. Manchmal setzte sich im Lauf des Lebens der Name durch, den die Frauen gegeben hatten, manchmal der Ziegenname. Es kam aber auch vor, dass das Kind auf beide Namen hörte; dann riefen es die Frauen mit dem Namen, den sie ihm gegeben hatten, und die Männer benutzten den Ziegennamen.

Doch gaben Eltern mitunter ihren Kindern zusätzlich noch einen dritten Namen, der an ein Ereignis erinnert, das während der Geburt stattfand. Zahlreiche Kinder hießen zum Beispiel Kemei, »Hunger«, weil zur Zeit ihrer Geburt der Hunger herrschte. Ein Kind wurde Chumba, »Europäer«, genannt, weil es geboren wurde, als ein Europäer anwesend war. Ich traf auch ein Kind, das »Löffel« hieß, weil seine Eltern am Tag der Geburt zum ersten Mal einen Löffel sahen.

Während die Ahnennamen das Kind als Wiederholung in die Genealogie eingliedern, betonen die Ereignisnamen (so wie Spitznamen) eher seine Einmaligkeit und Individualität, Eigenschaften, die es auszeichnen, die aber auch – im Gegensatz zu den Ahnennamen – mit seinem Tod verschwinden.

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Da ich bis 1985 regelmäßig nach Bartabwa zurückkehrte, teilten die Ältesten mir einen jungen Mann mit Namen Naftali Kipsang zu, der mich bei all meinen Unternehmungen begleitete, mich beschützen sollte und als Übersetzer diente, mich aber vor allem kontrollierte. Kipsang wurde auch »Professor« genannt; er las viel und trug gern ein Buch als Zeichen seiner Belesenheit mit sich herum. Ein Kugelschreiber steckte in seinem Haar. Zusammen mit den Ältesten bestimmte er, was und wen ich zu sehen bekam und was ich in Erfahrung bringen durfte. Ich bezahlte ihm das vor Ort übliche Gehalt eines Lehrers. Doch das Geld verpflichtete ihn kaum zur Loyalität mir, einer Fremden, gegenüber. Die Illusion, Kontrolle über meine Arbeit zu haben, gab ich schnell auf.

Kipsang, mein galanter Begleiter, wurde zu einem der begehrtesten Gesprächspartner. Wenn wir von einem Treffen mit einem Ältesten zurück ins Dorf kamen, machte er die Runde. Er wurde zum Bier eingeladen, um die neuesten Geschichten über mich zum Besten zu geben. Sie hatten hohen Unterhaltungswert; ich hörte das laute Gelächter, das mit ihm von einem Haus zum nächsten wanderte.

In den folgenden Jahren entstand zwischen Kipsang und mir eine Freundschaft. Er war ein geschickter Vermittler, der zwischen meinen und den unterschiedlichen Interessen der Ältesten zu lavieren verstand. Auch begann er, sich zunehmend für die eigene Kultur und insbesondere ihre Rituale zu interessieren, und wurde selbst zu einem Ethnografen der Tugenberge. Wir wurden Komplizen und spiegelten einander in den unterschiedlichen Rollen, die wir übernommen hatten. Während er zum Ethnografen seiner eigenen Kultur avancierte, wurde ich zur Primitiven, zum Affen, allerdings mit Aufstiegschancen.

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Zufällig erfuhr ich, dass ich »Affe« genannt wurde. Dieser Name war, wie Kipsang mir gestand, kein Ehrenname, sondern eher ein Spottname, der vor mir verborgen bleiben sollte. Eindringlich hatte ich Kipsang gebeten, mir zu berichten, wie die Leute über mich sprachen und welche Namen sie mir gaben. Ich versicherte ihm, dass ich nicht böse würde, auch wenn die Namen verletzend seien. Denn das Wissen, das man mir schenke, sei vom sozialen Status abhängig, den man mir zuweise. Natürlich verstand er sofort die epistemologische Dimension, die die Bezeichnung »Affe« barg, wusste er doch am allerbesten, was mir als Affe vorenthalten und verborgen blieb.

Ich beschloss, das semantische Feld des Affen zu erschließen. Kipsang half mir dabei. Wir fanden heraus, dass die Bewohner der Tugenberge zwei Arten von Fremden unterscheiden: bunik, die nahen Fremden, gegen die man Krieg führt, die man aber auch heiratet; und toyek, die radikal Fremden, die sozial und kulturell so weit entfernt sind, dass sie den wilden Gegensatz bilden. Toyek leben wie Affen in der Wildnis, sind behaart, haben lange Schwänze, fressen Menschen, laufen auf dem Kopf und begehen Inzest. Die beiden Kategorien, die nahen und die ganz Fremden, stehen jedoch nicht in einem absoluten Gegensatz, sondern können auch als aufeinanderfolgende Phasen in einem Prozess der Integration von Fremden gesehen werden. In Clangeschichten erzählten die Ältesten von wilden Männern, die wie Affen leben. Ein Zufall führt sie in die bewohnte Welt. Sie bringen den dort lebenden Menschen Hirse oder das Feuer und erhalten als Gegengabe eine Frau. Die Heirat verwandelt sie in Schwiegersöhne, die nach und nach ihre Fremd- und Wildheit verlieren und durch ihre Kinder und Enkel vollständig in die bewohnte Welt integriert werden.

Anstelle unserer Klapperstorchgeschichte erzählten Mütter in den Tugenbergen ihren Kindern, dass eine Frau, die sich ein Kind wünscht, in die Wildnis geht. Sie stiehlt dort ein Affenbaby, schneidet ihm den Schwanz ab und trägt es nach Hause. Sie legt es an ihre Brust und nennt es »mein Affe«, bis es in einem Ritual den Namen eines Ahnen erhält. Dann wird seine Herkunft, sein äffischer Ursprung, »vergessen«.

Die Grenze, die die Bewohner der Tugenberge zwischen Mensch und Tier ziehen, in diesem Fall Affe, ist sehr viel durchlässiger als jene, die das Christentum zieht. Während die christliche Schöpfungsgeschichte den Menschen als Herrn über die Tiere setzt und damit eine starke Diskontinuität zwischen beiden erschafft, ist das Verhältnis in den Tugenbergen eher kontinuierlich; es schließt eine Entfernung des Menschen vom sowie eine Rückkehr zum Affen ein.

Die Bewohner Bartabwas vertraten also einen Primitivismus und eine Evolutionstheorie, die Darwin sicherlich erfreut hätte. Ihre Theorie der Menschwerdung war nicht unilinear und auf Fortschritt hin ausgerichtet. Das Äffische verschwand nie ganz, wurde nicht völlig überwunden. Denn in verschiedenen Ritualen des Lebenszyklus mussten die Initianden in der liminalen Phase nicht nur in die Wildnis zurück, sondern auch wieder zu wilden Tieren werden, bevor sie sich in eine »größere soziale Person« verwandeln konnten.

Als Affe wurde ich der Kategorie der Primitiven und ganz Fremden zugeteilt. Ich war nicht Mensch, sondern Tier. Man platzierte mich an den Rand einer mir fremden Kosmologie. Doch bekam ich die Chance, mein äffisches Wesen hinter mir zu lassen: Meiner Entwicklung förderlich waren zunehmende Sprachkenntnisse und das Erlernen der Regeln der Höflichkeit, auch wenn ich mich nicht immer an sie hielt. Vom Affen stieg ich zum »Ding« auf; »Ding« bezeichnet eine Person, die noch nicht wirklich erwachsen und selbstverantwortlich handelt – so wie man auch bei uns von einem »jungen Ding« spricht. Doch da ich regelmäßig in die Tugenberge zurückkehrte und die Ältesten mich nicht loswurden, stellte ein Ältester mit Namen Aingwo fest: »Das Ding kommt immer wieder zu uns, das Ding liebt uns.« Meine Beharrlichkeit, zu ihnen zurückzukehren, war die erste Eigenschaft, die sie meiner noch höchst unvollständigen sozialen Person anhefteten.

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