Buch lesen: «La Oculta»

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Héctor Abad

La Oculta

Roman

Aus dem Spanischen

von Peter Kultzen

B E R E N B E R G

Für Mauricio, Mario und Gonzalo,

die Brüder, die ich nicht hatte.

Aber das Feld vor ihren Städten soll man nicht verkaufen; denn das ist ihr Eigentum ewiglich.

3. Mose 25,34

I could live here forever, he thought, or till I die. Nothing would happen, every day would be the same as the day before, there would be nothing to say. […] He could understand that people should have retreated here and fenced themselves in with miles and miles of silence; he could understand that they should have wanted to bequeath the privilege of so much silence to their children and grandchildren in perpetuity (though by what right he was not sure).

J. M. Coetzee

Und zuletzt ward ich verkauft,

so wertvoll war ihren Rechnungen ich geworden,

dass ihrer Liebe ich nichts mehr galt …

Dulce María Loynaz

Antonio

Früh an einem düsteren Wintermorgen klingelte bei mir in New York das Telefon. So früh rufen bloß Betrunkene an, die sich verwählt haben, oder jemand aus der Familie, mit einer schlechten Nachricht. Ersteres wäre mir lieber gewesen, aber am anderen Ende der Leitung meldete sich meine Schwester Eva:

»Ich würde dich gerne aus einem anderen Grund anrufen, Toño, aber heute Nacht ist Mama gestorben, auf La Oculta. Pilar hat erzählt, gestern nach dem Abendessen hat sie gesagt, dass sie sich nicht gut fühlt. In der letzten Zeit hat sie sich ja jedes Mal nach dem Essen schlecht gefühlt, das weißt du selbst. Nichts ist ihr bekommen. Auf jeden Fall ist sie schlafen gegangen. Und als Pilar heute Morgen ganz früh nach ihr gesehen hat, lag sie tot im Bett.«

»Ich fahre sofort zum Flughafen und nehme die erste Maschine, die ich kriegen kann«, erwiderte ich.

Tiefe Trauer erfasste mich, wie eine dicke graue Wolke breitete sie sich in mir aus. Ein Stechen in Brust und Hals, dann traten mir Tränen in die Augen, unweigerlich. Wie alt war meine Mutter? Achtundachtzig, hatte sie zuletzt gesagt, aber sie machte sich immer um ein Jahr jünger, in Wirklichkeit war sie neunundachtzig. Dass sie sich mit fünfundzwanzig, als man sie zu Hause drängte, endlich zu heiraten, ein Jahr jünger machte, hatte einen gewissen Sinn. Später nicht mehr, später immer weniger, und mit neunundachtzig musste sie selbst über ihre Angewohnheit lachen. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich sie in dieser Woche nicht angerufen hatte. Normalerweise skypten wir jeden Donnerstag. Alle wussten, dass sie am Donnerstagmorgen ihren Rechner einschaltete, weil sie meinen Anruf erwartete. Jon kam aus dem Bad, und als er mein Gesicht sah, fragte er, was los sei. Aber nicht mit Worten, seine Augen und Hände formulierten die Frage.


»Anita ist gestorben«, sagte ich auf Englisch, denn Jon und ich sprechen Englisch miteinander.

»Ich komme mit, wenn du willst«, sagte er. Er setzte sich neben mich und legte mir seine große weiche Hand auf den Rücken. Eine Zeitlang saßen wir schweigend nebeneinander. Schließlich sagte ich:

»Nein, keine Sorge, diesmal fahre ich allein.« Ich hatte einen Kloß im Hals und schluckte. »Besser, du konzentrierst dich auf deine Ausstellung. Meine Schwestern werden verstehen, dass du nicht mitkommst.«

Wir blieben noch eine Weile auf dem Bett sitzen und hielten uns schweigend an der Hand. Irgendwann stand ich auf, um mir die letzten E-Mails meiner Mutter noch einmal anzusehen. Die allerletzte war liebevoll und klar, wie immer. Rechnungsabgleich stand in der Betreffzeile.

»Mein Liebling, ich habe versucht, dich zu erreichen, aber das grüne Lämpchen war aus. Ich wollte dir bloß sagen, dass ich gestern mit einem deiner Schecks deinen Teil der Grundsteuer für La Oculta bezahlt habe. Außerdem habe ich 816.000 Pesos, also das, was du für Próspero und die Betriebskosten der Finca zu zahlen hast, auf Pilars Konto überwiesen. Drei von dir unterschriebene Schecks habe ich jetzt noch, du weißt schon wo. In jedem Fall habe ich weiterhin ein Guthaben in Höhe von 2.413.818 Pesos bei dir, das ich aber erst im April einlösen möchte, wenn ich meine Kreditkarte erneuern muss. Heute war ich bei Doktor Correa, und er hat gesagt, alles ist soweit in Ordnung. Im Augenblick habe ich auch nicht die geringste Lust zu sterben, obwohl ich wegen Evas Zustand manchmal traurig und mutlos bin. Letzte Woche hat sie gesagt, dass sie sich nun doch von ihrem Witwer trennen wird. Fast vier Jahre sind die beiden mittlerweile zusammen. Einerseits habe ich mich gefreut, schließlich ist der Altersunterschied einfach zu groß, fast zwanzig Jahre, da hätte sie im Alter niemanden an der Seite. Andererseits tut es mir leid, weil sie, seit sie mit ihm zusammen ist, einen zufriedenen Eindruck machte. Du hast auch gesagt, dass Eva glücklich wirkte, als die beiden letztes Jahr in New York waren, trotz des Altersunterschieds und des Rollstuhls. Und Weihnachten auch, du hast sie ja selbst erlebt, darum war es für mich auch eine Überraschung. Immer wenn Eva sich von jemandem trennt, ist es, als würde sie auf einen Schlag alles hinter sich lassen, sie ist dann jedesmal sehr deprimiert, und alle fragen sich, was wohl als Nächstes kommt. Herrn Caicedo fand ich durchaus nett und liebenswürdig, allerdings haben manche Leute gesagt, wenn man ihn so sehe, würde man eher denken, er sei mein Mann und nicht Evas Lebensgefährte. Oh je. Pilar hat das gesagt, letztes Weihnachten, und Eva hat gehört, wie sie es zu mir gesagt hat. Das hat sie sehr getroffen. Pilar ist zugegebenermaßen manchmal ziemlich unbedacht mit dem, was sie sagt. Na ja, am meisten beunruhigt mich jedoch, dass für Eva offenbar niemand gut genug ist. Andererseits ist sie ungern allein. Aber lassen wir das, dieses Thema macht mich sehr traurig. Am meisten freue ich mich darauf, dass du Ostern kommst. Dann ist der ganze Kummer bestimmt wie weggeblasen. Grüße bitte Jon von mir. Ich küsse dich, deine dich liebende


Ana.«

Alle Briefe meiner Mutter waren so, zärtlich und praktisch zugleich: Erst wurden die Zahlen geklärt, und dann folgten Dinge aus ihrem Leben und dem ihrer Töchter und Enkelkinder. Sie kümmerte sich um meine kolumbianischen Geldangelegenheiten, die fast alle mit der Finca zu tun hatten. Sie war beinahe neunzig, aber klarer im Kopf als meine Schwestern und ich. Und dass sie sich um meine Konten kümmerte, hielt sie erst recht wach. In anderen Mails sprach sie davon, dass möglicherweise ein Teil von La Oculta verkauft werden müsse, um die Schäden zu bezahlen, die entstanden waren, als bei einem Sturm ein Baum auf die Trinkwassertanks gestürzt war. Sie war dagegen, noch mehr von dem dazugehörigen Land zu verkaufen; wenn wir so weitermachten wie bisher, stünden wir am Ende bloß noch mit dem Haus da und wären von lauter Fremden umgeben. Andererseits war sie nicht bereit, die Kosten zu übernehmen, schließlich musste sie in ihren letzten Lebensjahren auf Erspartes zurückgreifen können. Das Problem war, dass Eva, die nur noch an Weihnachten auf die Finca kam, keinen einzigen Centavo mehr für Reparaturen ausgeben wollte. Gerade mal ihren Anteil an den Steuern, Betriebskosten und Gehältern übernahm sie noch. Sie war dafür, das Ganze zu verkaufen. Aber die Finca zu verkaufen hätte für Pilar das Todesurteil bedeutet.


Auch ich wollte die Finca nicht verkaufen, obwohl ich den größten Teil des Jahres in den USA verbrachte. Kolumbien, das war für mich: meine Mutter, meine Schwestern und La Oculta. Durch Anitas Tod hatte ich einen wichtigen Teil meines Lebens verloren. Zu meiner Überraschung war sie auf der Finca und nicht in Medellín gestorben, wo sie wohnte. Andererseits, wenn ich es recht bedachte, war es nur folgerichtig. Ohne sie, das wurde mir jetzt klar, hätten wir die Finca – die uns als väterliches Erbe zugefallen war – nicht halten können. Als wir uns kurz nach dem Tod Cobos, also meines Vaters, schon fast von ihr hätten trennen müssen, bewahrte meine Mutter, der eigentlich nicht das Geringste an diesem Stück Land lag, uns davor, indem sie ihre eigene Wohnung verkaufte. Und sie steuerte einen Teil der Einkünfte aus der Bäckerei für Umbauten und Reparaturarbeiten bei. Wie sie auch diejenige war, die uns jedes Jahr im Dezember mit der ihr eigenen Mischung aus Sanftheit und Entschiedenheit auf La Oculta versammelte. Sie lud uns alle ein, besorgte alles Nötige, kochte für alle und war während der gemeinsam dort zugebrachten Wochen die Sonne, deren Anziehungskraft sich die um sie kreisenden Planeten in Gestalt ihrer Kinder und Enkelkinder nicht entziehen konnten. Entsprechend schwierig war es, ja fast unmöglich, sich diesen Ort auf einmal ohne sie vorzustellen. Ohne meine Mutter, ohne ihre Fröhlichkeit, ihre Rezepte, ihre Einkäufe, würde es auf der Finca nie mehr sein wie zuvor. Es sei denn, jemand, Eva oder Pilar, übernahm ihre Rolle, aber ich war mir nicht sicher, ob sie dazu bereit wären. Ich würde jedenfalls niemals die nötige Energie und Liebe aufbringen, um so wie sie die gesamte Familie an diesem Ort zusammenzuführen und zu vereinen.


Jon begleitete mich zum Flughafen und half mir bei der Buchung. Die Maschine, die direkt nach Medellín flog, war schon gestartet, also würde ich in Panama zwischenlanden müssen. Da meine Hände zitterten und ich nahezu unfähig war, Englisch zu sprechen, übernahm Jon alles für mich und bezahlte mit seiner Kreditkarte. Wir umarmten uns lange, dann ging ich allein durch die Sicherheitskontrolle und zu meinem Gate. Ich musste warten, und so ging ich auf meinem Laptop die alten Fotos meiner Mutter durch, Jugendfotos, auf denen sie den Betrachter in ihrer ganzen Schönheit anlächelte, voller Energie und mit so viel Leben vor sich. Auf einem hielt sie mich als einjähriges Baby in den Armen, und wir sahen einander glücklich und verliebt in die Augen. Ich lud es auf meiner Facebook-Seite hoch, wo man heute ja die wichtigen Dinge bekanntgibt, Traueranzeigen und Beileidsbekundungen, und während ich ein paar Zeilen dazuschrieb, kamen mir die Tränen und fielen auf die Tastatur. Ob die Leute um mich herum mir zusahen, weiß ich nicht, es war mir egal. Bald trafen die ersten Kommentare meiner Freunde ein, manche sehr schön, und viele enthielten alte Erinnerungen an Anita, wie wir, ich an erster Stelle, meine Mutter immer genannt hatten: Ana, Anita.


Es war Nacht, als ich in Medellín ankam. Am Ausgang erwartete mich Benjamín, Evas Sohn. Der jüngste meiner Neffen war schön und traurig. Wir umarmten uns. Vor uns lagen noch fast vier Stunden Fahrt bis nach La Oculta. Die Totenwache auf der Finca hatte schon begonnen, und Pilar hatte bereits dafür gesorgt, dass am nächsten Tag in dem nahegelegenen Ort Jericó eine Trauermesse abgehalten werden würde. Benjamín erzählte, seine Mutter sei gleich, nachdem sie mich angerufen hatte, hingefahren. Tante Pilar habe die Großmutter gewaschen und hergerichtet, ein Arzt die Sterbeurkunde ausgestellt, und der Priester aus Palermo sei da gewesen, um die Tote zu segnen.

Vor zwei oder drei Jahren war, ebenfalls in La Oculta, Tante Ester gestorben, die Schwester meines Vaters – die Finca schien sich in den Ort zu verwandeln, den unsereins aufsucht, wenn das Ende naht. Tante Ester litt unter einer schweren Nierenschwäche, eine Transplantation kam in ihrem hohen Alter aber nicht mehr infrage, weshalb sie fast vier Jahre lang regelmäßig zur Dialyse musste. Trotzdem verschlimmerte ihr Zustand sich zusehends, so dass sie irgendwann erklärte, sie habe genug von der Dialyse und allen sonstigen Therapien und wolle bloß noch nach La Oculta, um dort zu sterben. Pilar nahm sie in Empfang, sie freute sich, sie bei sich zu haben und sich um sie zu kümmern, denn Ester war ihre Lieblingstante. Man stellte ein Krankenbett in ihr ehemaliges Mädchenzimmer und bezahlte eine Pflegerin dafür, dass sie die Nächte an ihrer Seite verbrachte. Esters Kinder kamen hin und wieder aus Medellín, um ihre Mutter zu besuchen und sich bei Pilar zu bedanken. Allmählich ging es mit Tante Ester zu Ende – sie wurde immer schwächer und bleicher und dünner und zerbrechlich wie ein Vögelchen. Zuletzt begann man, ihr Morphium zu verabreichen. Als offensichtlich wurde, dass sie große Schmerzen hatte und sie schließlich das Bewusstsein verlor, schickte Pilar die Pflegerin mit den Worten, sie solle in die Küche gehen und die Suppe warm machen, hinaus, nahm eine Spritze und verpasste ihrer Tante eine viel größere Dosis Morphium als sonst, fünf Ampullen hintereinander, wie sie mir später heimlich sagte, woraufhin Tante Ester sanft verschied, so entspannt, dass ihr Körper zu atmen vergaß. Anschließend rief Pilar Tante Esters Kinder an, teilte ihnen mit, dass ihre Mutter ganz ruhig gestorben sei, und machte sich daran, sie herzurichten, damit sie Tante Ester in angemessenem Zustand vorfanden, wenn sie kamen, um sie abzuholen.


Unser Vater, der Arzt war, hatte Pilar gezeigt, worauf es beim Zurechtmachen der Toten ankommt. Pilar ist die älteste von uns Geschwistern, und die Älteste zu sein hat Vor- und Nachteile. Es bringt bestimmte Verantwortlichkeiten mit sich, die keines der jüngeren Geschwister übernehmen kann. Pilar lässt sich durch nichts einschüchtern, mag die Aufgabe noch so unüberwindlich erscheinen. Sie ist sich für nichts zu fein, sie kennt keine Furcht. Wenn etwas nahezu unlösbar scheint, sagen wir uns: Wenn Pilar das nicht schafft, schafft es niemand.

Die Toten sprechen nicht, die Toten fühlen nicht, den Toten macht es nichts aus, wenn man sie nackt, bleich, hohlwangig – sozusagen im schlimmsten Augenblick ihres Lebens – zu sehen bekommt. Pilar hat eine sehr vertraute und liebevolle Art, mit den Toten umzugehen. Sie benimmt sich, als ob es ihnen tatsächlich etwas ausmachen, ja, als ob es ihnen wehtun würde, dass sie sich in so einem abstoßenden Zustand präsentieren müssen. Der erste und der letzte Blick sind sehr wichtig, sagt Pilar immer, so wie die Mutter ihr Kind beim ersten Mal sehen möchte, will später auch das Kind seine Mutter beim letzten Mal sehen, in gutem Zustand, und deshalb mache sie das alles. Und sie macht das so gut (man könnte glauben, die Toten seien lebendig), dass Arturo, ein Sohn Tante Esters und erfolgreicher Unternehmer, beim Anblick seiner toten Mutter – es war geradezu eine Freude, sie zu betrachten – Pilar vorschlug, gemeinsam ein Geschäft aufzumachen (er würde das Geld beisteuern und meine Schwester ihre geschickten Hände). Meine Schwester lehnte ab und erklärte, dass sie sich nur um die Toten der Familie kümmere, Geld wolle sie damit nicht verdienen. Sollte ich auf La Oculta sterben – was sich alle aus unserer Familie wünschen –, möchte ich, dass Pilar mich zurechtmacht.


Pilar hat unsere toten Großeltern hergerichtet, mehrere Tanten und Onkel, ihre Schwiegermutter, meinen Vater, nachdem sein Herz über all dem Leid wegen seines ältesten Enkels Lucas explodiert war, und auch die Kinder ihrer engsten Freundinnen. Und jetzt Anita. Was genau sie dabei jedes Mal macht, wissen wir anderen nicht, nur, dass sie Watte, Kerzen und Mullbinden benutzt, um verschiedene Körperöffnungen zu verschließen. Mit den Gesichtern hat der Tod Mitleid, sagt sie, denn dadurch, dass man ein wenig anschwillt, wenn man gestorben ist, verschwinden viele Falten. Weil die Toten andererseits aber so bleich sind, muss man ihnen zuallererst ein wenig Farbe verpassen. Je nach Hautton braucht es die richtige Creme, Rouge, Lippenstift, Puder, Wimperntusche und sogar Injektionen, um der Haut eine gewisse Vitalität zurückzugeben. Pilar hat mit dem Schminken und Frisieren viel Erfahrung, schon als kleines Kind war sie es, die meiner Mutter vor großen Festen die Haare machte. Bei den Verstorbenen nimmt sie Fotos zu Hilfe, und zwar möglichst ältere, als der Betreffende noch etwas jünger war. Aus New York bringe ich ihr immer Kosmetikartikel, feine Nagelscheren und besondere Pinzetten mit. Darüber freut sie sich am meisten, diesmal aber hatte ich keine Zeit, um egal was zu besorgen, ich steckte bloß zwei Lippenstifte ein, die ich in der Woche zuvor billig bekommen hatte, der eine scharlachrot, der andere grellpink, jedenfalls stand es so auf der Packung. Mit im Gepäck hatte ich dafür die Neuigkeit, dass nach dem Tod unserer Mutter als Nächste wir mit dem Sterben an der Reihe seien. Was sich Pilar aber längst klargemacht hatte, denn als Benjamín und ich eintrafen, sagte sie zur Begrüßung, an diesem Morgen sei ihr schlagartig bewusst geworden, dass sie sich ab sofort unter die Alten zu zählen habe.


In La Oculta ging ich zuerst in Anitas Zimmer. Ihr Gesichtsausdruck war sanft wie immer, mit dieser seltsamen Mischung aus Schönheit und Entschlossenheit. Pilar hatte ihr ein sehr hübsches besticktes rotes Kleid angezogen, das ich ihr einmal aus Mexiko mitgebracht hatte. Rot war die Farbe, die ihr am besten stand, und selbst jetzt sah sie fröhlich darin aus. Pilar erzählte, früh am Morgen sei sie durch einen Regenguss geweckt worden und aufgestanden, um bei Anita nach dem Rechten zu sehen. Dass es dort so still und ruhig gewesen sei, habe sie misstrauisch gemacht. Da habe sie das Licht eingeschaltet und festgestellt, dass Mama tot war. Bei dieser Vorstellung wurde ich noch trauriger, doch ich behalf mir, indem ich meine Schwestern umarmte.

Die ganze Nacht saßen wir neben meiner toten Mutter, tranken Kaffee und beteten Avemarias und Vaterunser, die, wenn man sie oft genug wiederholt, durch ihren gleichmäßigen Rhythmus eine beruhigende Wirkung erzeugen. Nach und nach trafen alle meine Neffen und Nichten ein, die Enkel meiner Mutter, mit ihren Kindern und Ehepartnern. Irgendwann war es auf La Oculta so voll, als wäre Dezember, aber es war ein trauriger Dezember im März.


Meine Mutter lag auf dem Bett, in dem sie immer geschlafen und das sie mit meinem Vater geteilt hatte. Davor war es das Bett von Großvater Josué und Großmutter Miriam gewesen. Im Zimmer war alles so, wie es meine Mutter eingerichtet hatte. Seit Cobos Tod hatte sie keinerlei Veränderungen zugelassen. Im Schrank hing immer noch rechts ihre Kleidung und links seine – die weißen Hemden, der typische Antioquia-Hut aus Palmfaser, die Reitstiefel, die Badeschuhe, mit denen er zum Wasserfall in der Schlucht ging, die Bermuda-Shorts, Schlafanzüge und Strümpfe. Lauter alte Sachen, wie man sie auf dem Land trägt, und so abgenutzt, dass man sie nicht an die Bauern hätte weitergeben können. Ein altes Bild von den Eltern meines Vaters im Alter von etwa vierzig Jahren. Und Familienfotos: die Erstkommunion der Kinder, die Hochzeit sowie Schnappschüsse aus der Zeit, als sie in Bogotá gewohnt hatten. Außerdem, in einem Rahmen über dem Bett, das nicht ganz formvollendete Sonett, das mein Vater über La Oculta gedichtet und mit dem Namen der Finca überschrieben hat:

Hart das Bett, schlecht die Matratzen,

gleichwohl liegen, wenn es dunkel,

stocksteif ohne jegliches Gemunkel

unsere Gäste da und ratzen.

Morgens tun die Hüften weh,

doch der Schmerz ist bald vorbei:

Doña Bertas Frühstücks-Ei

Übertrifft selbst Priesters Glorie.

Alsdann heißt die süße Pflicht,

Lesend in der Hängematte ruhen,

mittags Yuca gibt’s dafür, mit Huhn.

Drauf um drei ein Bad im Felsenbache,

und zum Abend leckre Bohnen. Aus das Licht –

Auftakt für der Nachbarin Geschnarche.

Cobo und Anita schnarchten zu Lebzeiten wie in einem schlecht gesetzten Kontrapunkt, was ich jedoch nie wieder zu hören bekommen würde. Ein Schnarchkonzert ist eine laute und unangenehme Angelegenheit, und alle Schnarcher – ich gehöre zu ihnen – müssen den Spott ihrer Mitmenschen ertragen, auch weil Schnarchen eins der Dinge ist, an denen man erkennt, dass ein Mensch alt wird. Andererseits zeigt es wenigstens, dass man noch atmet, und ich empfand in diesem Augenblick nicht nur Trauer darüber, dass mein Vater schon seit Jahren nicht mehr schnarchte, sondern auch darüber, dass der Schlaf meiner Mutter, obwohl sie, Pilars geschickten Händen sei Dank, nicht ganz so tot wirkte, ein Schlaf ohne Atem und folglich ohne Schnarchen war. Ich sehnte mich nach ihrem Schnarchen, wie ich mich nach ihrem Atem sehnte. Eva sagte zu Pilar, ab sofort wolle sie über das Zimmer unserer Eltern bestimmen, weshalb Pilar dort bitte nichts anrühren und nichts verändern solle. Sie solle weder die alte Kleidung wegwerfen, noch die Fotos austauschen, noch die Bücher forträumen, noch die Decken oder die Matratze erneuern, noch eine andere Lampe und ein anderes Nachttischchen anschaffen, noch im Bad neue Fliesen verlegen, noch die Schränke entleeren und auch nicht Papas Gedicht abhängen. Pilar sah sie mit weit aufgerissenen Augen an, kaum etwas verachtet sie nämlich so sehr wie sentimentales Festhalten an altem Plunder und ausgedientem Zeug. Wenn sie, was selten vorkam, mit meiner Mutter über etwas stritt, dann hierüber: »Wann gibst du Próspero endlich Papas Hemden, Mami?«, sagte sie jedes Mal, wenn meine Mutter auf die Finca kam. Worauf Anita mit ihrer sanften, aber festen Stimme erwiderte: »Lass gut sein, Pilar, ich möchte es nun einmal so. Wenn ich irgendwann nicht mehr da bin, kannst du damit machen, was du willst.« Pilar durfte über alles bestimmen, was die Finca betraf, nur was Cobos und Anitas Zimmer anging, hatte sie nichts zu sagen. Eben deshalb wollte Eva, dass dieses Zimmer ihr zufiel und ihr privates Königreich wurde, der einzige Ort in La Oculta, an dem jemand anders als Pilar die Entscheidungen traf.

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